Von Björn D. Neumann

„Irmgard, wie lange brauchst du denn noch?“ Bernhard ging ungeduldig im Wohnzimmer auf und ab und atmete mehrmals tief und hörbar aus. Er selbst war schon seit einer Viertelstunde fertig und das, obwohl er sich sogar schminken musste. Sein Kostüm war an den Piratenkapitän Jack Sparrow angelehnt – zugegebenermaßen ein sehr breiter Jack Sparrow – und der war in den berühmten Filmen halt geschminkt.

„Einen Moment noch, Schatz“, kam es aus dem Badezimmer. Irmgard verpasste sich noch den letzten Schliff als Harley Quinn.

Heute war Halloween und eigentlich war dieser Zinnober überhaupt nicht nach Bernhards Geschmack. Aber sie waren eingeladen und ihre Freunde Petra und Andreas zelebrierten den aus Amerika herübergeschwappten Trend.

„Wow, na, da hat sich das Warten ja gelohnt!“ Bernhard pfiff anerkennend durch die Zähne. Irmgard trug eine blonde Perücke mit blauen und rosa Zöpfen. Das Gesicht war weiß geschminkt und aufgeklebte Tätowierungen zierten die Wangen. Komplettiert wurde das Outfit durch ein T-Shirt mit der Aufschrift „Daddy’s Lil‘ Monster“.

„Vielen Dank, Captain Sparrow! Dann können wir.“

„Muss ich wirklich?“

„Ja, müssen wir. Sie sind zweifellos der schlechteste Pirat, von dem ich je gehört habe!“

„Aber Ihr habt von mir gehört!“, beendete Bernhard das berühmte Filmzitat. „Dann los, mein kleines Monster!“

***

Selbst für einen Herbstabend war es schon stockfinster. Der Regen prasselte unaufhörlich auf die Windschutzscheibe und die Wischer schafften es kaum, trotz höchster Stufe, für freie Sicht zu sorgen. Als sie vor dem Haus ihrer Freunde einparkten, zuckte ein Blitz am Firmament auf, der direkt von einem lauten Donner gefolgt wurde.

„Na, das nenne ich mal einen Empfang“, bemerkte Bernhard trocken.

Ihre Freunde hatten sich mal wieder alle erdenkliche Mühe gegeben. Die gesamte Hausfront, der Gartenzaun und die Garage waren mit künstlichen Spinnweben dekoriert. Schiefe Grabsteine zierten den Vorgarten und am Hauseingang stand eine lebensgroße Freddy-Krüger-Figur. Die Puppe mit dem zerschlissenen rot-grün-gestreiften Pullover, Schlapphut und Handschuh mit Klingen an den Fingern war natürlich mit einem Bewegungsmelder ausgerüstet. Näherte man sich, leuchteten die Augen in dem brandnarbigen Gesicht auf und ein markerschütternder Schrei durchdrang die Stille. Andreas und Petra importierten nur das beste Equipment direkt aus den USA.

„Eins, zwei – Freddy kommt vorbei“, trällerte Bernhard und gab der Figur einen freundschaftlichen Schulterklapps.

„Du bist unmöglich.“

„Ich weiß. Macht mir aber nichts.“

Die Türklingel war so eingestellt, dass sie wie eine tiefdröhnende Kirchenglocke klang. Nichts rührte sich. Bernhard rüttelte an der Tür. Verschlossen. „Merkwürdig. Wir sind doch pünktlich. “ Bernhard blickte sich fragend zu Irmgard um, als sich die Tür mit einem Quietschen von alleine öffnete. „Aha, mögen die Spiele beginnen. Bin gespannt, was sie sich diesmal noch alles haben einfallen lassen.“

Beim Eintritt mussten sie sich durch ein weiteres dichtes Spinnengewebe aus Kunststoff kämpfen. Das Haus selber lag in schummrigem Licht. Überall waren flackernde elektrische Kerzen aufgestellt. Direkt an der Tür stand ein großer Hexenkessel, der randvoll mit Süßigkeiten für junge Besucher gefüllt war.

„Oh, Duplo. Sehr aufmerksam.“ Bernhard schob sich den Schokoriegel direkt an Ort und Stelle zwischen die Zähne.

„Die sind für die Kinder“, mahnte Irmgard.

„Ja, ja. Schon gut. Ist doch genug da.“

Im Haus herrschte Totenstille. „Hallo? Petra? Andreas? Irgendjemand hier?“ Irmgard rief nach ihren Freunden, aber niemand antwortete.

Sie gingen weiter ins Wohnzimmer. Neben der Couch stand ein Kübel mit Eiswürfeln, in dem eine Vielzahl amerikanischer Biersorten gekühlt wurde. Bernhard ließ sich seufzend auf das Sitzmöbel plumpsen und griff sich eine der Flaschen. „So lasse ich mir das gefallen.“

„Irgendwas stimmt hier nicht, Bernhard. Petra hatte gesagt, dass noch fünf andere Pärchen eingeladen wären.“ In diesem Moment kam ein Stöhnen aus dem Hausflur.

„Aha, da ist doch jemand.“ Eine Gestalt betrat das Wohnzimmer. Sie sollte offensichtlich einen Zombie darstellen und das Kostüm war mehr als gelungen. Alte, zerschlissene Kleidung, ein verwestes Gesicht mit gelben, löchrigen Zähnen. Ein Augapfel hing halb aus einer der Augenhöhlen, während die andere schwarz und leer war. Graue, zerzauste Haare hingen in Strähnen den Kopf herab.

„Hallo Kumpel, auch ein Bier?“ Bernhard hielt dem Besucher eine Flasche entgegen.

„Hirn?“, fragte die Gestalt.

„Alles klar. Immer schön in der Rolle bleiben.“ Bernhard zog den Zombie neben sich aufs Sofa.

„Hirn!“, gab dieser empört von sich.

„Hier sind Kartoffelchips.“ Bernhard hielt dem Zombie eine Schale unter die Nase.

„Hiiiirn!“, weinte der Zombie.

„Bernhard, jetzt lass ihn doch! Sie müssen entschuldigen, Herr… Wie heißen Sie eigentlich?“

Die Ruine eines Gebisses grinste Irmgard an und antwortete freudestrahlend: „Hirn!“

Gerade als Bernhard eine bissige Antwort geben wollte, betrat die nächste Gestalt die Bühne. Von der Treppe zum Obergeschoss kam eine Nonne. Die Hände zum Gebet gefaltet, den Kopf gebeugt, so dass das Kinn die Brust berührte und kein Gesicht zu erkennen war, schwebte sie fast die Treppe hinunter. Kurz vor Bernhard kam sie zum Stehen. Und noch bevor er etwas sagen konnte, hob sie den Kopf und gab einen schrillen Schrei von sich. Die tiefliegenden Augen waren gelb und hatten die Pupillen einer Schlange. Die Zähne waren schwarz. Die Züge des Gesichts hatten etwas Diabolisches, nichts Menschliches.

„Lassen Sie mich raten“, gab Bernhard lakonisch zurück. „Sie wollen Hirn?“

So gruselig die Gestalt auch war, konnte man nun echtes Erstaunen in dem Gesicht ablesen. Mit offenstehendem Mund stand die Horror-Nonne vor Bernhard.

„Also, eure Kostüme sind wirklich klasse, aber die Schminke stinkt erbärmlich. Ich weiß nicht, ob mein Freund mit dem Hirn-Fetisch schlimmer riecht, oder Sie, meine Teure!“

„Hirn?“, fragte der Zombie.

„Bernhard!“, schimpfte Irmgard.

„Was denn?“, zuckte Bernhard die Schultern.

„Ihr seid verflucht!“, meldete sich die Nonne zu Wort.

„Da sind wir jetzt mal einer Meinung. Wenn man dieses blöde Fest als Fluch bezeichnen möchte… Um mir Angst zu machen, braucht es schon mehr. Vielleicht, wenn Petra vegane Würstchen serviert…“

„Ich muss meinen Mann entschuldigen. Er nimmt anscheinend seine Rolle als rüpelhafter Pirat zu ernst!“ Irmgard gab Bernhard mit dem Ellenbogen einen Stups in die Rippen.

Lichter flackerten und mit einem Knall und Rauch stand ein Clown wie aus dem Nichts im Raum. Kein lustiger Clown. Das Gesicht war zur bösartigen Fratze verzogen. Ein übergroßer Holzhammer war mit rostigen Nägeln und Klingen gespickt. Mit einem irren Lachen holte er aus und… Bernhard nahm ihm das tödliche Werkzeug aus der Hand.

„Soooo, den stellen wir jetzt mal zur Seite. Bevor sich noch jemand verletzt. Guck mal, Harley. Ein Kollege von dir!“ Dann kniff er dem Spaßmacher in die Nase, die ein quietschendes Hupgeräusch von sich gab. „Ihr seid mir schon Komiker. Seid ihr Freunde von Andreas oder Petra? Naja, egal. Jetzt trinken wir erstmal ein Bierchen.“ Bernhard verteilte Flaschen an seine neuen Freunde. „Wisst ihr was? Jetzt machen wir ein Selfie.“ Mit diesen Worten zog Bernhard sein Smartphone aus der Tasche. Er stutzte. ‚12 entgangene Anrufe‘ stand auf dem Display. Bernhard drückte den Knopf zum Rückruf. „Hallo, Andreas? Wo steckt ihr? Wir sitzen hier mit euren Freunden und warten. Was? Ach, so? Ja, verstanden.“

„Was ist mit Andreas und Petra?“, fragte Irmgard.

„Ähm, Petra ist im Krankenhaus. Sie hat sich vor 3 Stunden den Knöchel verstaucht. Andreas hat allen abgesagt – nur uns hat er nicht erreicht. Mein Smartphone war wohl auf lautlos. Lustig, was? Tja, Freunde. Ich glaube, wir müssen jetzt ganz dringend nach Hause. Böses Ührchen. Das müssen wir unbedingt wiederholen. Dann bis nächstes Jahr…“

„Hirn?“

***

Eine Woche später traf man sich zum wöchentlichen Spieleabend wieder bei Petra und Andreas.

„Andreas, erzähl mir doch nichts. Da waren verkleidete Leute bei euch im Haus. Moment. Ich habe doch das Selfie gemacht.“

Als Bernhard über sein Smartphone wischte, wurde er kreidebleich. Auf dem Sofa inmitten der Halloween-Dekoration saßen ein Pirat und eine Harley Quinn. Alle anderen Sitzplätze waren leer. Hätte Bernhard genau hingesehen, hätte er in den Schatten hinter sich drei schemenhafte Gestalten entdeckt.

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