Von Gabriele Lengemann        

Gegen Mittag habe ich Hamburg hinter mir gelassen. Die Sonne steht jetzt hoch am Himmel, es ist ein brüllend heißer Junitag und dabei hat der Sommer noch gar nicht richtig angefangen. Wie haben wir es nur früher ohne Klimaanlage im Auto ausgehalten? Die Hitze lässt die Luft über dem Asphalt flimmern und dieses ineinanderlaufende Licht behindert das Sehen ein wenig, aber es gefällt mir. Es hat etwas Magisches, finde ich und stelle mir vor, dass es die Grenze zwischen meinem alten und dem neuen Leben ist, die ich passiere.

Die ersten dreihundert Kilometer habe ich fast ohne Unterbrechung geweint, aber seit Hamburg fühle ich mich besser und zuversichtlicher. An der Autobahnraststätte kurz vor dem Elbtunnel habe ich eine Tafel Nussschokolade und zwei eiskalte Dosen Cola gekauft, und nun schiebe ich mir einen Schokoladenriegel in den Mund und lasse ihn genüsslich auf der Zunge zergehen.

Auf dem Beifahrersitz klingelt das Handy. Es ist Joachim. Ich stelle das Radio lauter.

„Lass mich in Ruhe“, murmele ich. „Es gibt nichts mehr zu erklären.“

Gestern Abend war meine Schmerzgrenze erreicht.
„Ich will nicht den Rest meines Lebens hier auf der Terrasse sitzen und auf den Kirschbaum schauen“, sagte ich. „Eins war doch immer klar: Wenn wir nicht mehr arbeiten müssen und die Kinder uns nicht mehr brauchen, ziehen wir ans Meer.“

„Aber das hier ist doch dein Zuhause“, erwiderte Joachim. „Du bist in diesem Haus geboren. Wir haben so viel Mühe und Geld investiert und du willst jetzt alles hinter dir lassen?  Deine Großmutter würde sich im Grabe herumdrehen.“

Ich will das alles nicht mehr hören. Ich bin hier geboren. Okay! Ich habe an diesem Ort eine wunderschöne Kindheit verlebt und meine Großeltern haben mir das Haus und das große Anwesen vererbt, aber muss ich deshalb bis ans Ende meines Lebens hierbleiben?

Joachim und ich kennen uns seit unserer Schulzeit und vor kurzem erzählte er mir allen Ernstes, er sähe ab und zu noch meine Großeltern, wie sie sich unter dem Kirschbaum auf ihren Liegestühlen ausruhen. Oma in ihrer dunkelblau gemusterten Kittelschürze und Opa in einem großkarierten Hemd, über dem sich breite Hosenträger spannen.

„Sie winken mir zu“, sagte er. „So wie früher, wenn ich dich abgeholt habe.“

„Ach, ja“, ich lachte ihn aus. „Unterhältst du dich auch schön mit Ihnen? Bestellen sie Grüße an mich?“

„Nein“, er schüttelte den Kopf, „sie winken nur“, fügte er ernst hinzu. „Und dann, nach einer Weile verschwinden sie wieder.“
Ich habe meine Großeltern, die vor fast dreißig Jahren kurz hintereinander gestorben sind, sehr geliebt, besonders meine Oma und ich würde sie auch gern noch einmal deutlich vor Augen haben, aber ich sehe immer nur den alten Kirschbaum und darunter allenfalls unsere schwarze Katze, die in seinem Schatten schläft.

Der Verkehrsfunk reißt mich aus meinen Gedanken. Stau auf der A7, aber in Richtung Süden. Ich nehme einen Schluck Cola und freue mich, dass die Autobahn so leer ist. Der Horizont weitet sich auf diesem Teil der Strecke Richtung Flensburg. Fast kann man schon das Meer riechen.

Ich kann mir keinen Vorwurf machen. Ich habe Joachim sogar einen Kompromiss vorgeschlagen, der darin bestand, für einen begrenzten Zeitraum ans Meer zu ziehen.

„Nur ein Jahr“, bat ich. „Jede Jahreszeit bewusst erleben und den Urlaubern eine lange Nase machen, wenn sie wieder abreisen müssen.“

Mein Mann war zunächst einverstanden und ich freute mich so. Unerwartet schnell fanden wir ein Objekt, dessen Eigentümerin einen längeren Auslandsaufenthalt plante und ihr Haus in einem idyllischen kleinen Ort nahe des Nordseestrandes, möbliert vermieten wollte. Es gibt keinen Garten, aber eine große Terrasse, auf der Kletterrosen und Geißblatt wachsen. Der Meerblick ist zwar durch die Bebauung etwas eingeschränkt, und man kann ihn nur vom rechten Terrassenrand aus genießen, aber das wollten wir in Kauf nehmen.

Kurz nachdem der Mietvertrag unterschrieben war, begann Joachim zu zaudern.

„Der Garten wird mir fehlen“, jammerte er. „Unser schöner, großer Garten und die Hühner und die Schafe. Macht dir das denn gar nichts aus?“

Natürlich liebe ich unsere Tiere und besonders mag ich die beiden Gotlandschafe, die wir vor zwei Jahren angeschafft haben. Das weiße “Flöckchen“ und die schwarze “Haribo“. Ich beneide die beiden um ihr dickes Fell und ihren ausgeglichenen Charakter. Wir haben eine enge Beziehung zueinander, die Schafe und ich.

„Die rufen an, wenn was ist“, sagte ich zu Joachim. „Da kann ich mich drauf verlassen.“

Joachim atmete hörbar aus, zunehmend genervt. Wann hat er eigentlich zum letzten Mal gelacht?

Wieder klingelt das Handy und das liebe Gesicht meiner Tochter Ines erscheint auf dem Display. Ich überlege, an der nächsten Raststätte noch eine Pause einzulegen. In erster Linie, um das Handy lautlos zu stellen, aber ein Kaffee und eine Kleinigkeit zu essen täten mir auch gut. Jetzt beträgt meine restliche Fahrzeit jedoch nur noch zirka eine Stunde und ich fühle mich ganz fit. Ich fahre am Rasthof vorbei.

Ines ist mit Ehemann und dem zweijährigen Emil kürzlich zu uns gezogen. Wir praktizieren also ein Mehrgenerationenobjekt. Wenn ich ehrlich bin, ist das eher eine anstrengende Angelegenheit. Freitagnachmittags wird die Teilnahme an einem sogenannten Plenum von mir erwartet, bei dem die Aufgaben für die kommende Woche verteilt werden. Außerdem können Kritik und Wünsche vorgebracht werden. Mein Wunsch, das Plenum wieder abzuschaffen, lief ins Leere. Meine Tochter hingegen, wünschte sich zum Beispiel, dass ich Emil um Erlaubnis frage, bevor ich seine Windel wechsele. Den kleinen Hosenscheißer um Erlaubnis fragen, das fehlte noch.

Im Gegensatz zu meinem Mann, der froh ist, seine Tochter und seinen Enkel im Haus zu haben, fehlt es mir an Kompromissbereitschaft und Nervenstärke. Jetzt oder nie will ich ans Meer, auch wenn es zunächst nur für einen begrenzten Zeitraum ist. Also schuf ich Fakten und überwies die Miete für das Häuschen im Norden für ein ganzes Jahr im Voraus.

„Was fällt dir ein?“, schrie mein Mann empört, als ich ihm gestern davon erzählte und vor meinen Augen verwandelte er sich endgültig in einen alten störrischen Baum, der nicht mehr verpflanzt werden will. Also packte ich meine Sachen, nicht nur die für den Sommer, sondern auch die für den Herbst und Winter und verstaute alles im Kofferraum des Wagens. Ich legte mich ins Bett und fiel in einen leichten Schlaf.

Ich träumte am Meer entlangzugehen, und oben auf den Dünen sah ich meine Großmutter stehen. Wie zu ihren Lebzeiten strahlte sie eine grenzenlose Güte aus. Sie lächelte mir zu und ich wusste, sie ist immer bei mir, egal wo ich hingehe.

In aller Herrgottsfrühe bin ich dann losgefahren. Jetzt sind es nur noch ein paar Kilometer und mich erfasst ein Gefühl von glückseliger Leichtigkeit wie früher am letzten Schultag vor den großen Ferien.

Ich beginne das Lied von der Birke zu singen, die Tapetenwechsel braucht und sich in der Dämmerung auf den Weg macht. Meine Oma mochte das auch.

Jetzt ist es wieder Joachim der versucht, mich anzurufen und ich schmettere gegen das Klingeln des Telefons an:

„Ich brauche frischen Wind

in meiner Krone.

Ich will nicht mehr

in Reih und Glied

In eurem Haine stehen

die gleiche Wiese sehen.

Die Sonne links am Morgen

abends rechts“.

In dem Moment, in dem das Handy verstummt, halte ich vor meinem neuen Zuhause. Das Häuschen sieht einladend und freundlich aus. Sonnenlicht spiegelt sich in den blank geputzten Scheiben.
Rasch tippe ich eine Nachricht in die Familiengruppe, dass ich gut angekommen bin und sich niemand um mich sorgen muss. Dann stelle ich das Telefon lautlos. Ich steige aus und atme die klare Luft tief ein. Den Haustürschlüssel hat uns die Vermieterin schon zugesandt, aber ich gehe zunächst um das Haus herum auf die Terrasse, ziehe einen der Gartenstühle unter der Überdachung hervor und platziere ihn so, dass ich rechts an einer Hauswand vorbei auf das Meer sehen kann. Erschöpft lasse ich mich in das weiche Polster des Stuhles sinken. Endlich angekommen.

Tiefblau leuchtet das Meer und das Licht der Abendsonne zaubert silberne Lichtreflexe auf die Wasseroberfläche. Rosen und Geißblatt verströmen ihren betörenden Duft. Ich strecke Arme und Beine aus und beschließe, morgen früh einen langen Strandspaziergang zu machen. Einen Moment lang überlege ich, ob es mir auch so gehen kann wie der Birke, die am Schluss des Liedes ihren Aufbruch bereut und sich in den Birkenhain zurücksehnt, aber ganz ehrlich: Ich kann es mir nicht vorstellen.

 

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