Von Martin Fiß

»Jetzt!«

Kriminalhauptkommissar Harald Mecklenbeck öffnete die Schiebetür des schwarzen Van und trat auf die menschenleere Straße.
Nicht zum ersten Mal arbeitete Harry, wie ihn Freunde und Kollegen nannten, undercover. Er liebte es, sich verdeckt zwischen den Bösen dieser Welt zu bewegen. Dinge herauszufinden, die niemals über offizielle Verhöre ans Licht kommen würden.

An jenem trüben Novemberabend sollte Harry an einer Ü50-Party teilnehmen, die in der angesagten Ray-ili-ad Bar stattfand. Sein langjähriger Kollege und Freund Torsten Wolters, den alle auf der Dienststelle nur Toto nannten (in Anspielung auf das durch das Privatfernsehen bekannte Polizistenduo „Toto und Harry“), hatte aus verlässlicher Quelle erfahren, dass sich auch der des gewerblichen Bandendiebstahls und Mordes verdächtigte Pepe Pein unter den Gästen befinden würde.
Harry kannte Pepe nur aus der Akte. Sie waren sich persönlich zuvor noch nie begegnet, doch Pepes narbenzerfurchter und kahl rasierter Schädel war ein Garant für eine zweifelsfreie Identifikation. Sollte Pepe tatsächlich Gast der Party sein, würde Harry ihn totsicher erkennen.
 

Die Tür zur Bar stand offen, Harry steuerte geradewegs auf den durch eine Laterne schwach beleuchteten Eingang zu.

 

Der Innenbereich war trotz seiner gewaltigen Ausmaße recht spärlich eingerichtet.
An der linken Seite des Raumes standen Tische, auf denen allerlei Getränke und diverse Knabbereien angeboten wurden. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich noch nicht so viele Gäste hier und die, die schon da waren, irrten scheinbar ziellos umher. Riesige Kronleuchter hingen von der Decke und tauchten den Raum in ein gleißendes Licht. Zu hell für seinen Geschmack, empfand Harry. Das Ganze hatte eher den Charme einer Bahnhofsvorhalle, als einer gelungenen Party-Location.
Was auch immer sich Kriminaloberrat Hansen von dieser Observierung versprach, Harry zweifelte daran, hier irgendwelche neuen Erkenntnisse über den Verdächtigen Pepe Pein gewinnen zu können.

Harry wandte seinen Blick zur rechten Seite des Raumes. Außer ein paar Blumenkübeln, die offenbar der Dekoration dienen sollten, gab es keine weiteren Dinge. Keine Partyband, nicht einmal eine Musikanlage war dort zu sehen.

Während Harry noch über die spartanische Gestaltung dieser Ü-50-Party nachdachte und sich fragte, wie er den Abend bloß ohne Langeweile überstehen sollte, erblickte er Pepe an der Stirnseite des Raumes.
Pepe unterhielt sich angeregt mit einem langhaarigen Typen in einem wallenden Umhang, der mit seinem unkonventionellen Auftreten ein Überbleibsel der Hippie-Szene zu sein schien. Direkt neben den beiden stand eine Frau, die vom Alter her überhaupt nicht in eine Ü-50-Party passte. Harry schätzte sie auf höchstens Mitte dreißig und ordnete sie eher dem Catering-Team zu. Ihre attraktive Erscheinung weckte in Harry längst vergessene Gelüste. Er widerstand seinem Drang, auf sie zuzugehen, um einen Small-Talk zu beginnen. Schließlich war Pepe seine Zielperson.

Der wiederum schien sich gerade vom Alt-Hippie zu verabschieden, welcher ihm mit ausgestrecktem Arm den Weg zur mittleren von drei Türen in der Nähe wies. Widerspruchslos bewegte sich Pepe auf diese Tür zu. Harry vermutete, dass hinter dieser roten Tür das WC sein könnte und folgte Pepe mit etwas Abstand.
Ein Gespräch am Urinal hatte stets etwas ganz Intimes und Harry hoffte, auf diese Weise einen unauffälligen Erstkontakt herstellen zu können.

Pepe hatte gerade die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen, als Harry nur noch wenige Schritte entfernt war.
Die junge Frau kreuzte seinen Weg, würdigte ihn aber keines Blickes und entschwand durch die linke der drei Türen. Während Harry darüber nachdachte, ob hinter dieser blauen Tür vielleicht das Damen-WC zu finden sei, trat ihm der langhaarige Zottel mit erhobenem Zeigefinger entgegen.

»Halt! Gehe nicht durch diese Türen. Nicht durch die rote und nicht durch die blaue. Jetzt noch nicht.«

Irritiert blickte Harry auf den Finger, stoppte seine Schritte und fügte sich der Ansage, ohne zu wissen, warum er dies tat.

Noch bevor er hinterfragen konnte, was das alles solle, nahm ihn der Zottel an die Hand und sagte: »Komm …«

 

»Komm zurück!«

 

Harrys geschundener Körper bäumte sich aufgrund des mit dem Defibrillator verabreichten Elektroschocks auf und sank dann wieder in sich zusammen.

Ein langhaariger Mann in wallendem Umhang verließ eilig die Bar, drehte sich kurz um, lächelte und verschwand in der Dunkelheit der anliegenden Straßen.

 

Wenige Augenblicke zuvor wurde die Tür des Vans aufgerissen und Toto rannte auf die gegenüberliegende Straßenseite, direkt vor die Tür zur Bar.
Aus den Tiefen des Nichts tauchten Schaulustige auf, sammelten sich an der Unfallstelle, zückten ihre Handys und ergötzten sich an dem sich vor ihnen offenbarenden Leid.

»Polizei! Halten Sie Abstand und packen Sie die Handys weg, verdammt nochmal! Straße frei machen, der Rettungswagen ist schon unterwegs!«

Im Anschluss überschlugen sich die geschmacklosen Meldungen in den sozialen Netzwerken: 

›Bulle überlebt knapp, Narbenglatze stirbt im Lambo am Laternenmast.‹

 

Das monotone Piepen des Monitors zur Überwachung der Vitalzeichen des Patienten Harald Mecklenbeck füllte das ansonsten stille Zimmer Nr. 8 in der 3. Etage des städtischen Krankenhauses mit einer bedrückenden Atmosphäre.

Toto hatte sich gerade einen ungenießbaren Kaffee aus dem Automaten im Krankenhausflur besorgt, um sich der deprimierenden Situation im Krankenzimmer wenigsten kurzzeitig zu entziehen. Seit drei Tagen kam er jeden Mittag zur gleichen Zeit hierher, um seinem Freund nah zu sein.

Als er die Tür zum Krankenzimmer wieder aufstieß, öffnete Kriminalhauptkommissar Mecklenbeck unerwartet seine Augen.

 

»Gott sei Dank, Harry! Da bist du ja wieder! Pepe ist tot. Der Idiot hat die Kontrolle über sein Auto verloren, ist voller Wucht in den Laternenmast gekracht, hat dich dabei mit erwischt und quer über den Bürgersteig geschleudert und …«

»Grün war schon immer meine Lieblingsfarbe«, unterbrach ihn Harry flüsternd und senkte erleichtert seine Lider.

 

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