Von Katrin Thelen

„In zwanzig Metern haben sie ihr Ziel erreicht.“, schnarrte der Ton aus Manjas Mobiltelefon. Während sie auf den noch ungetragenen Pumps vorsichtig weiterstöckelte, blickte sie sich um. Es war eine graue, eintönige Wohnsiedlung. Bis zu acht Stockwerke hoch säumten Häuser die Straße und versprühten jenen penetranten Charme in die Jahre gekommener lieblos bewohnter Zweckbauten, vielleicht auch vergangener Lebensträume. Manja fand die richtige Eingangstür. Sollte sie klingeln?

Sie war die Neue im Team der Journalisten genau des Zeitschriftenverlags, zu dem sie schon immer hatte wechseln wollen. Es war die Einladung zur Abschiedsparty ihrer Vorgängerin, die Chance und Job im Ausland ergriffen hatte – Glück für sie und auch für Manja, die so schnell nie mit so einem mächtigen Schritt auf der Karriereleiter gerechnet hatte. Umso wichtiger war eine Party wie diese, jeder Smalltalk konnte zur Waagschale für die berufliche Perspektive werden.

Sie hatte sich Mühe gegeben mit ihrem Erscheinungsbild, nicht wissend, welcher Dresscode heute Abend bevorzugt wurde. Ein lässiger Chic aus enganliegender schwarzer 7/8 Hose und beigeglänzender Bluse, die halblässig und trendy in der Hose steckte, war ihre unverbindliche Antwort, wie die Modeseiten auch ihres eigenen Magazins es derzeit vorlebten. Sie betrachtete ihre schlanke Silhouette in der gläsernen Haustür, die die Unsicherheit, die sie innerlich erfüllte, gnädig verschleierte. Würde sie ihre neuen Kollegen erkennen und sich an ihre Namen erinnern?

Eine kleine Menschentraube bog lachend um die Häuserecke und steuerte in Partylaune auf den Hauseingang und auf Manja zu. Der Türsummer ertönte. „Ich bin schon so gespannt auf heute Abend! Endlich mal wieder eine fette Party!“ rief jemand aufgekratzt. Erleichtert schloss sich Manja der Gruppe unauffällig an.

Die wummernden Bässe, die man bereits im Hausflur mehr spürte als hörte, umfingen sie deutlich, als die Wohnungstür sich öffnete. Zu fünft standen sie in einer Art Windfang. Die Beleuchtung war schummrig. Die anderen begannen, die Jacken auf die viel zu kleine Garderobe zu quetschen und zu Manjas großer Überraschung ihre Schuhe auf einen großen Haufen zu werfen, unter dem man ein vollständig überlastetes Schuhregal erahnen konnte. Irritiert trennte sich Manja von ihren teuren Pumps. „Wenigstens kommt mein Nagellack jetzt zur Geltung“ versuchte sie sich zu trösten und betrat barfuß mit den anderen den Wohnbereich.

Kurz verschlug es ihr den Atem. Eine Wolke aufgeheizter Luft, die sie an einen Besuch im botanischen Gewächshaus erinnerte, schlug ihr entgegen. Der Eindruck wurde verstärkt durch die fast schon aufdringliche Anwesenheit üppiger Palmen, die mit Lampions und Floorspots kunstvoll in Szene gesetzt wurden. Krasser hätte der Unterschied zum Fassadengrau nicht sein können. Was immer Manja sich im Vorhinein vorzustellen versucht hatte, das hatte sie nicht erwartet. Man erzählte sich, dass dem Verlag einige der Wohnungen in diesem Komplex gehörten, und diese für die eigenen Mitarbeiter entsprechend repräsentabel umgebaut worden waren. Staunend nahm sie die Szenerie des großen rechteckigen Raum vor ihr wahr. An der rechten langen Seite lag in einer Nische eine Bar. Die Mitte des Raumes wurde bestimmt durch eine freie Fläche, die ringsherum durch einladende Loungemöbel begrenzt wurde. Ein Beamer an der Decke warf auf die gegenüberliegende Wand ein Video einer DJ Session. Lauter jedoch als die Musik waren die Stimmen der unglaublich vielen Menschen, die sich lachend und tanzten in alle Winkel der Wohnung bewegten, als wären sie dort zuhause.

An der Getränkebar drückte Manja jemand auf der anderen Seite des improvisierten Tresens ein viel zu buntes Getränk mit leuchtendem Strohhalm in die Hand. „Oh, du bis neu. Warte. Du brauchst noch ein Bändchen.“ Ehe sie diese Wörter zu einer sinnvollen Information verarbeitet hatte, legte ihr die Person ein noch transparentes Knicklicht als Armband um. Schnell begann es blau zu leuchten. „Was…?“ wollte sie fragen, als ihr plötzlich ein ungeheurer Verdacht kam. Sie hob ihren Blick über die Menge der Menschen und wusste es in diesem Moment glasklar, was sie dumpf geahnt hatte: Sie war auf der falschen Party! Kein einziges Gesicht kam ihr auch nur vage bekannt vor. Sie nahm einen tiefen Schluck von dem exotisch schmeckenden Drink und ließ den Blick schweifen.

Die Musik, das Ambiente, die Getränke, alles war stimmig, aber keineswegs passend zu der Art von Veranstaltung, zu der sie eingeladen war. Das war fast schon traurig, denn mindestens das Tablett mit den bunten Farbschüsseln, das so eben an ihr vorbei getragen wurde, weckte ihr Interesse. Sie drehte sich um, wollte zum Ausgang zurück. Doch: Fehlanzeige. So eben strömte eine weitere johlende Partygruppe in die Wohnung und blockierte den Eingang. „Dann halt später!“ entschied sich Manja nicht ohne Neugierde, und ließ sich zwischen dem Getränkestand rechts und der Tanzfläche links geradeaus treiben auf einen schmalen Durchgang zu. Dort hinter befand sich ein mit Kerzen beleuchteter schmaler Flur, der hinter dem Wohnzimmer entlang zu führen schien. Mehrere Türen gingen von ihm ab.

Auf der, die Manja am nächsten war, klebte ein grünleuchtendes Bändchen. Die Neugier der Journalistin in ihr siegte und Manja öffnete sie. Eine Schwarzlichtröhre an der Wand ließ die Kleidung der Anwesenden in leuchtenden Farben erstrahlen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Manja, dass auch die Gesichter und Hände aller hier zu leuchten schienen, dann verstand sie es: es war nicht die Kleidung, die leuchtete, sondern ihre Körper. Bodypainting war das Thema dieses Raumes. Fasziniert von der kunstvollen Bemalung blieb Manja im Türrahmen stehen. Der treibende Beat der Musik ließ eine kunstvoll bemalte Frau an Manja fast vorbei schweben, doch sie stoppte ihren Tanz, sah Manja an und lud sie mit einer Geste ein, hereinzukommen. Manja zögerte, wollte lieber gehen, doch die Frau kam ihr ganz nah und strich Manja mit ihren Fingern Farbe unter ihre Augen wie eine Kriegsbemalung. Es fühlte sich gut an, sagte ihr Körper. Sie prostete der Frau zu, nahm eine tiefen Schluck aus ihrem Becher. Eine seelentiefe Ruhe überkam sie.

Zurück in der Diele bemerkte Manja, dass ihr Herz urplötzlich auffordernd zu klopfen begann im Takt des treibenden Beats, der die Luft beben ließ. Sie ließ sich fangen, ja, ergreifen von dieser seltsamen Atmosphäre künstlerischem Ausdrucks und menschlicher Nähe.

Die nächste Tür war nur angelehnt. Ein pinkes Band oder mehrere baumelten am Türgriff. Blitzlichter erfüllten den Raum. Kühn huschte Manja durch den Türspalt. Mehrere Fotokameras auf mannshohen Stativen richteten sich auf Personen mit bunten Hüten oder Tüchern, mit Masken oder bemalter Haut, die sich ablichten ließen unter großen Anfeuerungsrufen der begeisterten Fotografierenden. Die Hintergrundleinwand mit kitschigem Sonnenuntergangs-Postkartenmotiv hatte sie schon einmal irgendwo gesehen. „Woher?“ fragte sie sich noch, als sie unvermittelt ein Blitzlicht traf. „So beautiful!“ strahlte der Kameraträger sie an. Seine tiefbraunen Augen mit großen Pupillen schienen tief in Manja hineinzublicken. Es war ihr nicht mal unangenehm, stellte Manja fest, doch der Dunstkreis aus einer wirklich aufdringlichen Wolke Wodka-Energy ließ sie zögern. Aber nur kurz. „Fühle, was Du schreibst!“ erfüllte ein Zitat ihres Lieblingsprofs ihren Kopf, bevor sie mit der Kamera einen Flirt begann, der sich so gut anfühlte, als wenn es ein echter sei. Sie leerte ihr Getränk, während die Kamera fortwährend klickte und eine Seite Manja ablichtete, deren Existenz sonst eher im Dunklen lag.

Wieder auf dem Flur, noch kurzatmig und in gewisser Weise desorientiert, traf sie auf eine wild kichernde Menschentraube, die aus der angrenzenden Badezimmertür herausgespült wurden, mit orangeleuchtenden Bändchen geschmückt, wild frisiert und in allen Farben geschminkt. Manja folgte ihrer Parfümwolke zurück auf die andere Seite des Wohnzimmer.

Auf dieser Seite der Tanzfläche erkannte sie jetzt eine überdimensionierte Schminkstation, gesäumt von Dutzenden venezianischer Masken. Auf der Tanzfläche sah sie ekstatisch zuckende Leiber. Der Beat war schneller geworden, das Licht der Spots flackerte im Takt. Auf dem Video, dass auf der Leinwand spielte, entdeckte sie den kitschigen Sonnenuntergang wieder. „Eine Liveübertragung also!“,  dachte sie annähernd imponiert, als schemenhaft die Ausgangstür in ihr Blickfeld geriet. Sie bewegte sich in diese Richtung. Der Boden schien mit zu vibrieren, sie zu umgarnen in temperamentvollen Farben der Leidenschaft. Das Leben selbst forderte sie zum Bleiben auf, barfuß.

„Du willst schon gehen? Willst Du tanzen?“ Der Fotograf von eben stand vor ihr. Er hielt ihr ein neues Glas hin mit verlockenden Inhalt, so schillernd wie alles in dieser Wohnung, dekoriert mit einer Cocktailkirsche so rot wie ein betörendes Versprechen. „Danke, nein. Ich glaube, ich muss noch zu einer anderen Party…“ sie sah in sein enttäuschtes Gesicht. Manja nahm sein Glas, sog am Strohhalm wie am köstlichsten Leben, „Eine Frage habe ich noch: Wofür steht das blau?“ Er strahlte sie an und ergriff ihren fragend erhobenen Unterarm mit dem blauen Band. Er deutete eine Handkuss an: „Alles ist möglich“ beantwortete er ihre Frage mit bedeutungsvollem Blick. Der Drink war der Schlüssel, dass wusste sie, aber er tat seine Wirkung. Es war ihr egal, und sie bemerkte es nicht, als das Live Video bewegte Bilder einer Lady in enger Hose und Kriegsbemalung zeigte.

Im Flur stieg sie in ihre Pumps. Waren sie vorhin auch schon so unbequem gewesen? Das leuchtende Bändchen lugte frech unter ihrem Blusenärmel hervor, so oft sie es auch darunter schob. Im kleinen Flurspiegel blickte sie in ihr Spiegelbild mit verschwitztem Haar und blauer Schminke. Nein, heute war nicht die Zeit für eine Abschiedsparty. Ganz im Gegenteil.

Beim Aufräumen am nächsten Tag wusste niemand, wer die italienischen Designerpumps zurückgelassen hatte. Sie wurden nie vermisst.

 

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