Von Marianne Apfelstedt

„Bist du dir sicher, dass mir die Frisur steht? Wir könnten meine Haare auch hochstecken.“ Unsicher setzte sich Käthe auf den Hocker mitten im Raum.
„Nee meine Süße, der Zopf muss ab.“ Berni löste das Band und das Haar floss in Wellen über ihre Schulter. Die Bürste fuhr mehrmals vom Scheitel bis zu den Spitzen, bevor Berni die große Schere in die Rechte nahm und mit der Linken eine Strähne mittig am Hinterkopf fasste, um sie beherzt abzuschneiden.
„Schau, wir legen die Haarsträhnen auf die Kommode, die kannste dem Perückenmacher verkaufen.“ Käthe schloss die Augen. Umso lauter hörte sie das „Schnipp“ der Schere, das nur unterbrochen wurde, wenn Berni ihre Haare glattstrich. Ihr Herz klopfte schmerzhaft und ihre Finger verknoteten sich in ihrem Schoß.
„Du kannst die Augen wieder aufmachen. Komm, wir stellen uns vor den Spiegel.“ Berni zog sie mit. Beide Frauen stellten sich eng beisammen direkt vor den Spiegel an der Wand. Käthe riss die Augen auf und fuhr sich zögernd durch das Haar, das jetzt nur knapp ihre Ohren bedeckte, genau wie bei den blonden Locken der Freundin.
„Sie sind schon ein wenig kurz.“ Sie drehte den Kopf nach rechts und links.
„Och, die wachsen wieder, wirst sehn. So, jetzt fehlt nur noch das Kleid. Probier mal das grüne an.“ Käthe zog das graue Alltagskleid aus und hängte es in den gemeinsamen Schrank. Vorsichtig schlüpfte sie in die grüne Extravaganz. Seidiger Taft glitt zart über ihre Haut. Bei jeder Bewegung glitzerten die aufgenähten Glasperlen.
„Sieht schnieke aus. Ich wusste doch, dass dir die Farbe steht.“ Berni streifte ihr ein schwarzes Stirnband mit einer Straußenfeder über den Bubikopf.
„Bitte komm mit, ich kenne dort niemanden.“
„Nee, auf der Einladungskarte stand: Für den Saphir aus dem Bäckerladen. Los jeh schon und morgen erzählste mir jede Kleinichkeit, von deiner feschen Abendjesellschaft.“ Berni zog ihr den Mantel an und schob sie aus dem Zimmer hinaus. Im Schein der Gaslaternen lief Käthe durch Berlin.

Eine Hausdame im schwarzen Kleid nahm ihr Hut und Mantel ab. Aus dem ersten Stock tönte laute Musik. Käthe hörte schon auf der geschwungenen Holztreppe den vielstimmigen Gesang: „Veronika, der Lenz ist da, ….“ Frauen und Männer tanzten in einer Polonaise durch den großen Raum. Käthe suchte sich ein Plätzchen an der Wand und beobachtete den Trubel. Am Ende des Liedes löste sich die Schlange auf und die Band spielte einen weiteren Gassenhauer, den sie leise mit summte. Inmitten der ausgelassenen Menschen entdeckte sie ihren Gastgeber. Armand Bouvier stand mit dem Rücken zu ihr im Gespräch mit zwei Herren. Graue Strähnen durchzogen sein schwarzes Haar und er überragte die Umstehenden. Ihre Anwesenheit spürend, drehte er sich um und umfing sie mit seinem Blick, bis sie verlegen zu Boden sah. Armand wandte sich wieder den Männern zu und kam nach kurzem Wortwechsel direkt auf sie zu.
„Sieh an, die Schönheit aus dem Bäckerladen. Die neue Frisur schmeichelt Ihnen. Ich habe Sie nur an den strahlend blauen Augen erkannt.“ Um Worte verlegen, blickte Käthe auf einen Fussel an seinem Revers. Ihr Kopf war leer wie die Vitrine in der Bäckerei bei Ladenschluss.
„Darf ich um diesen Tanz bitten?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er ihre Linke und legte sie sich auf die Schulter. Armand zog sie an sich und führte sie mit Tanzschritten zum melancholischen Rhythmus des Tangos in die Mitte der anderen Paare. Sie spürte die Wärme seiner Hand, die zwischen ihren Schulterblättern lag. Die pulsierenden Tempowechsel der Combo entfachten ein Feuer, das sie nie verspürt hatte. Ihre Beine bewegten sich synchron. Sie hob ihr Kinn und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Nach jeder Drehung zog er sie enger an sich und Ihre Vernunft schmolz dahin wie Butter. Bei den letzten Tönen führte er sie tanzend aus dem Saal hinaus. Schwer atmend standen sie sich gegenüber, seine Lippen streiften sanft ihre Stirn, dann löste er sich von ihr und Käthe erwachte wie aus einem Traum.
„Mein Saphir, Sie tanzen vortrefflich. Wollen Sie mir ihren Namen verraten?“ Er hielt immer noch ihre Hand und sie fühlte sich magisch angezogen durch diese Verbindung.
„Käthe. Käthe Bernau.“
„Liebe Käthe, du bist bezaubernd. Im Saal ist es zu voll. Komm mit mir, ich möchte dir etwas zeigen.“ Armand hakte sich an ihrem Arm ein und sie schlenderten einen langen Gang mit Gemälden entlang. Seine Wärme drang durch die Anzugjacke, durch ihre Haut und entfachte ihr Herz. Die Gesichter der Porträts erwachten im flackernden Licht der Petroleumlampen und Armand erzählte ihre Geschichten. Käthe lauschte dem Klang seiner Stimme, mit der er sie mehr und mehr in seinen Bann zog.
„Darf ich dir Großtante Hazel vorstellen, Sie entstammte dem englischen Zweig unserer Familie und rauchte Zigarren.“ Diese Frau schien sie mahnend anzusehen. Ein geflochtener Zopf aus grauem Haar war wie eine Krone auf ihrem Haupt drapiert. Hazel blickte den beiden verächtlich entgegen. Das Alter hatte der Unbekannten tiefe Falten eingegraben, besonders auf der Stirn und um die Augen.
„Die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Du hast mir deine weiblichen Vorfahren vorgestellt. Gibt es von den Männern keine Bilder?“
„Hier wird nur ein Teil der Familiengemälde aufbewahrt.“
„Nun, ich denke, in deiner Familie sind alle groß, von schlanker Gestalt und haben schwarze Haare und blaue Augen, so wie der Mann, der neben mir steht.“ Schmunzelnd sah sie Armand an, dessen Gesicht im Schein der Lampe gealtert zu sein schien. Doch bevor sie darüber nachdenken konnte, zog er sie weiter. Mit bezaubernden Anekdoten aus seiner Kindheit brachte er sie immer wieder zum Lachen.

Am Ende des Ganges öffnete er eine Tür. Nachdem er eine tragbare Petroleumlampe entzündet hatte, trat sie zu ihm in den Raum. Auf einem Holztisch standen Tuben mit Farben, Pinseln und Paletten.
„Hier verbringe ich viele Stunden und fröne meiner Leidenschaft, dem Malen.“
„Bist du ein Künstler? Darf ich sehen, an welchem Bild du gerade arbeitest?“
„Komm mit.“ Er entzündete eine weitere Lampe am Ende des Raums. Dort stand eine Staffelei und darauf eine Leinwand, grundiert in Blau- und Grautönen.
„Darf ich deine Schönheit auf diese Leinwand bannen?“, fragte Armand. Seine Worte färbten ihre Wangen und ihre Augen funkelten freudig. „Es ist mir ein Vergnügen, von dir gemalt zu werden.“
Er küsste sie zart auf die Lippen und führte sie zurück in den Saal, wo sie tanzten, bis ihre Füße rebellierten. Sein Chauffeur fuhr Käthe spät abends nach Hause.

Käthe traf sich jeden Abend mit ihm. Gleich nach der Arbeit holte der Chauffeur sie ab. Beim Essen erzählte Armand von seinen Reisen. Danach saß sie ihm Modell. Äußerlich reglos, hatte sie viel Zeit, sich auszumalen, wie sie sich bei Armand für das Porträt bedanken wollte. Ihre zügellosen Gedanken überhauchten ihre Wangen und Armand übertrug diese Sinnlichkeit auf die Leinwand. Käthe wurde spät abends nach Hause chauffiert und fiel Nacht für Nacht in einen traumlosen Schlaf.
„Na, dein Armand scheint ziemlich anstrengend zu sein. Du schläfst jede Nacht wie eine Tote“, neckte Berni eines Morgens.
„Das geht dich nichts an.“ Käthe wurde wortkarg und blass und fühlte sich nur noch bei Armand lebendig.
Eines Abends öffnete er eine Flasche Champagner, als Käthe ins Zimmer trat.
„Gibt es etwas zu feiern?“
„Heute werde ich dein Porträt beenden. Das ist doch ein Grund zum Feiern.“ Sie leerte zwei Gläser des prickelnden Getränks und aß nur ein wenig Pastete. Auf dem Weg zu seinem Atelier musste sich Käthe mehr als einmal an ihn lehnen. Eng umschlungen liefen sie in das Atelier, wo er Käthe auf den gepolsterten grauen Lehnstuhl setzte. Sie lies ihre Gedanken flattern wie Schmetterlinge. Die Stunden in diesem Raum waren magisch flüchtig. Sie stellte sich den Pinsel vor, wie er die Farbe direkt auf ihre Haut strich, rekelte sich genüsslich und setzte sich für ihn in Pose. Nach einiger Zeit legte Armand die Pinsel zur Seite und reinigte seine Hände. Seine Altersflecken bemerkte sie nicht.
„Liebe Käthe, darf ich dich um diesen Tanz bitten.“ Ein Grammophon spielte eine Version des Tangos, den sie seit ihrem gemeinsamen Tanz so sehr liebte. Er reichte ihr ein weiteres Glas Champagner, das sie in einem Zug leerte. An den langsamen Stellen zog er sie eng an sich und sie schmiegte ihre Stirn an seine Brust. Beim letzten Ton küsste er sie unendlich zart und prickelnde Champagner Bläschen tanzten über ihrer Haut. Diesen Kuss hatte sie so sehr begehrt. Sie hieß ihn mit ihrer Zunge willkommen und drückte sich an ihn. Er löste sich von ihr und sie fühlte körperliches Bedauern. Armand nahm ihre Hand, geleitete sie vor die Leinwand und trat mit der Lampe in der Hand hinter sie. Ihr eigenes Gesicht strahlte ihr verträumt entgegen. Mit den Fingern folgte sie der Kontur ihrer Wangen hinab zum Dekolleté, bis zum Ausschnitt des grünen Kleides. Ihre Augen weiteten sich, als das Bild sich verwandelte. Käthes Schrei zerriss die Stille, bevor sie in Ohnmacht fiel.

Der Hausangestellte hängte das neue Bild neben das Gemälde von Hazel. Armand betrachtete es geraume Zeit mit zärtlichem Blick. Es zeigte das Antlitz einer Frau mit weißem Bubikopf und dem Gesicht einer Greisin mit saphirblauen Augen, die ihm träumerisch entgegenblickten. Er fuhr mit der Hand eines jungen Mannes durch sein volles schwarzes Haar und lief mit ausladendem Schritt den Gang entlang.

„Mensch Käthe, du liegst ja immer noch im Bette. Nun mach hinne, sonst kommste zu spät in den Bäckerladen.“ Berni zog den Vorhang an Käthes Bett zur Seite und ein Lichtstrahl fiel direkt auf die Frau im Bett. Eine Frau mit schneeweißem Bubikopf und Runzeln wie ein welker Apfel.

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