Von Monika Moritz
Die Innenstadt war europafestlich geschmückt. Stefanie war extra aus Luxemburg nach Wien gereist, um an dieser Riesenparty teilzunehmen. Immerhin hat man nicht oft Gelegenheit, sich die Vorbereitungen für das Referendum zum Beitritt zur Europäischen Union selbst anzuschauen, hatte sie gedacht, als sie das Bahnticket gebucht hatte. Sie lebte seit drei Monaten den Traum, als Praktikantin des Europäischen Parlaments aktiv bei aktuellen Themen mitzuarbeiten, über die man später in den Zeitungen las.
Stefanie hatte sich wie jedes Mal, wenn sie in Wien war, bei ihrer Freundin Elisabeth einquartiert, die sie in New York kennengelernt hatte. Sie liebte Wien, die Mischung aus Tradition, historischen Gebäuden und einem pulsierenden Nachtleben.
Insgesamt waren 15 große Zelte der Mitgliedstaaten in der Kärntner Straße und am Graben aufgebaut. Überall gab es die jeweils dort heimischen Speisen und Getränke sowie die Musik, die in diesen Ländern berühmte Hits waren.
Sie ging in das Zelt der Luxemburger, weil sie sich dachte, dass es ja lustig wäre, ausgerechnet in Wien jemanden kennenzulernen, der eigentlich aus ihrer neuen Heimat kam. Vor ihr stand ein junger Mann, der mit dem Barkeeper plauderte. Und sie konnte es nicht verhindern, dass sie seinen Worten lauschte.
„Ja, ich war auch Praktikant beim Europäischen Parlament. Das war eine tolle Zeit. Leider hatte ich Schwierigkeiten mit meinem Englisch.“
„Entschuldige, dass ich mich einmische. Ich bin dort auch gerade Praktikantin. Wie hast du das geschafft? Immerhin ist Österreich ja noch gar nicht in der EU. Ich dachte, man muss aus einem Mitgliedstaat kommen, um bei den Institutionen arbeiten zu dürfen.“
„Naja, ich nehme an, sie wollen halt einfach schon mal Leute einarbeiten, die nach dem Referendum sich dann um einen Job in der EU bewerben.“
„Und? Interessiert dich das? Wirst du dich bewerben? Englisch kann ja wohl keine Hürde sein, das kann man lernen.“
„Komm, setzen wir uns vor das Zelt, hier drinnen ist es so laut. Vielleicht haben wir ja gemeinsame Bekannte!“
„Gern, ich nehme noch mein Glas mit.“
„Ich heiße übrigens Christoph. Und du?“
„Ich heiße Stefanie, aber Freunde rufen mich Steffi.“
„Also Steffi, wie schön, dich kennenzulernen“!
Und die nächsten Stunden verflogen rasend schnell. Natürlich hatten sie in der Verwaltung gemeinsame Bekannte. Steffi musste feststellen, dass ihr Christoph ausgesprochen gut gefiel. Er hatte Jura studiert – genau wie sie. Er arbeitete schon in einer Verwaltung und wollte lieber im schönen Wien bleiben als in Luxemburg mit dem vielen schlechten Wetter ein Angestellter unter tausenden zu sein.
So zuckte Steffi auch nicht, als sie plötzlich Christophs Hand auf ihrem Schenkel spürte und er plötzlich ganz nah auf der Bank zu ihr rutschte, um sie zu küssen. Immerhin hatten sie mittlerweile doch ganz schön viel getrunken. Das schöne Wetter, die Musik und die einzigartige Stimmung ließ sie mutig, wenn nicht gar leichtsinnig werden. Christoph freute sich sichtlich über ihre Spontanität zu einem heißen Flirt.
„Lass uns zu mir gehen, wir können die U-Bahn nehmen. Das ist gar nicht so weit von hier. Oder willst du lieber ein Taxi nehmen?“ raunte er ihr ein wenig benebelt ins Ohr. Oder kam es ihr nur so vor? Ganz nüchtern war Steffi auch nicht mehr, denn sie hatte eigentlich geplant, auf dem Fest was zu essen, aber dazu war es einfach nicht mehr gekommen. Und ohne ein feste Grundlage im Magen zu haben, war ihr der Alkohol einfach schnell ins Blut geschossen.
„Oh, nein. Danke für das liebe Angebot. Aber meine Freundin wartet sicher längst auf mich. Ich wohne immer bei ihr, wenn ich in Wien bin. Sie macht sich sicher längst Sorgen um mich.“
„Kannst du sie nicht einfach anrufen und ihr sagen, du kommst später? Und dass sie beruhigt sein kann, denn du bist bei mir in den besten Händen?“ Christoph grinste Steffi schelmisch an.
„Nein, das möchte ich nicht. Das geht mir jetzt doch zu schnell. Das Beste ist, ich fahre jetzt einfach gleich los. Immerhin muss ich morgen wieder zurückfahren. Das ist also auch der letzte Abend mit meiner Freundin. Danke für alles!“
„Du kannst doch jetzt nicht einfach weggehen. Die Nacht ist noch jung. Was ist, wann kommst du wieder? Ich gebe dir meine Karte, dann rufst du mich einfach an, wenn du wieder da bist. Für dich habe ich immer Zeit!“
Steffi las laut die Visitenkarte vor: „Christoph Markert, Referent, Bundesministerium für Inneres, Wien.“
„Sehr beeindruckend! Danke, aber ich muss jetzt trotzdem gehen!“
Sie war froh, dass Christoph nicht länger lästig war oder sie gar zu ihrer Freundin begleiten wollte. Wie hätte sie das Elisabeth erklären sollen? Sie wollte keinen einen One-Night-Stand und ein Freund in Wien? Das war einfach zu weit weg, das hatte keine Zukunft. Mit diesen Überlegungen verabschiedete sie sich mit einem langen Kuss an der U-Bahn von ihrem Flirt und stieg ein, als der Wagen vorfuhr. Ein letztes Mal winkte sie Christoph zu. Als sie aus der Station fuhren, zerriss sie die Visitenkarte. Man soll sich an nichts klammern, was einfach keine Erfolgsaussichten hatte. Steffi war sich darüber klar, dass Christoph sicher etliche Mädchen ansprach, denn er sah gut aus und konnte wirklich spannend erzählen, so dass er sie häufig zum Lachen gebracht hatte. Ja, und küssen konnte er auch. Sie schloss die Augen und versank in Erinnerung an die letzten Stunden.
Bei ihrer Freundin entschuldigte sie sich für ihre späte Ankunft, klärte sie aber nicht über den wahren Grund auf. Von der ganzen EU-Party hatte sie nämlich nicht mehr viel mitbekommen.
Als sie am nächsten Tag wieder in den Zug stieg, war Christoph schon fast vergessen.
Zwei Wochen später besuchte Steffi eine Freundin, die nichts mit dem ganzen EU-Zirkus zu tun hatte. Barbara arbeitete bei einer Bank Luxemburg – aber auch sie war früher eine Praktikantin gewesen.
Barbara begrüßte sie mit den Worten: “Schenk dir schon mal ein Glas Wein ein! Auf dem Tisch liegen Zeitschriften zum Lesen. Ich muss nur noch ein kurzes Telefonat führen!“
„Kenn ich den Typen?“
„Nein, ganz sicher nicht. Ein Wiener. Das war vor deiner Zeit!“
„Heißt der etwa Christoph Markert?“
Barbara riss die Augen auf: „Du kennst Christoph? Woher? Das musst du mir schon genau erklären!“
„Ach weißt du, vor zwei Wochen war ich in Wien wegen des EU-Referendums. Da habe ich ihn im Luxemburger Festzelt kennengelernt.“
„Kennengelernt? Was heißt das genau? Wie gut kennst du ihn? Ich platze vor Neugier! Bitte erzähle mir ALLES und zwar mit den Einzelheiten!“
„Ähm, wir sind uns recht nah gekommen. Aber ich habe nicht mit ihm geschlafen, falls du das meinst. Es ist doch sinnlos, einen Freund in Wien zu haben. Das kann nicht gut gehen!“
„Wir rufen ihn jetzt einfach an. Ich weiß, dass er immer spät abends noch im Büro sitzt und arbeitet. Er ist ein prima Typ. Er ist kein Aufreißer, falls dich das interessiert. Mein Gott, die Welt ist klein! Unter hunderten Gästen bei der Feier triffst du ausgerechnet Christoph. Unglaublich! Das muss doch was zu bedeuten haben, dass du heute hier bei mir bist, wo ich ihn gerade anrufen wollte.“
„Ich hätte ihn auch gar nicht anrufen können, ich habe seine Visitenkarte gleich noch in der U-Bahn zerrissen.“
„Nun, das nenne ich mal konsequent. Aber jetzt sei einen Augenblick mal ruhig. Ich rufe ihn jetzt an!
Christoph, alter Freund! Wie schön, dass du noch so spät arbeitest. Bitte gedulde dich kurz, ich reiche den Hörer mal weiter.“ Und schon übergab sie Steffi den Hörer.
„Hallo Christoph. Wie geht es dir?“
„Kennen wir uns?“ kam es etwas verunsichert aus dem Hörer.
„Wie kannst du mich vergessen?“
„Oh, Steffi, natürlich erkenne ich dich sofort wieder! Ich hätte mir denken können, dass ihr beide euch kennt. Barbara ist immer zu Streichen aufgelegt. Gibst du sie mir bitte einmal!“
Vom weiteren Gespräch zwischen den beiden bekam Steffi nicht mehr viel mit, denn sie erlebte ihre Zeit in Wien in Gedanken ein zweites Mal.
Barbara stand plötzlich grinsend vor Steffi. „Na, das sind ja tolle Geschichten, die ich über dich erfahre! Wie soll es also mit euch beiden weitergehen?“
„Ich habe absolut keine Ahnung. Will er denn, dass es weitergeht?“
„Ja, ich habe den Eindruck, dass es Christoph ziemlich erwischt hat. Er war ganz verzweifelt, dass du dich nach deiner Abfahrt nicht mehr bei ihm gemeldet hast. Und dabei könnt ihr ja bei den EU-Institutionen gratis ins Ausland telefonieren.“
„Aber das sind doch alles leere Kilometer. Deshalb habe ich den Kontakt abgebrochen.“
„Würdest du ihn denn gern wiedersehen?“
„Natürlich, er geht mir ja auch nicht aus dem Kopf. Wenn Wien doch bloß nicht so weit weg wäre!“
„Quatsch. Die Bahn fährt überall hin. Was hältst du von einem Kompromiss? Ihr trefft euch auf halber Strecke? Zum Beispiel in München. Da könnt ihr viel unternehmen, so dass es nicht peinlich wird. Und jeder kann sofort abreisen, wenn es nicht funktioniert. Was hältst du davon?“
„Das ist eine prima Idee! Ich werde ihn anrufen. Gib mir einfach noch mal seine Telefonnummer. Ich rufe ihn gleich morgen vom Büro aus an. Jetzt muss ich erst einmal nachdenken. Sei mir nicht bös, aber es ist wirklich besser, wenn ich jetzt gehe. Das muss gut geplant werden!“
„Liebe Steffi! Ich drücke dir – nein euch – die Daumen. Ich wünsche euch also viel Glück! Wenn du das Gefühl hast, er ist der richtige, dann musst du zugreifen. Für mich ist er ja einfach nur ein lieber Freund, mit dem ich gern rede. Zwischen uns ist nie was gelaufen!“
„Oh Barbara, danke für dein Verständnis! Ich bin völlig durcheinander. Damit hatte ich heute Abend wirklich nicht gerechnet.“
Steffi konnte in der Nacht kaum schlafen, aber am Morgen stand ihr Entschluss fest. Sie musste Christoph in München treffen, denn sonst würde sie sich ihr Leben lang den Vorwurf machen, dass sie vielleicht die Chance ihres Lebens verpasst hatte.
Christoph war am nächsten Morgen begeistert, dass sich Steffi sofort meldete. Und natürlich nahm er Urlaub für ein verlängertes Wochenende für den Trip nach München.
Elisabeth und Barbara waren ein Jahr später Trauzeugen bei der ausgelassenen Wiener Hochzeit.