Von Diane Koch

Ein neuer Tag beginnt und ich packe meine Ausrüstung zusammen. Seit neun Monaten bin ich nun auf der Reise, meinem Abenteuer des Lebens. Geweckt von den ersten Strahlen der Sonne, kann ich es kaum glauben, hier zu stehen. Hier oben auf dem Gipfel, vor mir die Sonne, das Tal getaucht in ihrer Morgenröte. Diesen Augenblick nehme ich in mir auf und halte ihn so gut es geht fest, denn schon bald muss ich mich auf den Weg machen. Mein Wasservorrat neigt sich dem Ende zu. Die Flasche scheint nur noch ein Viertel gefüllt zu sein, als ich mit einem Auge in die Öffnung hineinschaue. Ich muss mich beeilen, bevor die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hat und die Mittagshitze unerträglich wird. Von hier oben kann ich einen Fluss erkennen. Es scheint als würde er durch einen Mischwald führen. Zielstrebig setze ich meinen Rucksack auf den Rücken, blicke noch einmal auf mein Lager zurück und setze meine Beine in Bewegung.

Endlich bin ich unten angekommen. Mein Herz schlägt jetzt viel schneller und meine Lunge brennt etwas. Die Sonne steht schon fast im Zenit und so wie es scheint, habe ich noch einen langen Weg vor mir, bis ich den Fluss erreiche. Ich suche nach meiner Wasserflasche und entdecke sie vor mir auf dem Boden. Habe ich sie dort hingestellt? Ich greife nach ihr, winde den Deckel auf und trinke einen großen Schluck. Igitt, denke ich und spucke den Inhalt vor mir aus. Was ist das denn? Verwundert drehe ich die Flasche über Kopf und traue meinen Augen nicht als eine undefinierbare Menge Sand aus der Flasche rieselt.

Mit großen Augen und einem offenstehenden Mund staune ich, wie sich aus klitzekleinen Sandkörnern ein riesiges Sandgebilde vor mir auftürmt. Ich reibe meine Augen. Blinzle. Im nächsten Moment erscheint ein wunderliches Tor in der Sandwand. Ohne darüber nachzudenken, was eben noch geschehen ist, gehe ich hindurch. War es gerade noch hell, überkommt mich Dunkelheit und Kälte. Ich gehe weiter und betrete einen großen Saal. Die Grenzen kann ich nicht erkennen. Einige Bilder tauchen, wie durch Licht projiziert, vor mir auf. Erst erkenne ich die Abbildungen nicht. Jetzt aber werden sie klar, das bin ich, an meinem ersten Geburtstag, mit meiner Familie, die so froh ist mich zu haben. Und dort im zweiten Bild, es muss schon eine Weile her sein, auf einem Spielplatz, mit Freunden, einer schmollt, bin das ich? Die Versöhnung folgt im dritten Porträt, mit meinen Eltern in den Armen. Ein Abbild fällt mir besonders auf, das sind wir, meine Freunde und ich auf unserem Abschlussfest. Danach, erinnere ich mich, sind unsere Wege zerlaufen. Bilder von der Liebe, von Trennung, Leid und Krankheit. Bilder von großen Herausforderungen, Erfolgen und Freudentaumel. Ich gehe hindurch. Betrachte meine Vergangenheit, mein eigenes Leben. Ziehen zwar alle Erlebnisse fort, hinterlassen sie doch eine Vielzahl an bleibenden Gefühlen. Ich schaue nicht noch einmal zurück.

Das Tageslicht blendet mich, die Sicht ist staubig und ich kann nur durch ein wummerndes Geräusch ahnen, dass das Sandkonstrukt in sich zusammengefallen ist.

Noch damit beschäftigt, das Gefühlte zu verstehen, blicke ich plötzlich auf und werde ganz still. Ich drehe meinen Kopf zur Seite, um zu hören, aus welcher Richtung dieses merkwürdige Geräusch kommt. Mit einem Mal wird mir klar, dass das Geräusch lauter wird und als ich erkenne, was es ist, zeichnen sich auch schon die Körper einer Elefantenfamilie in der Ferne ab. Sie hinterlassen eine riesige Staubwolke, die mir deutlich macht, dass ich sofort, so schnell wie möglich meine Beine in die Hand nehmen sollte. Blitzartig renne ich los. So schnell ich kann, ganz egal, wie schwer mein Rucksack ist, ich muss den Fluss erreichen.

Ungeachtet bin ich auf einem kleinen Stein ausgerutscht und liege für einen Moment regungslos auf dem steinigen Boden. Noch ehe ich mich aufrichten kann, kommen die Elefanten in einer rasenden Geschwindigkeit auf mich zu. Ihre stampfenden Bewegungen spüre ich als Vibrationen im Boden. Mein Herz klopft schneller denn je. Ich halte augenblicklich meine Hände vor mein Gesicht und kneife die Augen zu, um meinem Schrecken zu entkommen.

Doch wie durch ein Wunder halten die Elefanten Millimeter vor mir an. Durchatmend öffne ich meine Augen. Die Elefanten wirken neugierig und vertraut. Bewundernd schaue ich sie an. Ein Elefant kommt mir mit seinem Rüssel sehr nah, doch ich erkenne keine Bedrohung. Mein Puls ist ruhig und ich bin in der Lage mich aus meinem eingefrorenen Zustand zu befreien. Die Elefantenfamilie zieht weiter, und schon bald verschwinden sie in der Ferne.

Als ich auf mich herunterschaute, sah ich keine Schürfwunden, und hatte auch sonst keine Schmerzen. Meine Wasserflasche war randvoll mit kühlem Wasser gefüllt und ich befand mich am Flussufer. Verwundert, aber erleichtert entdecke ich einen Pfad, der direkt in den Mischwald führt. Der Weg dorthin ist von Wiesengräsern und Wildblumen bedeckt. Kleine Insekten schwirren umher. Immer noch scheint die Sonne stark, sodass ich mich entschließe meine Schritte fortzuführen und im Schatten des Waldes Schutz vor den Sonnenstrahlen zu suchen. Am Eingang des Gehölzes bleibe ich stehen. Eine frische Brise kommt mir entgegen.
Ich schließe meine Augen und lausche einer wunderbaren Melodie, die mich einlädt, weiter in den Forst zu gehen.

Neben dem Pfad verläuft der Fluss, dessen Wasserplätschern zu der unbekannten Melodie aus der Ferne passen. Auf meinem Weg entdecke ich zwei kleine tänzelnde Schmetterlinge. Ich höre das Knacken der Zweige und das Knistern der Blätter. Meine eigenen Schritte werden ganz leise, ich bleibe stehen. Seit Stunden muss ich schon unterwegs sein, da der Wald allmählich dunkler wird und die Dämmerung der Nacht bereits einsetzt.

Immer noch höre ich die Melodie und es scheint mir, als sei sie lauter geworden.

Mir fällt ein kleines Licht auf, welches sich hinter Zweigen und Blättern verbirgt. Neugierig trete ich heran, um zu sehen, was es ist. Es scheint mir, ich könnte mich durch diese kleine Öffnung quetschen. Nur meinen Rucksack muss ich hier ablegen. Meine Kamera nehme ich mit. Ich versuche, die Zweige etwas zur Seite zu schieben. Wie durch Zauberhand öffnet sich vor mir ein schmaler Weg, der zu einer Lichtung führt. Fasziniert von meiner Entdeckung, schreite ich langsam voran. Vor mir zeigt sich das gesamte Bild. Lichterketten in den Baumkronen, eine kleine Band mit verschiedensten Musikinstrumenten aus allerlei Naturmaterialien, ein kleines, wärmendes Lagerfeuer und große Baumstämme, auf denen kleine Wesen sitzen. Wiederum andere tanzen fröhlich zusammen, Hand in Hand. Ich sehe einen großen, runden Tisch, mit reichlich Leckereien, Obst und anderen, mir unbekannten Speisen.

Vorsichtig ziehe ich meine Kamera hervor. Doch mit dem Drücken auf den Auslöser, hört plötzlich die Melodie auf zu spielen und alle Wesen schauen in meine Richtung. „Ein Eindringling!“, ruft einer. Ich gerate sofort in Panik. „Nein, nein. Ich bin kein Eindringling!“ „Nein, du bist kein Eindringling“, sagt einer der Wesen mit einer vertrauten Stimme. „Wir haben schon auf dich gewartet“, sagt er unerwartet. „Holt die Geburtstagstorte!“, fügt er hinzu. Mir wird plötzlich ganz warm, und mein Puls wird schneller. Ich habe doch noch nicht Geburtstag. Angst steigt in mir hoch. Sogleich wird eine riesige Geburtstagstorte auf den Tisch gestellt. Ich schaue in die Richtung und erschrecke wegen der Zahl „30“ auf der Torte.

Gerade wollten die Wesen anfangen zu singen, da bin ich herzrasend aufgewacht. Ich reiße den Verschluss von meinem Schlafsack auf und öffne meine Augen. Gedanken kreisen durch mich durch. Das Leben zieht so schnell voran. Will ich noch so viel erleben und wie lang kann ich darauf vertrauen? Worauf bin ich stolz, was bereue ich? Kann ich mich freuen für dich und für mich? Wer wartet auf mich, wenn ich älter werde? Wer feiert mit mir den Lebensabschnitt? Menschen, die ich zurückgelassen habe, warten feierlich auf mich. Ich will die Welt entdecken, ist der Preis die Einsamkeit?

Der Blick auf meine Uhr zeigt mir 2:40 Uhr. Meine Gedanken beruhigen sich langsam. Mein Blick schweift zu den Sternen, in dieser klaren Sommernacht.

 

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