Von Frederic J.R. Gassen

Zmmmm. Mein Finger springt von der Türklingel. Ich pflastere ein Rückstrahler-Lächeln auf, das selbst das Fernlicht eines Lasters in den Schatten stellt, für genau diesen Moment aus dem strammen blauen Stoff zwischen Hintertasche und Overall gezogen. Ein T-Rex mit rotem Becher öffnet die Tür, schaut prähistorisch aus dem ovalen Loch im Kostüm durch die Plastiklinsen meiner Tauchbrille. Ich könnte eher dem aufgeblasenen Rasierzahnmaul über ihm in die Augen schauen. 

»Ui.« pfeift er »Krasses Outfit! Jump-Man, oder?« »Ja, genau richtig.« Er schaut auf und ab an der Statue aus Mensch, die vor ihm steht. »Du bist neu in der Nachbarschaft, stimmt’s?« tanzt seine kratzig hohe Stimme in mein Ohr, »Ja, bin gerade hergezogen. Wohne unten am Berg.« »Sag mir nicht, du bist den ganzen Weg hier hochgelaufen.« »Oh ja, das war ein Klacks. Habe gehört hier gibt’s ’ne Party, wollte mal vorbeihuschen.« »Oh, ja, Jump-Man heißen wir immer willkommen.« 

Meine starken Beine heben mich mit Leichtigkeit über die Plastikschwelle. Laute 2000er-Hits oszillieren durch den Gang wie in einem Klangkörper, während neben schaukelnden Zahnbürsten, Katzen und Playmobilfiguren der T-Rex im summenden Tanzschritt fast seinen Becher verschüttet. Die matt-pinken Wände verändern ihre Farbe zum Takt, während wir uns durch ein euphorisches Gemüt vom Zoo bis zum Mars zwängen.

»Ich liebe diesen Song!« schreit ein Elefant über das Sägewellen-Solo hinweg. Ich kenne den Song auch. Jeder kennt ihn. In- und auswendig. Hab den schon auf meinen vielen anderen Partys gehört. Ich liebe ihn. Jeder liebt ihn. 

Wie aus dem Nichts halte ich den Atem an — aber ich bleibe lässig, so wie Macklemore seine Lines auf den Beat meines Pulses platziert. »Okay, die hier ist Gastgeberin.« Sagt der T-Rex im Vorbeigehen. Dann verschwindet schließlich auch das letzte Stück seines beschuppten Hinterns zwischen Elsa und Cinderella. Meine Augen wissen, was sie sehen. Meine Lymphknoten dröhnen »Evil-Girl, liege ich richtig?« »Gute Augen.« kommt mir entgegen. Sie ist fast echt. Das nennt man ein Kostüm. 

»Wow. Du siehst umwerfend aus.« sage ich. 

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Obwohl, nein

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»Wow. Dein Kostüm ist ja direkt aus dem Comic.« sage ich »Bist du auch wirklich so böse?« Ihr Lachen springt irgendwo zwischen den Lippen von Engel und Teufel hervor. »Springst du auch wirklich so hoch?« fragt sie. Ich antworte ihr mit einem aus meinen starken Oberschenkeln gezauberten Rückwärtssalto, die tief hängende Lampe um einem Zentimeter verschont. Makellos ausgeführt. 10 Punkte von der Jury. Sie nickt, drückt mir einen Becher in die Hand. Zieht meine elegant starken Schritte schnurstracks hinter ihr her. 

Ein Milieu aus farbexplosiven Mützen, Stoffen und Haaren à la Paintball-Match spaltet sich vor mir, in seiner Mitte ein sagenumwobener Tisch, weiß und breit in seiner plastischen Bauweise, bestückt mit Bechern in Clownsnasenrot. Der Inhalt der zwei gleichseitigen Dreiecke ist bereits zur Hälfte in den Schlund gesprungen. Es wird etwas stiller, als der T-Rex sich mit einem Tischtennisball auf einen Stuhl erhebt. Er wirft, trifft, jubelt, alle jubeln. 

 

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Eine Hand stampft auf meiner Schulter umher, bis meine Beine eigenwillig ihre Orientierung umkehren. Dann zerrt sie mich davon, durch ein arbiträres Tal zwischen den Kostümen, bereitet mir den Weg zur Küche, bis mein Schritt stoppt. »Willst du ein Bier?« Fragt sie. »Warum sollte ich keins wollen?« Antworte ich geschwind, während ich auf den weißen Hochhocker hüpfe — noch unwissend, wer mich entführte. Meine Fersen bequem auf der Querlatte, trinke ich einen ersten, saftigen, kühlen Schluck. 

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Nee

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Ich schütte das gesamte Bier in meinen Rachen. »Noch eins, Bitte.« Sage ich dann. Genau. Es schmeckt gut. Erwachsen. Kalt. 

»Ich mag dieses Bier« schlendert ihr über die Portweinlippen »Es ist cremig und hopfig. Hat eine trockene Note.« »Ich finde die leichte Schärfe ein wenig zu mild.« segelt es gewagt aus meinem Mund. Ihre Augen blinzeln mir so schnell zu, dass ihre Wimpern mir Orkanböen entgegenschicken. »Du hast Recht. Etwas mehr würde es vertragen.« Gibt sie unwillig zu. Ihr Gesicht wird zum Crossover aus Murder Mystery und Kim Possible.  

Dann passiert kurz gar nichts. 

»Du siehst cool aus.« Blubbert sie schließlich mit angesetztem Becher. Ein beträchtlicher Tropfen Bier rollt dabei ihren Hals herunter »Schön, mal so jemanden in der Nachbarschaft zu haben.« »Ich bin froh willkommen zu sein.« »Hab gehört du bist den ganzen Berg alleine hochgelaufen. Echt beindruckend. Alle anderen waren zu faul und sind hochgefahren.« »Danke, ich fühle mich geehrt.« »Hey, willst du vielleicht eine Mische?« »Immer gerne.« 

Einen Martini mit Sprite bestellt sie beim dritten Zwerg von den sieben Hügeln. Schickt mir das Glas im Steilpass, und ich mache damit einen Fallrückzieher auf die Zunge. Es schmeckt ganz anders als nur Sprite. Besser als nur Sprite. »Wow.« Spreche ich ungefragt aus. »So einen guten Drink hatte ich seit langem nicht mehr. Nein. Noch nie.« 

Auf einmal scheint es als hätten drei Marsmenschen ihre Invasion bei meinem Hocker gestartet. »Willst du auch eine Runde Bierpong spielen?« fragen sie trotz multipler nonverbaler Ablehnung auch gerne zwei drei Mal. »Na gut, ich mache einen Wurf. Mehr nicht.« 

Ich stampfe beide Beine auf den Boden, aber nicht bevor ich Evil-Girl einen Das-Musst-Du-Sehen-Blick sende. Ich gehe zum Tisch, türme mich davor auf wie eine Welle. Vor einem Publikum aus Jurassic Park und DC Comics wird sogar mir ein wenig mulmig. Dennoch. Ich mache einen Wurf. Mehr nicht. Natürlich treffe ich, denn nicht ohne Grund habe ich mehr Partys hinter mir als die anderen aus meiner Klasse. Die paläontologische Traumsammlung dröhnt auf wie eine Orgel. 

Jetzt wo meine Pflicht getan ist, verlasse ich das blutige Schlachtfeld. Meine Füße leiten mich zwischen dem Getose umher, Evil-Girl steht bereits dort, genau vor der pinken Treppe in den zweiten Stock. Aber ich bin betrunken, also gehe ich nicht gerade, sondern in Zick-Zack-Linien. Genau. Im Feldtest einer Wache würde ich durchfallen — Gut dass ich laufen kann. 

Sie geht die Treppe hoch, befielt mir zu folgen. Natürlich gehe ich ihr nach. Einen Schritt nach dem anderen, jede Stufe ein kleiner Sprung, leicht, auch mit einem doppelten Sichtfeld. Es ist wie Fliegen. Ich gleite einfach hoch. Ich muss nicht einmal nachdenken. Nur Treppe. Nur Stufen. Kein Aufzug. Bis ich oben stehe, wie auf dem Gipfel eines Gebirges, unbestiegen, unberührt, ungesehen. Nicht von mir, aber von allen anderen. 

»Willst du auf’s Dach?« fragt sie »Man hat dort eine unglaubliche Aussicht. Unglaublich, wirklich. Da kann man Stunden lang in die Ferne starren. Wenn dir da langweilig wird, dann bist du nicht mehr zu retten. Vielleicht kann man sogar die Milchstraße sehen. Komm mit!« »Das Dach? Bist du sicher? Ist das nicht gefährlich?« »Ich bin sicher. Komm jetzt endlich!«

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Wie es sich herausstellt schwor sie wie unter heimlichen Eid, denn mehr Recht hätte sie ja wohl kaum haben können. Einen solchen Ausblick kennt man nur aus den tiefsten Fantasien der fantastischsten Tiefen seiner Träumesträume. Fern erstreckt sich das weite Braun. Weit dahinter liegt eine weiße Samtkulisse, bedeckt mit einem Laken, befleckt mit einer Handvoll blitzender Neonsterne, die einen grausam zu Staunen foltern. Abgeschieden dahinter erstreckt sich ein Berg — ein Plateau mit weißen Feldern und pinken Streifen aus einer wellenden Wiese, ein Glanz aus grellem Hinterlicht, bis es schließlich von Schwärze umschlungen und weggezerrt wird, um in Ewigkeit dort zu schlummern. Und auf den plastischen Meisterwerken in Form von verschmolzenen Ziegelsteinen sitzen wir Beide — ein knappes Haar vor dem Tod durch Zwei-Stöcke-Abgrund. Doch meine Beine halten mich, baumeln in der Luft, direkt neben denen von einem Mädchen. Nein. Einer Welt an sich. Oder vielleicht doch einfach ein sehr hübsches Mädel. Es ist so normal, so normal soll es sein. Ein Mädel mit Charme und Kopf, sieht auch noch gut aus. Und das Kostüm ist wie aus der Werbung. 

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Genau.

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Ich schaue umher. Die Wolken erstrecken sich wie Querbalken über die triefende Wand namens Himmel. Dann küsst sie mich. Kurz und graziös. Warm. Ich denke ein wenig nass dazu. Wie Zahnpasta beim Zähneputzen. Oder Lippencreme. Wie ein Erdbeben. Es rüttelt der Boden. Einiges muss unten los sein, doch auf so einer coolen Party wird das wohl normal sein, denn hier geht es eben echt ab. Ich weiß es. Kenn es. Auch wenn plötzlich alles anders ist. Still wird. Ein dumpfes Rauschen huscht vorbei, verzieht sich wieder in seine dunkle Ecke. Das Ticken wird gnadenlos offensichtlich. 

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»Es ist schade, dass das alles nicht so ist.« geb ich zu. Schweige. 

»Ja« sagt sie »Es ist wirklich schade.« 

»Also ich fühle mich so.« 

»Aber wir sind nicht so.« 

»Ich bin hier, ich sitze hier auf dem Dach, ganz so, durch und durch so. Vielleicht hatten wir doch ein Bier zu viel.« »Nein. Es ist so, dass es nicht so ist. Wir sind nur jetzt hier. Nur jetzt in diesem Moment. Wir existieren nur bis es zu langweilig wird. Dann sind wir futsch.« 

»Ich meine, selbst wenn wir nur jetzt hier sind, wir sind auf einem coolen Ort, mit all den coolen Leuten auf der Welt — Was soll’s. Was soll’s dass es nicht so ist. Ist doch alles egal. Hauptsache wir denken wir sind hier. Jetzt. Und haben Spaß. Außerdem ist es ja alles andere als langweilig hier oben. Schau dir doch die Bilder am Himmel an — Die Sterne — Und die rosa Dachziegel — Die sind doch interessant. Interessant genug.« »Aber du bist gerade langweilig, hör auf langweilig zu sein.« 

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Ich halte an. Eine Sekunde vergeht, während meine Hände auf den Boden sinken. Mein Atem ist laut. Die Uhr lauter. Ich schaue vom Puppenhaus hoch. Die Tapete. Das braune Parkett. Die Neonsterne, die über dem weißen Bett an die Decke gekleistert wurden. Ich verkneife mir das seufzen. Mit 15 sollte ich das besser können. Also schwinge ich mich auf den Rollstuhl und verlasse das Zimmer. Ist ja nicht mal meins. 

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