Von Moritz Scheidel

Mein Gehirn brummt. Wie der Motor eines Autos, das seit Jahren keine Werkstatt mehr gesehen hat.

Ich grinse, auch wenn ich unglücklich bin. 

Die Gedanken kreisen wie ein Karussell durch meinen Kopf, obwohl ich nicht denken möchte. 

Ich schweige laut, obwohl ich gerne schreien würde. 

Und dann zittere ich, obwohl mir überhaupt nicht kalt ist.

Bis ich weine, die Tränen fluten nach unten bis sie vertrocknen und sich zu einem Tattoo verbinden.  

Es ist Samstagabend, 1. September, und ich stehe vor dem Spiegel in meinem Zimmer, mal wieder. 

Alleine, weil keiner da ist. Wo beginnt die Einsamkeit, und wo beginnt der gefühlte Tod. Eine Frage ohne Fragezeichen, weil es sowieso keine Antwort darauf gibt.  

Ich schaue in den Spiegel, tief in meine Augen, bis sie mich fest packen. 

Eigentlich vermeide ich Augenkontakt. Einzig bei meinem widergespiegelten Zwilling springen meine Mundwinkel nach oben, mein Spiegel-Zwilling zieht nach. Jedoch habe ich das Lachen verlernt. Es schaut so traurig aus.

Seit drei Wochen habe ich mit keinem Menschen mehr gesprochen, meine Stimmbänder ähneln wohl einer verstaubten Schallplatte. 

„Du packst das“, flüstere ich mir mit eingerosteter Stimme zu. Ich betrachte mich erneut: schwarzes Hemd, Jeans, Turnschuhe, dazu diese kurzen blonden Haare, die sich an meine Stirn schmiegen. 

Ich komme mir wie eine Zigarettenpackung vor.  Ich sehe einigermaßen okay aus, glaube ich – doch im Inneren tummeln sich unzählige Klimmstängel, die sich als Gedanken verkleiden und mich krankmachen. 

Du Taugenichts.

Du Versager. 

Du Mörder.

Ich drangsaliere mich selbst. Nicht anderes habe ich verdient. 

Ich Taugenichts.

Ich Versager.

Ich Mörder.

Schläge. Unzählige. 

Zack, zack, zack. 

Eins, zwei, drei.

Ich wäre wohl ein guter Boxer geworden. Ein Sieger, der sich selbst Niederlagen zufügt, jubelnd und weinend zugleich. Denke ich mir. Und lache. Pure Schadenfreude. 

Ich schaue auf die Uhr. 

Noch fünf Minuten. Meine Nervosität steigt. Wie Lava in einem brodelnden Vulkan.

Ich laufe in meinem Zimmer auf und ab, langsam – und doch so schnell, dass sich die Luft von mir verabschiedet. Kann man in den Tod laufen? 

Lauf Junge, lauf!

Ich lache, ein dunkler Gedanke, der meine Stimmung erhellt. 

Ich will mein Zimmer verlassen, doch bleibe stehen, weil da meine Gedanken völlig hilflos auf dem Boden liegen. Mein Tagebuch. Es spricht nicht, und doch schreit es mich an, als ich es mit softer Härte aufhebe. 

Ich blättere mich durch meine Gedanken, zu meinem letzten Eintrag. 

„Ich lebe mein Leben nicht wie ein Lebender. Ich lebe mein Leben wie ein Lebender, der sich nach dem Leben danach sehnt.“

Schrecklich poetisch, denke ich mir. Mein Gehirn brummt erneut. 

– bis es an der Tür klingelt.

Mein Tagebuch fällt auf den Boden, so als wolle es sich verstecken. Ich würde ihm gerne folgen, doch bleibe stehen, entscheide mich zu laufen. Nur so kann ich dem Gestank meines Angstschweißes entkommen. 

Ich höre sie erneut lästern. Diese inneren Stimmen. Sie sind wie ein teuflischer Chor. „Zweifel an dir! Zweifel an dir!“, singen sie: „Du Versager. Du Taugenichts. Du Mörder!“ Bevor mich diese Teufelsbande zu Fall bringen könnte, öffne ich die Tür.

„Hallo!“ brüllt ein bärtiger Mann mir mit orkanartiger Windstufe ins Gesicht. Sensenmann bist du es? 

„Hallo!“ flüstere ich. Es klingt wohl eher wie ein „Tschüss!“

Mein Bruder hat mich für eine Blind-Party angemeldet. Keine Ahnung, was das sein soll. Er ist älter als ich, fünf Jahre, obwohl er mindestens zehn Jahre jünger ausschaut. Glück scheint wohl ein Lebenselixier zu sein. Er sagt, es täte mir gut, erlöse mich von meinem Leiden. Das machte mich sehr wütend. Er weiß genau, dass… 


Ich ersticke den Zorn im Keim und blicke nach vorne, nach oben, zu diesem turmhohen Bodyguard, der mich nun wohl zum großen Glück bringen soll. 

Ich greife in meine linke Brusttasche, ertaste das Eintrittsticket. Es ist schlicht zu dick, um daraus ein Papierflieger zu machen, denke ich mir. 

„Bereit?“, fragt der Mann. Dann nicke mein überzeugendes „Vielleicht“ jemals.

—–

Die Stille dämmert in meine Ohren, erneute Schläge, tief in mein Gehirn bohrend. Zack, zack, zack. Blaue Flecken, Hämatome. 

Es ist laut, zu laut, viel zu laut. Eine donnernde Stille. Ohrenbetäubend. 

Und es ist dunkel. 

Ich rieche den Duft von Anspannung, Lungen, die ein und ausatmen. 6000 Sekunden bin ich nun hier, zehn Minuten. Ich zähle mit. Eine unerträgliche Ewigkeit. 

 „Bereit für heute Abend?“, fragt mich eine tiefe Stimme. Sie könnte von Darth Vader sein. Ich bin irritiert. Orientierungslos. 

Ich überlege, ignoriere die Frage, entscheide mich dann doch anders, murmle  „keine Ahnung“, stotternd. 

Nervosität macht mich besoffen, so besoffen. 

„Ich bin NICHT bereit!“, ruft eine andere Stimme flüsternd in den mit Dunkelheit überschwemmten Raum. Es schallt nach. Ich nicht. Ich nicht.  Mein Lebensmantra.

„Was wird uns erwarten?“, frage ich mich selbst, und dann gut einstudiert die anderen. „Hast du die Einladung nicht gelesen?“, fragt die männliche Stimme. Ich schüttele den Kopf, was keiner sehen kann.  

Ich verliere mich in meinen Gedanken. Meine Gedanken sind wie Albträume – wie eine Art Schlafparalyse, die mich mit festem Griff gefangen hält.

Was wird passieren? Ich will nach Hause, nach Hause, Panik attackiert mich, ich flüchte, atme schwer, laut, lauter, Dunkelheit macht sich breit vor meinen Augen – und verdrängt die Dunkelheit davor, die dagegen wie ein Sonnenschein schien.  

Eine Glocke ertönt. Eine Stimme folgt. Roboterhaft. Als wäre ich an irgendeinem Bahnhof in Deutschland. Ich nehme nur Bruchstücke wahr, zersprungen wie Glasscherben. 

„Hallo!“

„Erste Mission: tanzt mit einer Person – doch redet nicht!“

Ich erwache. 

Ich und Tanzen. Ausrufezeichen. Viele Fragezeichen schwirren in meinem Kopf. Es ist eine Formel, die noch nie aufging. 

Okay, einmal – als…

Eine Hand unterbricht mich, ertappt meine Schulter, sie wartet fordernd. Es muss eine Frau sein, denke ich mir. Oder vielleicht doch ein Mann? 

Ich drehe mich zu der Hand, sie riecht nach Lavendel. Mein Lieblingsduft. Archivierte Erinnerungen. Wenn nur alle Eindringlinge nach Lavendel riechen würden, denke ich mir. 

Die Musik ertönt. Eine deutsche Stimme singt sich durch die Boxmuscheln. Sie ist rau, der Text sanft. 

„Geboren, um zu leben…“

„Mit den Wundern jeder Zeit!“
„Geboren, um zu leben.“

Ich kenne den Song nicht, es lässt sich schwer darauf tanzen. Wellenbewegungen könnten passen, denke ich mir, und surfe durch die Luft. Beschützt von der Dunkelheit, die mich wie eine warme Decke umgibt. Ich murmele mich ein. Tanzend.

Ich habe mich lange nicht mehr so lebendig gefühlt. Ich atme, atme nach Luft, nach Leben, nach diesen umherschwirrenden Glücksgefühlen. Endorphine sind wie Glühwürmchen. 

Die Musik stoppt abrupt, das Gefühl hält an. Wolke sieben – hier, irgendwo in der Pfalz, diesem erstickenden Fleck, der zwar einengt und doch gemütlich ist. 

„Nimmt euren Partner oder Partnerin nun an beiden Händen!“, empfiehlt die Bahnhofsstimme:

„Atmet ein. Atmet aus!“

„Umarmt euch nun.“

„Und sagt dann: Danke, dass es dich gibt!“ 

Stakkatoartig folge ich. Halte die Hände. Atme ein. Atme aus. Umarme. 

Ehe ich ein „Danke, dass es dich gibt!“ hinterherhechle. 

Ich warte ungeduldig auf eine Antwort, höre erst ein nervöses, stotterndes Atmen – bis diese eine, ihre Stimme sich an mein Ohr schmust: „Danke, dass…“

Ich erstarre wie ein Eisberg – denn auf einmal ist es so unerträglich warm hier. 

„Amelie!“

—–

Seit wann kann dir ein Dankeschön so über das Gesicht streichelnd eine Ohrfeige verpassen? 

Ich weiche zurück. Obwohl ich so gerne stehen bliebe. Ich sollte nicht weglaufen. Denke ich mir. Doch bevor ich mich erbreche, renne ich. 

Noch nie bin ich in einer solch dunklen Dunkelheit gerannt, die sich wie eine Wand aufbaut. Ich pralle gegen knochige Körper. Sie versperren mir wie Slalomstangen und mahnende Zeigefinger den Weg. Beschwerend. Ich stolpere, auch wenn ich gerne hinfallen würde, um von ihr aufgefangen zu werden. Dieser nach Lavendel duftenden Hand.

Doch nur noch wenige Schritte. Warum jetzt aufhören?  

Vier, drei, zwei, eins. 

Ich stürme heraus. Mit mir diese so bekannten Tränen.  Heute sind es mal gute Tränen, glaube ich. Doch warum laufe ich dann davon? Ich bleibe stehen, setze mich auf den Boden… 

– ehe sie aufreißen: diese Narben, diese Verletzungen. 

„19-Jährige stürzt bei einem Skiunfall.“

„Sie und ihr Freund waren zusammen im Urlaub, als das Unglück geschah.“

„Endet die große Liebe in einem Drama?“

„19-jährige Amelie muss ins Koma verlegt werden!“

„Überlebenschancen sehr gering…“

„Max“, sagt die Stimme. Sie wiederholt ihn lauter: „Max!“ Sie ist es, denke ich schreiend. Ich schaue nach oben, zu ihr. Amelie. Oh Gott, Amelie! Und dann starre ich es an, bis ich es wirklich erkenne – dieses so engelsgleiche Gesicht, in das ich mich vor zehn Jahren verliebt habe. 

Sie weint, wasserfallartig, als müsste sie all das nachholen! Schmecken Freudentränen süß? 

Ich stehe auf, denke nicht nach. Ich folge meinem Herzen, das noch immer mit ihrem verbunden ist. Wie zwei Magneten. Ich nehme sie in den Arm. Zart und doch fest. 

„Entschuldigung!“ Sage ich.

„Warum?“. Fragt sie. 

„Weil ich dich sterben ließ!“ Eine Antwort wie aus der Pistole geschossen.

Sie blickt mir in die Augen. So wie damals, als alles begann. Sie streichelt meine Narben, die sie mir ungewollt zufügte, als sie mich verließ. Ich dachte, es wäre für immer.

Kann man sich zweimal in dieselbe Person verlieben? Ich komme ihr näher, schließe die Augen, ich spüre ihren Atmen und ertaste ihre Lippen; sie schmecken nostalgisch. Nach Zitronenschorle. 

„Du hast mich gerettet“. Sagt sie. Ich nicke. „So wie du mich!“  

—–

Ich stehe vor dem Spiegel. Bevor ich unser Schlafzimmer verlasse, greife ich zum Tagebuch, das es sich auf dem Nachttisch gemütlich gemacht hat. Letzter Eintrag:

„Zwei Liebende sind von den Toden auferstanden!“

Nun lächle ich. Weil ich glücklich bin.

——

*P.S. Nach 50 Jahren Ehe verstarb Max mit 91 Jahren friedlich in seinem Bett. Seine geliebte Frau Amelie folgte ihm einen Tag später.