Von Agnes Decker

Die Toilettenspülung. Endlich. Theresa steht auf, packt die Arbeitskleidung in die Plastiktüte und schlüpft in ihre Highheels. Die Hand auf der Klinke wartet sie, bis nebenan die Tür ins Schloss fällt. Wasser rauscht. Eine weitere Tür fällt zu.  Aufmerksam um sich schauend betritt Theresa den Vorraum. Sie ist alleine. Das Klackern ihrer Schuhe hallt von den gefliesten Wänden wieder. Im Spiegel kontrolliert sie ihr Werk. Zieht noch einmal die Lippen nach. Dunkelrot und feucht glänzend. Dann verlässt sie die Damentoilette. 

An den Wänden des Flurs, der von der Eingangshalle abgeht, hängen Werke zeitgenössischer Künstler, die einiges wert sind. Damit kennt sie sich aus, hat schließlich einige Semester an der Kunstakademie verbracht, bevor sie…  Ein unbestimmtes Gefühl lässt sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Als sie aufschaut, sieht sie einen Mann. Er steht am Ende des Ganges, breitschultrig, groß, mindestens 1,90m. Er wirkt attraktiv mit seinem scharf geschnittenen Gesicht, den dunklen Augen und dem großen Mund. Kleidung und Basecap, komplett in schwarz, geben ihm etwas Jugendliches, obwohl er vermutlich über vierzig ist. Komisch, dass er so spät kommt. Und, dass er durch den Nebeneingang… Irgendetwas an ihm… Da zwinkert er ihr zu und geht weiter.

Vielleicht sieht man sich später noch. Der Raum, in dem sich zuvor die Menschen vor dem üppigen Buffet drängten ist leer, und so kann Theresa unbesorgt die Plastiktüte mit der Arbeitskleidung unter den Tisch stellen, neben den Korb mit benutztem Geschirr und den Behälter mit Essensresten, die sie später zu den anderen in den Lieferwagen bringen wird.

Während sie ihr Kleid zurechtzupft, muss Theresa an ihre Oma denken, die bestimmt stolz auf sie wäre. „Wenn du einen gutsituierten Mann kennenlernen willst, solltest du Erster Klasse fahren.“ Das war eine ihrer Weisheiten und mit der hatte sie ebenso recht, wie mit so vielen anderen. Oma, ich habe es nicht vergessen. Gleich werde ich mal wieder Erster Klasse fahren. So etwas in der Art zumindest. Wenn du mich jetzt sehen würdest, Oma. In meinem engen schwarzen Kleid mit dem tiefen Ausschnitt und silbernen Schuhen bin ich von den Damen der Hautevolee nicht zu unterscheiden. Vielleicht schaust du ja gerade zu. Dabei wird ihr ganz warm ums Herz.

Theresa genießt noch ein wenig die Wärme, dann konzentriert sie sich wieder auf ihr Vorhaben. In einem unbeobachteten Moment verlässt sie den Raum und mischt sich unter die Menschen, die dicht beieinander stehen, Champagnergläser in den Händen haltend, der eine und die andere bereits ein wenig beschwipst, laut redend und gestikulierend. Ein buntes Völkchen. Regionale Künstler und Musiker, Promis aus TV und Politik. Genau die Mischung, die sie liebt. Da würde sich sicher etwas ergeben. Theresa spürt, wie bei dem Gedanken daran das Adrenalin durch ihren Körper jagt. Ein Stich vom Herzen bis in die Füße. 

„Ja, danke, sehr liebenswürdig“, sagt Theresa zu dem gut aussehenden, jungen Mann, der ihr ein Tablett hinhält. Mit dem Glas in der Hand bewegt sie sich durch die Menge,  ab und zu grüßend mit dem Kopf nickend. Obwohl sie niemanden hier persönlich kennt. Leider hatte man ihr keine näheren Infos über Gastgeber und Art der Veranstaltung gegeben, als man sie anrief, ob sie kurzfristig den Job übernehmen könne.  

 „Wo sind wir uns schon einmal begegnet, meine Schöne?“ Das ist die etwas schwankende Stimme des Moderators einer ihrer Lieblingssendungen. Er lächelt, als wären sie beste Freunde. 

„Bei Andre, letzten Samstag? Oder, nein, warten Sie, bei der Vernissage des jungen Künstlers, wie heißt er noch? Der mit den abgerissenen Körperteilen. Ich komme gleich drauf“, plappert Theresa los. Das Grinsen ihres Gegenübers wird zunehmend breiter. Anscheinend hat sie den richtigen Ton getroffen.

„Nein, nein, nein. Warten Sie. Ich weiß es. Werde doch eine so schöne Frau nicht vergessen.“ Der Moderator ist einen Schritt auf Theresa zugetreten und schaut ihr tief in die Augen. 

In dem Moment fällt der Schuss. Eine  Art um sich greifende Bewegung erfüllt plötzlich den Raum, als ob irgendwo ein Dominostein umgefallen wäre, der all die anderen mit sich reißt. Sie sieht Menschen laufen, hört Schreie und steht da, unbeweglich, als ginge das Ganze sie nichts an.

Jemand ergreift ihren Arm. „Wir müssen raus hier. Kommen Sie.“ Es ist der Moderator, der ihr gerade noch in die Augen geschaut hat.

„Los, kommen Sie endlich.“ Der Mann zieht sie hinter sich her. Theresas Beine sind weich und willenlos, aber sie bewegen sich wieder. 

Da fällt der zweite Schuss. Danach der dritte und vierte.  Laut hallen sie durch die leeren Flure, kommen näher, und mit ihnen die schweren Schritte. Tapp, tapp, tapp. 

„Wir müssen hier lang.“ Theresas Begleiter schaut sich um. Seine Augen sind klar, als wäre er schlagartig nüchtern geworden, wandern hin und her, scannen jeden Winkel. 

Willenlos folgt ihm Theresa in den Raum, den sie zuvor verlassen hat. Die Tische mit ihren weißen Decken sehen aus wie Bahren in einer Leichenhalle. Für uns, denkt sie. Für ihn, für mich und für all die anderen. Der Kerl im Flur, geht es Theresa durch den Kopf. Ob er? Die Schritte halten an. Hat er sie entdeckt? Legt er gerade sein Gewehr an? Ihre Hand in der ihres Begleiters zittert. Jetzt hört sie es wieder. Hört, wie er sich nähert. Tapp, tapp, tapp.

Mit einer gleitenden Bewegung verschwindet der Moderator unter dem Tisch und zieht Theresa hinterher. Wie gut, dass ich die Tischdecken von beiden Seiten bis auf den Boden gespannt habe. So bleiben wir hoffentlich verborgen. Der Schweiß läuft ihr über das Gesicht. Sie kann ihre eigene Angst riechen, scharf und stinkend. Ob er sie auch riecht, der Schütze? 

Theresa kauert sich neben ihren Begleiter, ganz nah, spürt die Wärme seines Körpers und die Hand, die er ihr auf den Mund legt. Lautlos versucht sie zu atmen. Schiebt die Hand weg. Der Geruch der Reste des Buffets, die sie zusammengekippt hat, Spinat, Fisch, Fleisch mit Soße, hüllt sie ein und überlagert ihren eigenen. Magensäure schießt ihr in einem Schwall in den Mund. Theresa schluckt. Bitte, lieber Gott… Da entfernen sich die Schritte wieder. Tapp, tapp, tapp, eine Tür fällt ins Schloss. Theresa lauscht in die Stille. Aber sie hört nur das Pochen in ihren Ohren.

„Komm, wir müssen weiter.“ Der Mann an ihrer Seite ist zum Du übergegangen. Macht sicher mehr Sinn in einer solchen Situation. Mehr Nähe als die gemeinsame im Angesicht des Todes, kann es wohl nicht geben. 

Theresa krabbelt unter dem Tisch hervor, zieht die Plastiktüte zu sich, steckt die Pumps hinein. Irgendwo da drin sind ihre Autoschlüssel und das Handy. Nach Hause, sie will nach Hause. Weg hier von dem ganzen Wahnsinn. Die armen Menschen. Das hat keiner verdient.

„Wir müssen die Polizei anrufen.“ Theresa flüstert. Der Mann schüttelt den Kopf und grinst. Warum grinst er? Während sie hinter ihm her schwankt, hört Theresa aus weiter Entfernung Schüsse und Schreie. Schritt für Schritt, wiederholt sie immer wieder. Die Füße leise aufsetzen, zuerst den Ballen, dann die Ferse, Bein nach vorne, nächster Fuß. Die Bilder nicht zulassen, die sich ihr aufdrängen. 

Ihr Begleiter hat eine Tür geöffnet- „Wir versuchen durch den Keller ins Parkhaus zu kommen“, zischt er in ihr Ohr und zerrt sie in ein dunkles Treppenhaus.  Im Lichtschein seines Handys eilen sie die steilen Stufen hinunter, bis sie einen weiteren Flur erreichen, von dem mehrere Stahltüren abgehen. Eine steht offen. Aus dem dahinterliegenden, hell erleuchteten Raum hört man Stimmen und Gelächter. 

Was gibt es denn hier zu lachen? Theresa spürt, wie Wut in ihr aufsteigt. Oben, über ihnen, sterben Menschen. Und hier unten wird gelacht.

„Jan“, sagt ihr Begleiter, „ich heiße Jan. Und du?“

„Theresa. Ich kenne dich aus den Nachrichten.“

„Hab ich mir schon gedacht.“ Das Grinsen ist breiter geworden, so dass sich ein Netz von Falten auf dem Gesicht ausbreitet. „Und, entspann dich. Du bist in Sicherheit.“ Er nimmt wieder ihre Hand, drückt sie leicht. Hand in Hand gehen sie in den Raum, aus dem das Stimmengewirr dringt.

Drei Männer sitzen an einem Tisch, der die gesamte Breite des Raumes einnimmt. An der Wand darüber befinden sich Monitore, die Räume zeigen, in die sich Menschen geflüchtet haben.

„Läuft gut. Noch ein paar Minuten. Dann brech ich ab“, sagt einer der Männer.

Jetzt dreht er sich um. „He, was wollt ihr denn hier? Ihr solltet oben bei den anderen sein?“ Auch die beiden anderen schauen Theresa und Jan an.

„Du bist ja schneeweiß. Komm, setz dich Mädchen.“ Einer der Männer schiebt Theresa einen Stuhl hin. „Manche erregt sie, die Nähe zur Gewalt, suchen sich einsame Plätzchen. Du weißt schon… Du gehörst anscheinend nicht dazu. Ich hoffe, wir haben es nicht übertrieben.“

„Übertrieben?“ Theresa schaut ihn an. „Was meinen Sie?“

Der Mann schmunzelt. Er drückt einen Knopf auf dem Schaltpult. „Liebe Partygäste, das Spiel ist vorbei“, spricht er in ein Mikrofon. „ Sie können die Türen entriegeln und weiter feiern. Ich hoffe, es hat Ihnen so viel Spaß gemacht wie uns. Immer wieder gerne. Ihr Eventteam von „Party und Spiele“ und, vielleicht bis bald.“ 

Auf den Monitoren sieht man, wie die Menschen lachen, die Gegenstände zur Seite schieben, mit denen sie die Türen verbarrikadiert hatten und sich in die Flure begeben. Vor den Toiletten bildet sich eine Schlange und im Festsaal erklingt swingige Musik, Kellner gehen herum, bieten frische Getränke an. 

Da fällt ein Schuss. 

„He, ihr könnt aufhören, Jungs.“ Der Mann am Mischpult spricht wieder in das Mikrofon.

„Alles klar, Mann“, erklingt eine Stimme aus dem Flur. Zwei junge Männer treten ein, beide in Kampfanzügen und mit Gewehren über den Schultern.

Ein weiterer Schuss. Die Männer schauen sich an. Die Menschen auf den Monitorbildern sind stehen geblieben und wirken überrascht.

 „Es war noch ein anderer Mann da, groß, ganz in schwarz gekleidet, ich habe ihn gesehen,“ stammelt Theresa. 

Sie hört, wie jemand: „Polizei? Sie müssen sofort kommen“, ruft.

 „Aber er hat mir doch zugezwinkert“, flüstert Theresa noch. Dann wird alles dunkel.

 

Version 2

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