Von Franck Sezelli

 

Missmutig schlenderte Lukas in herrlichem Sonnenschein die Avenida Argentina in Palma entlang. Seine Gedanken waren bei Vanessa, die ihn vor Kurzem verlassen hatte. Obwohl der Urlaub auf Mallorca als gemeinsamer geplant war, hatte Lukas ihn nicht storniert. Nun war er schon ein paar Tage hier, ohne sich zu etwas Nennenswertem aufgerafft zu haben. Aber heute nach der Siesta hatte er sich endlich entschlossen, das vom Hotel nicht weit entfernte Viertel Santa Catalina zu erkunden.

KAELUM stand da in großen Lettern über einer vergitterten Eingangstür, darüber wehten weiße Fahnen mit dem gleichen Schriftzug. Irgendwo hatte er gelesen, dass der „Kaelum Club“ ein bei Touristen wie Einheimischen beliebter Nachtclub sei. Nach solchen Lokalitäten wie am Ballermann stand ihm sowieso nicht der Sinn. Der hier schien kleiner und solider, lag abseits der Menschenmassen. Vielleicht wäre das eine mögliche Abwechslung für mich, dachte Lukas und kehrte deshalb nach dem Abendessen hierher zurück.

 

Wie lange er nun schon mit einer Flasche Estrella Damm in der Hand die Tanzfläche beobachtete, konnte er nicht sagen. Allein zu tanzen war nicht so sein Ding. So ein Club  ist ja eigentlich gut geeignet, jemanden kennenzulernen, ganz locker und unverbindlich. Lukas aber wusste, dass er nicht so der Aufreißertyp ist. Also ließ er sich das Bier schmecken und wippte im Rhythmus der Hits, die der DJ auflegte, mit dem Fuß.

Die Kleine dort, die schon mehrfach zu ihm geblickt hatte, könnte ihm gefallen. Schwarze Haare, dunkle Augen, die ihn immer mal anblitzten, das scharfe Outfit – das Mädchen, etwa in seinem Alter, war schon eine Augenweide. War das Zufall, dass er ihre Blicke auffing, oder gefiel er ihr gar?

Bevor er anfing zu überlegen, ob es an ihm war, irgendwie Initiative zu zeigen, holte er sich lieber otra cerveza. Als er wieder an der Säule stand, war die süße Kleine von der Tanzfläche verschwunden. Er suchte mit den Augen die wogende Menge der Tanzenden ab und konnte sie nirgends entdecken. Mit der Flasche in der Hand umrundete er langsam die Fläche, dabei aufmerksam nach rechts und links schauend, auch zu den Gästen an den Tischen ringsum, und immer darauf bedacht, mit niemandem in der Menschenmenge zusammenzustoßen. Aber die Suche blieb vergeblich. Na, dann sollte es eben nicht sein, sagte er sich und war seltsamerweise auch ein bisschen erleichtert. Wie gesagt, er war nicht so der Aufreißertyp.

Neugierig durchstreifte Lukas danach die anderen Räumlichkeiten des Clubs. In einem engen Gang, der offenbar in einen Innenhof führte, waren links einige Türen zu sehen. Lukas vermutete Lagerräume oder auch Zimmer für kleinere Feiern. Plötzlich hörte er Schreie, die aber schnell erstickt wurden. Es klang wie eine weibliche Stimme in höchster Not. Lukas eilte zu der Tür, hinter der er die Geräusche vermutete und lauschte angestrengt. Da hörte er, zwar unterdrückt, aber doch deutlich: »Nein! Nein! Ihr Schweine! Hiiilfe, Hiiilfe …!«

Mit einem Ruck riss Lukas die Tür auf und erfasste mit einem Blick die Situation. Auf einer Matratze mitten im Raum lag eine Frau. Oberhalb des Kopfes kniete ein junger Mann auf ihren Armen und hielt ihr den Mund zu. Ein anderer Mann lag auf der Frau, deren Kleid hochgeschoben war und fummelte zwischen ihren Beinen. Ohne zu überlegen, schoss Lukas nach vorn und hieb dem Knienden seine Faust mitten ins Gesicht. Durch seine Hand fuhr ein stechender Schmerz, gleichzeitig vernahm er ein hässliches Knacken, Blut spritzte aus der Nase des Angegriffenen. Der taumelte zurück, wodurch die Arme der Festgehaltenen freikamen. Sie schmiss gemeinsam mit Lukas den Bedränger von ihrem Körper. Offenbar war die Rettung noch rechtzeitig gekommen. Lukas schrie den vom Opfer heruntergerissenen jungen Mann, dem sein Ding aus der offenen Hose hing, an: »Ihr elenden Schweine! Verfluchte Dreckskerle, macht, dass ihr verschwindet!« Dabei versetzte er ihm in seiner Wut noch einen Tritt in die Seite. Auch wenn die einheimischen jungen Männer kein Deutsch konnten, verstanden sie sehr wohl, was Lukas wollte, und flüchteten.

Jetzt erst wurde er sich dessen bewusst, was gerade geschehen war. Er war ja nun wirklich kein Schläger, aber hier hatten seine Empörung und Adrenalin ihn das Richtige tun lassen. Seine Fingerknöchel schmerzten gewaltig und wurden dick, das spielte jetzt aber keine Rolle. Er wandte sich der jungen Frau zu, die sich gerade das Kleid wieder zurechtzog und ihn aus tränennassen Augen anstarrte. Da erkannte er sie! Es war das Mädchen, das ihm auf der Tanzfläche aufgefallen war. »Und? Wie geht es dir? Kann ich etwas für dich tun?«

»Du bist mein Retter! Die Schweine …« Sie brach in Schluchzen aus. »Danke, danke danke!« Dann fiel sie ihm um den Hals.

»Wollen wir die Polizei rufen?«, fragte er die Überfallene.

»Nein, das lassen wir lieber. Mir ist zum Glück nichts weiter passiert – wegen deinem Eingreifen. Außer hier an den Armen wird es wohl blaue Flecken geben.«

»Aber das sind Verbrecher! Die musst du anzeigen!«

»Lieber nicht! Da steht doch dann Aussage gegen Aussage. Womöglich zeigen die dich noch an wegen schwerer Körperverletzung. Mit der spanischen Polizei ist nicht zu spaßen. Die haben auf Mallorca sowieso immer Probleme mit ausländischen Touristen und glauben dann vielleicht eher den Leuten, die ihre Sprache sprechen.«

Das Mädchen schaute ihrem Retter in die Augen und fragte: »Wo kommst du eigentlich plötzlich her? Du bist mir vorhin beim Tanzen schon aufgefallen. Lass mich jetzt bitte nicht allein! Ich möchte nach Hause gehen, das heißt, in mein Ferienquartier.«

»Klar, ich begleite dich.«

Auf dem Weg zum Ferienappartement schauten die beiden sich immer mal um, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand folgte. Die Angst vor einer Rache der Gewalttäter konnten sie nicht einfach abschütteln. Dort angekommen, hatten sie sich viel zu erzählen. Es stellte sich heraus, dass sie einiges gemeinsam hatten. So studierten beide in Halle und waren seit Kurzem wieder solo.

»Ich wundere mich über mich selbst«, sagte Lukas, »ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie richtig geprügelt und heute habe ich so zugeschlagen.«

»Wenn du nicht gewesen wärst, ich mag gar nicht daran denken. Zeig mir mal deine Knöchel, die sind ja ganz blau.«

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Lukas.

»Sarah«, antwortete sie, und er nannte auch seinen Namen.

Sarah holte einen nassen Lappen, um Lukas‘ Faust zu kühlen und seine Schmerzen zu lindern. Dann lud sie ihn zu einem Glas Wein ein. Sie bat ihn, die Nacht bei ihr zu bleiben. »Ich habe jetzt Angst allein. Du kannst hier auf dem Sofa schlafen – oder ich räume mein Bett für dich und schlafe selbst hier.«

Lukas hatte volles Verständnis für das Mädchen, das Schreckliches durchgemacht hatte, und ging gern auf den Vorschlag ein.

 

Beide schliefen ziemlich unruhig in der Nacht, kein Wunder nach dem aufregenden Erlebnis am Abend. Am frühen Morgen rief Sarah leise aus dem Schlafzimmer: »Lukas, bist du auch wach? Kannst du zu mir kommen und mich mal in den Arm nehmen?«

Das tat Lukas sehr gern und schlüpfte zu Sarah ins Bett. Die Umarmung tat ihnen beiden gut. Schnell entwickelte sich mehr und sie fanden großen Gefallen aneinander. In inniger Umarmung schlief das Paar schließlich ermattet und glücklich ein.

Gegen Mittag erwachten sie und fanden sich sogleich wieder in einem innigen und langen Kuss. Atemholend strich Sarah über Lukas etwas stachlige Wangen und sagte zu ihm mit leuchtenden Augen: »Weißt du, schon gestern, als du an der Tanzfläche gestanden hast, habe ich das gedacht. Irgendwie ähnelst du meinem Paps. Jedenfalls gefällst du mir.«

»Du gehörst wohl auch zu den Mädchen, deren Partner wie ihr Vater sein soll? Das soll es ja häufig geben. Weißt du, worüber ich besonders glücklich bin? Dass du nach dem schrecklichen Erlebnis gestern überhaupt noch etwas mit Männern zu tun haben willst.«

 »Aber wieso denn? Die Männer sind doch nicht alle wie diese Kerle. Und du bist sowieso etwas ganz anderes. Am liebsten würde ich dich nie mehr hergeben.«

 

Sie blieben – vielleicht nicht nur aus Furcht vor Verfolgung – in den folgenden knapp zwei Wochen fast immer in Sarahs Appartement. Sie langweilten sich dort aber überhaupt nicht, lernten sich dafür umso besser kennen.

 

Ihre Liebesbeziehung hielt auch dem Studienalltag in Halle während der folgenden Monate stand. Sie wurde immer fester und intensiver. Trotz ihrer beengten Studentenzimmer waren sie fast ständig zusammen. Ihr eigentliches Zuhause, Sarah bei den Eltern in Magdeburg und Lukas bei seiner Mutter in Leipzig, besuchten sie nur noch selten.  

 

Es war im Januar, als Sarah ihren Lukas von der Vorlesung abholte. »Komm mit, ich habe eine Überraschung.« Ohne auf der Fahrt dahin mehr zu verraten, führte sie ihn zu einem Hochhaus in Halle-Neustadt. Dort zeigte sie ihm eine Wohnung im siebenten Stock, zwei kleine Zimmer, eine Küchenzeile, ein Bad. »Möchtest du hier mit mir gemeinsam wohnen? Bitte sag ja! Noch heute Nachmittag könnten wir den Mietvertrag unterschreiben …«

Lukas war sprachlos. Die Wohnung gefiel ihm, sie war auch bezahlbar. Ans Zusammenziehen hatte er überhaupt noch nicht gedacht. Aber natürlich wollte er mit Sarah zusammenbleiben. Das war wirklich eine gute Idee, fand er.  »Wie bist du nur auf diese Idee gekommen? Und das heimlich?«

»Wieso, mein Schnuckelchen? Das ist doch klar! Ich möchte doch mit meinem Schatz immer zusammen sein.«

»Ich möchte auch immer mit dir zusammen sein, immer und ewig! Natürlich ziehen wir hierher.« Er nahm Sarah in die Arme und küsste und drückte sie voller Liebe.

 

V3: 9491 Zeichen