Von Lauretta Hickman

Ada trat aus dem Lift und ging zu Appartement 535. Davor legte sie ihre Sporttasche ab, öffnete sie und begann, sich umzuziehen. Wenn die Caterer und Veranstalter ihre Privatsachen ebenfalls dort haben, sollte ich vielleicht ein Schild dran machen? Ada Czech, Walking Act. Wenn ich die Tasche gleich verstaue im, wie sagte er? Mini-Ersatzgästebad, erste Türe rechts.
Okay, Hosenträger saßen. Jetzt noch die engen Ringelstrümpfe. Ada war froh, dass außer ihr gerade niemand im Flur war. Da hörte sie die Aufzugtüre.

 

Karim Hamdi stoppte das Bringmobil vor dem Eingang und machte den Warnblinker an. „Almans! Glaubse nisch – vierzig Pizzen“, grantete er halblaut und öffnete den Kofferraum. „‘Nimmse Karre’, meint Omar. Sacht denen noch so: ‚Aber heiß sind die dann nicht mehr. Auch, wenn wir hier acht Öfen haben.‘ Wollen die das trotzdem.“
Kopfschüttelnd sah Karim auf den bekritzelten Zettel: Ostsiegallee 224, Apt 535, East West Biz Rotating Dinner. Dann lud er die Pizzakartons auf die Karre, das Kartenzahlgerät obendrauf und schob sich damit in die offene Eingangshalle des großen Gebäudes. Drei Aufzüge, einer offen. „Nehmsch den.“ Er drückte auf die 5.

 

Von Ferne sah Ina einen Mann ziemlich viele Pizzen auf eine Lastenkarre laden.
Wahrscheinlich werden diese Kurzmiete-Luxuslofts an Samstagabenden nur für Festivitäten gebucht. So wie heute.
Prompt brach ihr der Schweiß aus. Sie merkte, wie sie die Schritte verlangsamte und ihr Körper umdrehen wollte.
Nein, bitte, das ist wichtig für uns, redete sie ihm zu. Überzeugen wir den Investor, dann haben wir bald eine funktionierende Dating-App für Introverts. Passives Einkommen, von zuhause aus arbeiten!
Ihr Körper ließ sich aber nicht betrügen: Fluchtimpuls war Fluchtimpuls, hier und jetzt. Und doch folgte er, wie ein treuer Hund ihrer vernünftigen, beruhigenden Erwachsenenstimme und dimmte für sie die Panik vor Menschenmengen, wider den Instinkt.
Hoffentlich lassen sie mich zu ihm ohne Ticket für das Dinner. Das ist ja noch das nächste Problem.
Egal. Wer nicht fragt, hat Nein als Antwort bereits akzeptiert. Also, los!
In der leeren Halle holte sie einen Lift und machte ihre Atemübung.

 

Jost Hube stand im Vorraum, der sich als rechteckiger Flur um das gesamte Appartement zog. Im Herzstück, dem riesigen Salon hinter ihm, befanden sich, schmeichelnd beleuchtet und mit neoklassischer Musik dezent beschallt, achtzig Menschen am Ende des zweiten Gangs. Und in größtenteils angeregter Unterhaltung mit ihren aktuellen Tischnachbarn.

Bis jetzt läuft es, dachte er.

So achtsam wie möglich legte er seine Hand auf die in gelbe Tuche gewandete, zarte Schulter des Mannes neben ihm. Alterslos wirkend und körperlich viel kleiner als er, strahlte dieser friedlich und heiter eine natürliche Autorität aus, die so greifbar war wie sein vogelgleich leichter Körper. Nach dieser Rotation würde er ihn vorstellen, mit viel Stolz: „Wir konnten Hun Dao Yan dazu bewegen, heute Abend zu uns zu sprechen. Er, der in jungen Jahren Broker an der Wall Street, später an der Börse in Hong-Kong war und sich dann dem geistigen Weg zuwandte, wird uns vom Tao im Trading erzählen. Und vom Hunger der Seele, den auch die dritte Million nicht stillt. Ich bitte um…“ So etwa.

 

Eine kalkweiß geschminkte Frau mit halbnackten, eingeknickten Beinen, über die sie gerade enge Streifenstrümpfe zu ziehen versuchte, starrte ihn an, als er mit seiner Karre näher kam. „Dass 535?“, fragte Karim. Die Frau war ihm nicht geheuer. Außer ihnen war niemand im Flur. War das nicht ein Business-Dinner? Und da geht man in so ein Aufzug? Almans…
Die Frau nickte und lehnte sich an die Wand, um nicht umzufallen.
Karim läutete.

 

Jost fuhr kurz zusammen. Dann fiel ihm ein, das musste die Clownsfrau sein, der Walking Act, den er für die zweite Hälfte des Abends gebucht hatte. Er öffnete die Türe und blickte auf eine Karre mit reichlich Pizzakartons.

„Dass hier Ost West Rotating Dinner?“, fragte der Mann dahinter mit offensichtlich nicht allzu bester Laune.

„Ehm, ja?“, antwortete Jost. „Aber ich habe keine Pizza bestellt.“

„Denksch doch!“, sagte der Mann ungehalten.

In diesem Moment sah ein Clownsgesicht um die Ecke.
Jost begriff: Das war bereits Teil der Performance! Er lachte.
„Guter Start“, meinte er zu Ada. „Die Pizzen bringen wir aber wohl eher nicht unter.“

 

Als Ina aus dem Lift trat, sah sie den Pizzakarrenmann, der soeben aufgebracht in eine geöffnete Türe rief: „Alta! Willst du mich verarschen?“

Ein weiblicher Clown neben ihm sprach gleichzeitig in die Türöffnung: „Ich habe mit ihm nichts zu tun. Kann ich wie besprochen im Minibad meine Sachen abstellen, bevor ich loslege?“

Ina war dieses Mal deutlich stärker versucht, wieder um- und in ihre Höhle zurückzukehren.

 

In dem Moment erklang aus dem Salon hinter Jost der Ton für „drei Minuten noch“.
Er hasste das „Läuft aus dem Ruder“-Gefühl, das sich gerade in ihm breitmachte. Hun Dao Yan trat zur Seite, weg von seiner Hand. Dies veranlasste Jost, zu den beiden zu sagen: „Also, Moment, ich hole den Caterer. Er kann das vielleicht aufklären. Kommen Sie beide herein. Das Gästebad ist dort, Frau Czech.“

 

Ina sah die beiden ins Appartement treten, die Geräusche sagten ihr, dass die Türe noch offen war. Als sie mit klopfendem Herzen näher schlich, sah sie neben der Türe die Nummer 535. Okay. Hinein in meine Höhle des Löwen! Sie trat ein und stand direkt hinter dem bulligen Pizzaboten.
Rechts von ihr entfernte sich die Clownsfrau den Gang hinunter. Dann tauchten zwei Männer auf. Einer in gehoben legerem Businesslook, der andere in Kochkleidung.

„So, das ist unser Caterer“, sagte der Businessman. „Er erklärte mir gerade, dass es in der Küche einen Kurzschluss gegeben habe und daher der Hauptgang nicht fertig gestellt werden konnte. Deshalb hat er die Pizzen bestellt. In der Küche geht wohl zwar wieder alles, aber… wie dem auch sei, ich bezahle. Wie viel bekommen Sie?“ Als der Bote das Kartengerät in die Hand nahm, sah der Businessman Ina an und fragte: „Und wer sind Sie, bitte?“

Inas Herz tat einen mörderischen Sprung, dann brachte sie hervor: „Ich muss unbedingt mit Mr. Tengku aus Malaysia sprechen, dem Mentor für digitale Start-ups. Ich weiß, er ist heute hier“.

Die Stirne des Mannes bewölkte sich. Er setzte zu einer Äußerung an, da erklang hinter ihm ein lauter Gong.

„Sechshundertvirzsch“, kam vom Pizzaboten.

Der Businessman wandte sich aber einem zierlichen Mönch neben ihm zu.
„Es ist soweit. Darf ich bitten?“, und geleitete den kleinen Mann in den großen Raum.

Der Caterer sagte zum Boten: „Das regelt sich gleich, keine Sorge. Moment noch.“ Und schloss die Türe zum Hausflur.

 

Jost stand auf der „Bühne“ und beendete seine schon fast zärtlich zu nennende Ankündigung mit: „Und nun bitte einen kräftigen Applaus für Hun Dao Yan.“

Das einsetzende Klatschen wurde von einem gewaltigem Krachen aus dem Eingangsbereich übertönt, sowie Geräuschen von splitterndem Holz. Gefolgt von einer lauten Männerstimme: „Polizei! Keiner verlässt den Raum. Dies ist ein Antiterroreinsatz.“

In der jäh entstehenden, heftigen Unruhe hatte Jost nur einen Gedanken: Bring den Mönch in Sicherheit! Er flüsterte ihm ins Ohr: “Gästebad“, schob ihn geschickt Richtung Flur, vorbei an den martialisch gekleideten, hereinströmenden Männern. Und trat entschlossen dem augenscheinlichen Einsatzleiter entgegen: „Was soll das? Jost Hube, ich bin der Gastgeber hier. Sie ruinieren gerade ein Ereignis von globaler wirtschaftlicher Bedeutung!“

„Ich sags ja nur ungern, aber wir verhüten hier gerade einen Terrorakt von globaler Bedeutung. UMNO, malaysische Mafia. Cyberattacke.“

 

Ada stand halbgebückt über ihrer Tasche, als sie plötzlich einen Höllenlärm vernahm. Fast im gleichen Moment rammte sie jemand von hinten und warf sie um.
Der Pizzamann. Wieder!
Mit fünf Pizzen unter dem Arm und Kartenzahlgerät in der Hand über Ada fallend, keuchte er mit weit aufgerissenen Augen: „Bissu irre!“

Als nächstes schlüpfte eine totenbleiche, ätherisch wirkende Blondine um die dreißig herein.

„Mach zu, eyh! Mach zu. Wallah, die machen Krieg da!“, rief der Pizzamann.

Die Blondine schloss die Türe.
Dann ging das Licht aus.
Von draußen war eine Menge Lärm zu hören: Geschrei, Gerenne, Schüsse.

Die Türe öffnete sich erneut. „Besetzt!“ schrie der Pizzamann. „Mann, eyh, riegelt doch Türe. Schnell!“

Ada kroch auf allen Vieren zur Türe und verriegelte sie. Sie tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn auch, aber es ließ sich kein Licht machen.
„Stromausfall“, sagte sie in die Dunkelheit.

„Alter“, ächzte der Pizzamann.

Draußen nahmen Lärm und Chaos zu.
Um sie hier drin wurde es seltsam still.

„Hätte ich nur auf meinen Körper gehört.“ Die zittrige Stimme einer Frau, hörbar den Tränen nahe. „Was bin ich auch so ehrgeizig?“

Ada fand den Weg zu ihr und legte ihren Arm um sie.

Unverständlicherweise blieben sie in den folgenden Stunden ungestört. Als wären sie unsichtbar. Das Chaos schien etwas abzuebben, es kamen aber nach wie vor beunruhigende Geräusche von außen. Ihre Mobiltelefone funktionierten nicht. Keinen von ihnen zog es vor die Türe.

Als sie begannen, die Pizzen miteinander zu teilen und dazu Wasser aus dem Hahn tranken, unterhielt Karim sie in bestem Hochdeutsch mit lustigen Anekdoten aus dem Luxuspizzabotenalltag. Und er sprach von seinem Traum: einem eigenen tunesischen Restaurant.

Ada erzählte von berührenden und belastenden Begegnungen in ihrer Tätigkeit als Klinikclown für schwerstkranke Kinder.

Und Ina offenbarte, wie froh sie sei, endlich einen Namen zu haben für das, was bisher ihr Defizit schien: Introvertiert. Sie war gar nicht sozialphobisch. Oder einsam. Nur gerne alleine. Mit Wesentlichem beschäftigt, ohne Ablenkung. Und lieber mit wenigen, speziellen Menschen zusammen. So kam ihr die Idee mit der App, die es ihr ermöglichen würde, ihren bevorzugten Lebensstil zu pflegen und gleichzeitig etwas für „ihrereins“ zu tun.

Mit der einsetzenden Morgendämmerung wurde es draußen still und innen hell.

Ein erster Sonnenstrahl fiel in die Ecke rechts der Türe.
Wo der Mönch saß – selig lächelnd, in tiefer Versenkung.

 

10.000 Z V2