Von Angelika Brox

Nach der Trennung von Jana brauchte ich dringend eine neue Bleibe. Endlich fand ich eine Parterrewohnung in einem vierstöckigen Mietshaus. Für einen Single-Mann wie mich war sie eigentlich zu groß, doch ich durfte nicht wählerisch sein. Ich holte ein paar Sachen aus unserer gemeinsamen Wohnung, kaufte ein neues Bett und zog ein. Auf Bilder und ähnliche Dekorationen verzichtete ich, denn nach einem gemütlichen Heim stand mir vorläufig nicht der Sinn. Hauptsache, ein Dach über dem Kopf und keinen Stress mehr!
Wenn ich andere Hausbewohner im Flur traf, grüßte ich zwar höflich, vermied allerdings näheren Kontakt. Natürlich bemerkte ich die neugierigen Blicke und konnte mir denken, was in ihren Köpfen vorging, aber ich wollte möglichst für mich bleiben und in Ruhe meine Wunden lecken.

Eines Freitagabends klingelte es an der Wohnungstür. Ich linste durch den Spion und erkannte den Nachbarn von der anderen Seite des Hausflurs: Mitte bis Ende dreißig, zurückgekämmtes braunes Haar, Dreitagebart, grauer Pulli mit V-Ausschnitt und Cargohose, recht sympathischer Gesamteindruck. Wahrscheinlich hatte er mich heimkommen sehen, also half es nichts, sich taub zu stellen. Außerdem hätte ich längst selbst mal auf die Idee kommen können, die übrigen Hausbewohner zu besuchen und mich vorzustellen. Das war mir nun peinlich, denn eigentlich bin ich ein aufgeschlossener Mensch, nur stand ich seit der Trennung ein wenig neben mir. So etwas schüttelt man sich halt nicht einfach aus den Kleidern.
Ich öffnete die Tür und lächelte meinem Nachbarn entgegen.
„Guten Tag“, sagte er, „mein Name ist Hoffmeister, von gegenüber.“
„Winter“, antwortete ich, „freut mich.“
„Meine Frau und ich veranstalten morgen Abend eine Party, im kleinen Kreis, und wir möchten Sie gerne dazu einladen.“
Blitzschnell wägte ich meine Optionen ab. Einerseits war mir nicht nach Gesellschaft zumute, andererseits wollte ich im Haus auch nicht als Sonderling gebrandmarkt werden. Die Einladung war bestimmt gut gemeint. Wie sich einsame Wochenenden in einer fast kahlen Wohnung anfühlen, hatte ich inzwischen bereits dreimal erlebt.
„Vielen Dank, ich komme sehr gerne“, sagte ich.
„Schön. Gegen neunzehn Uhr. Bis dann!“
„Bis dann! Ich freue mich.“
Langsam drückte ich die Tür ins Schloss und merkte, dass ich mich tatsächlich freute. Die Party morgen wäre ein Anfang, um wieder am Leben teilzunehmen.

Am nächsten Abend klingelte ich, mit einer Flasche Wein ausgestattet, bei meinen Nachbarn gegenüber. Herr Hoffmeister öffnete, schüttelte mir kräftig die Hand und führte mich ins Wohnzimmer. Dort stellte er mich seiner Frau und den fünf anderen Gästen vor, die sich um den Esstisch versammelt hatten und freundlich „Hallo!“ sagten. Alle waren Anfang dreißig bis Ende vierzig, leger gekleidet und in bester Partystimmung. Es gab Salate, Baguette und munteres Geplauder. Ich fühlte mich in dem kleinen Kreis recht wohl – bis die Hausfrau den Tisch abräumte und der Hausherr ein Spiel auspackte. Es wurden zwei Mannschaften gebildet und dann ging es darum, Begriffe zu erraten, die jeweils ein Teammitglied durch sprachliche Umschreibungen, zeichnerisch oder pantomimisch erklärte.
Ach, du meine Güte! Ich ahnte Schlimmes. Wenn ich mich hier vor völlig fremden Leuten zum Affen machen musste, würde mich das auf schnellstem Wege in das depressive Tal der ersten Trennungstage zurückwerfen. Wie könnte ich mich möglichst elegant verabschieden?
Herr Hoffmeister schien mir mein Unbehagen anzumerken.
„Wollen wir uns nicht duzen?“, fragte er und drückte mir ein Glas Wein in die Hand. „Dann spielt es sich gleich viel lockerer, nicht wahr? – Ich bin Daniel.“
„Ich bin Kathi“, fügte seine Frau eifrig hinzu. Sie deutete der Reihe nach auf die anderen Gäste und nannte ihre Namen.
„Ich heiße Alex“, sagte ich und lächelte verlegen in die Runde.
So bald gäbe es wohl kein Entrinnen. Ich wurde Zeuge, wie erwachsene Menschen unter dem Zeitdruck einer ablaufenden Sanduhr einen Zahnarzt, einen Eisprung oder eine Striptease-Tänzerin darstellten, ein Computervirus oder Fußpilz zeichneten oder versuchten, Wackelpudding zu beschreiben, ohne die Wörter ‚wackeln‘ und ‚Pudding‘ zu benutzen. Nachdem ich mit meinen rudimentären Malkünsten ein Schaukelpferd aufs Papier gekritzelt hatte, was mein Team glücklicherweise erkannte, flüchtete ich erst einmal auf die Toilette. Während ich mir Gesicht und Hände wusch, überlegte ich, dass es am besten wäre, Kopfschmerzen vorzutäuschen. Etwas Originelleres fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Jedenfalls war es besser, als durchzuhalten und den anderen womöglich mit meiner schlechten Laune den Spaß zu verderben.
Gerade kam ich aus dem Badezimmer, da klingelte es an der Haustür Sturm. Ein verspäteter Gast?
Weil ich schon mal im Flur war, rief ich: „Ich mache auf!“ und öffnete die Tür.
Eine junge Frau mit wirrem Haar, roten Flecken im Gesicht und panisch aufgerissenen Augen drängte sich herein.
„Wo ist die Toilette?“, keuchte sie.
Automatisch deutete ich in die entsprechende Richtung.
Mit wehendem Mantel rannte die Frau ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu.
Ziemlich verdattert folgte ich ihr und horchte, was sie dort drinnen trieb.
Lautes Rauschen und Plätschern wurde untermalt von einem erleichterten Seufzer aus tiefster Seele.
Als die Frau wieder herauskam, hatte sie ihre Frisur in Ordnung gebracht und ihre Wangen waren nur noch zart gerötet.
„Sorry“, sagte sie, „ich musste wirklich schrecklich dringend! Ich war bei meinen Eltern zu Besuch und hab’ wohl zu viel Kaffee getrunken. Auf der Autobahn gab’s einen Stau. Zum Haareraufen! Mir brach schon der Schweiß aus vor lauter Auf-dem-Sitz-Herumwippen und Zähne-Zusammenbeißen. Am liebsten hätte ich mich hinter die Leitplanke gehockt. Aber ich hab’ mich nicht getraut. In meiner Straße fand ich keinen Parkplatz, die einzige freie Lücke war hier vorm Haus. Beim Aussteigen wurde es richtig schlimm. Ich dachte, ich schaff’s nicht mehr heil bis zu mir. Deshalb hab’ ich einfach alle Klingelknöpfe gedrückt. Vielen Dank, Sie haben mich gerettet! In letzter Sekunde! Ich heiße übrigens Franzi.“
Sie war immer noch aufgeregt und begleitete ihre Erzählung mit temperamentvollen Gesten.
Ich grinste. Sie gefiel mir.
„Alex“, stellte ich mich vor.
„Wer ist denn gekommen?“, rief Daniel aus dem Wohnzimmer.
„Franzi!“, rief ich zurück.
„Oh! Aha! Ein Überraschungsgast! – Na, bring sie rein!“
„Okay!“
Ich zwinkerte ihr zu. „Hast du Lust auf ein Glas Wein und Gesellschaftsspiele?“
„Na klar.“
Erfreut führte ich Franzi ins Wohnzimmer und stellte sie den anderen vor. In ihren Gesichtern konnte ich ablesen, welch spannende Gedanken und Vermutungen ihnen durch den Kopf geisterten, und schmunzelte in mich hinein.
Dann kam ich mit einer pantomimischen Performance an die Reihe. Ich warf einen Blick auf die Aufgabenkarte und musste lachen. Der darzustellende Begriff lautete: „Toilettenbrille“.
Das Spiel begann mir Spaß zu machen. Ich war gespannt auf den weiteren Verlauf des Abends.



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