Von Janine Böhl

So verlockend der Service der Deutschen Bahn auch war, ich fühlte mich nicht danach, die gestrandete Nacht in einem Motel zu verbringen. Stattdessen schleppte ich meinen Rucksack und meine Sporttasche durch ein stilles Offenburg. Knappe vier Stunden bis zum nächsten-ersten Zug, das sollte ich mit einem kleinen Abenteuer füllen können. Ich war müde, doch nicht schläfrig. Die potentiell fragwürdigen Abenteuer am Bahnhof hinter mir gelassen, war leider kein weiteres in Sicht.

Wie es der wunderbare Zufall des Universums wollte (Ich glaubte nicht an Zufälle, denn wie wir wissen, steckt hinter jedem Vorfall die Absicht eines Autoren), hörte ich dann doch Klänge, die meinen Vorstellungen eines Abenteuers entsprachen: Die Ahnung von tanzbarer Musik, Fetzen von menschlichen Stimmen, vermutlich jung, tendenziell ausgelassen. Meine Ohren witterten die Richtung, ich folgte, und dann stand ich vor einer Gartenhecke. Die Hecke ging mir nur bis zur Mitte der Oberschenkel, und so offenbarte sich mir das Bilderbuchbeispiel einer letzten Gartenparty der Saison, der Sorte, bei welcher Alkohol und Gras sicherlich eine Rolle spielten. Perfekt. Ohne ein Tor zu suchen, ließ ich meine Tasche auf der anderen Seite der Hecke auf den Boden plumpsen, und stieg ihr nach. 

“Hey!”, rief mir ein Kerl zu und kam näher. “Wo kommst du her?” Seine Schritte waren gerade noch bestimmt genug für eine solche Konfrontation.

“Die Zugausfälle schicken mich. Hatte keine Lust, bis nach Freiburg zu laufen.”

Sein misslungen skeptisches Gesicht sprang in ein natürlicher wirkendes Grinsen zurück. Immerhin folgte ich einer ähnlichen Mode wie er. Schulterlanges Haar, überlanges T-Shirt, ballonartige bunte Hose. 

“Du kannst deine Sachen auf der Terrasse ablegen, und dann komm, es gibt nicht nur in Freiburg gute Partys.”

Damit verschwand er, stellte sich zu zwei Mädels.

Nach ein paar ratlosen Momenten fand ich die Terrasse und ließ meinen Ballast auf kühlen Stein sinken.

Es war ein großer Garten, über den zwei riesige Pappeln wachten. Biertische gedeckt mit Bier- und Weinflaschen, um die junge Menschen im Uni-Alter standen (Etwas, das ich in Offenburg nicht erwartet hatte, aber entweder war die Realität interessanter als gedacht, oder aber meine Autorin war nur allzu faul mit ihrer Recherche – wie sollte das jemals eine glaubwürdige Geschichte werden?), und andere junge Menschen, die auf Decken und Kissen saßen, oder lagen, und irgendwas dazwischen. Die Musik war nicht schlecht, hypnotisch, experimentell. 

Unwillkürlich begannen sich meine Schultern zum Rhythmus zu bewegen. Der war in seiner Wechselhaftigkeit schwer lesbar, aber zog mich trotzdem hinein, als hätte er sein eigenes Gravitationsfeld. Meine Arme folgten, aber hier im Schatten des inaktiven Hauses fühlte es sich nicht befriedigend an. Ich setzte einen Schritt an, um zur Menge dazuzustoßen, als mir ein Mädel auffiel, das gegen die Wand gelehnt auf den kalten Fließen saß. Ihr Kopf war leicht nach vorn gebeugt. Ich ging vor ihr in die Hocke und sah ihr ins Gesicht. Dieses war merkwürdig leer, gar nicht so, als hätte sie zu viel getrunken oder gekifft. Eher so, als würde sie wachend schlafen. 

“Hey, ist alles in Ordnung?”, fragte ich laut.

Sie blinzelte, aber reagierte nicht weiter. Ich fasste sie an den Schultern. Ihre Arme hingen kraftlos herunter. Ich nahm ihren rechten Arm und hielt ihn hoch. Ohne weitere Umstände fiel er zurück neben ihre ausgestreckten Beine. Ich hielt mein Ohr an ihren Mund, um nach ihrem Atem zu lauschen. Schwach, aber da. Einigermaßen regelmäßig. 

“Ist da jemand?”, versuchte ich es erneut, und lauter. Diesmal nichtmal ein Blinzeln. Ich rüttelte sie an den Schultern. Dann kam wieder Spannung, Vibration in ihren Körper, Bewegung.

Ich bekam einen Kopfstoß und fiel hintenüber. Sie stand über mir und sagte: 

“Was ist denn mit dir? Wtf.”, ging an mir vorbei zu den anderen und nahm sich eine Flasche Bier. Ich schüttelte meinen Kopf. Verdammt, ich war doch nüchtern, und das war eine Seltenheit auf solch einer Veranstaltung. Ich hätte was nehmen sollen, sobald mir klar gewesen war, dass mein Zug nicht mehr kommen würde. Dann würde ich mich zumindest nicht wundern. Ich zuckte die Schultern und ging hinüber zu den Tanzenden, die junge Frau sorgfältig meidend. Das war nicht einfach, denn sie tanzte wild, und blieb nicht gerne an einem Fleck stehen. Ich wurde zunehmend unruhig und nahm mir ein Glas von irgendeiner unidentifizierbaren Mische. Ich konnte mich von ihr nicht so aus der Ruhe bringen lassen. Ich schloss die Augen und spürte nach der Musik. Das gerade noch als kühl durchgehende Getränk ging meine Kehle herunter. Der seltsame Rhythmus drang so langsam wie der Alkohol in meine Adern. Ich begann mich zu wiegen und fühlte mich wieder etwas mehr nach mir selbst. Wirklich gute Musik, ordentlich Bass und eine Melodie, die mich mal hierhin, mal dorthin zog.

“Das war echt nicht in Ordnung, wie du mich so gerüttelt hast. Ich kenn dich ja nichtmal.”, wurde ich aus meiner Trance gerissen. Das Mädel von vornhin. Ihre Augen blitzten und ihre Wangen glühten, ihr Haar klebte ihr an der Stirn und stand sonst in alle Richtungen ab.

In mir begann es auch zu glühen. “Du hättest dich mal sehen sollen, ich war besorgt! Keine Ahnung, was mit dir los war, hab geschaut, ob du überhaupt noch atmest! Aber ist cool, dir geht’s gut, also egal.”

Sie brummte, ihre Augenbrauen weiterhin gespannt, ihre Augen fixierten den Boden um mich herum. “Na gut. Was auch immer. Danke, schätz ich.”

Sie schlich sich davon. Ich sah sie nicht mehr tanzen. Aber hey, sie war nicht mehr meine Sorge, ich sollte tanzen, oder Leute kennenlernen. So viel Zeit bis zum nächsten Zug war nicht mehr, und ich wollte den schon nehmen, wollte noch eine gute Mütze Schlaf bekommen, bevor der nächste Tag so richtig begann. Ich fiel aus dem Abenteuer heraus, ganz langsam, und verstand nicht so ganz wie. Mein Kopf schaltete sich zu sehr ein, er nervte mich, am besten ich trank nochmal ein Glas. Ich schaffte es nicht wirklich, zurück in die Musik zu kommen oder mit jemandem mehr als ein Nicken auszutauschen, oder ein schwaches Lächeln. Verdammt! Zeit für eine Badpause, vielleicht würde mich das wieder zurück auf den Boden bringen. Ich fand den Kerl, der mich eingewiesen hatte, und fragte ihn, wo das Badezimmer war. Er schenkte mir ein Grinsen und führte mich ins Haus. “Wohnst du hier?”, fragte ich, als wir durch das halbdunkle Wohnzimmer schlurften. 

“Nee, ist das Haus von meinem besten Freund. Ich bin hier halb aufgewachsen.”

“Was für eine Party ist das?”

“Unsere alljährliche Sommerabschiedsparty. Man muss es schließlich auskosten, wenn man noch draußen feiern kann.”

Ich brummte zustimmend, und war froh, als er mir die Tür zum Bad zeigte, in dem das Licht schon oder noch brannte. 

“Kein Ding.”, antwortete er auf meinen Dank, und stapfte davon. Vermutlich zurück zu seinem Schwarm.

Ich beeilte mich plötzlich zu pinkeln. Ich hatte vergessen, den Klodeckel hochzuklappen und musste ihn abwischen. Dann erst dachte ich daran das Bad abzuschließen, und stütze mich auf das Waschbecken. Das Waschbecken hatte Flecken von Wimperntusche und anderem Zeugs. Ein Bierdeckel lag neben dem Wasserhahn. Ansonsten war es hell, warm und sauber. Ich hielt meine Hände unter warmes Wasser. Mein Herzschlag verlangsamte sich, ich fühlte meinen Atem wieder. Gut. Ich setzte mich kurz auf den Teppich. Schön weich. Komische Dinge passierten. Dann wachte ich auf. 

Ich war eingeschlafen, hatte geträumt. Für wie lang? Konnten unmöglich länger als fünf Minuten gewesen sein, sonst hätte mich jemand durch Klopfen und Rufen aufgeweckt. Ich stand auf, rieb meinen Nacken. Meine Koordination hatte das Level einer deutlich stärkeren Trunkenheit als ich vermutet hätte. Der Gang war heller als ich es in Erinnerung hatte. Es war still. Das Wohnzimmer war in graues Dämmerlicht getaucht, ich konnte das Sofa deutlich erkennen. Großes Ding, dunkelblau. Draußen dämmerte es ebenfalls. Der Garten wirkte leer außer den Überresten der Party. Ich trat auf die Terrasse, und nur das komische Mädel saß auf einem Stuhl inmitten der leeren Möbel und leeren Flaschen, und sah mit leerem Blick zum Haus. Es schüttelte mich, ich nahm mein Gepäck, das sich kalt und schwer anfühlte, und eilte so schnell es ging zurück zum Bahnhof. Auch im Zug beruhigte sich mein Puls nicht.