Von Anne-Christine Charigault

Freitag, 22.23 Uhr und die Nachbarn machen wie jeden Monat Radau. Ich habe versucht mit Elfriede zu besprechen, was wir jetzt tun, aber sie hat kein Verständnis für meine Verärgerung – und noch weniger Interesse daran, etwas dagegen zu tun. In diesem Moment blättert sie lieber durch eine Rosamunde-Pilcher-Geschichte: ein junger Lord in England sucht nach einer wohlhabenden Ehefrau.

 

Grummelnd laufe ich zur Terrassentür, schiebe den Spitzenvorhang zur Seite und öffne sie, um nachzuschauen, ob der Lärm wirklich aus dem Nachbarhaus stammt. Meine braunen Cordpuschen vibrieren auf den Platten, sobald ich sie betrete und ein paar Stimmen dringen durch die Buchsbaumhecke in mein Ohr: Mindestens fünf verschiedene Tonlagen, in denen Menschen – nennen wir es mal singen.

 

Ich drehe mich zurück in die Wohnstube und schließe die Terrassentür hinter mir. Durch die Puschen spüre ich den Bass jetzt auch hier. Der Puls in meinem Hals steigt und passt sich der rhythmischen Vibration meiner Füße an. Es reicht.

 

„Elfriede“, rufe ich in Richtung Schlafzimmer, „ich geh’ jetzt mal rüber. Kommst du mit?“

„Nein!“ donnert es sofort zurück. Einen Versuch war es wert. Erst als ich meinen karierten Morgenmantel vom Kleiderhaken greifen will, fällt mir auf, dass meine Fäuste geballt sind. Ich strecke meine Finger aus und lass sie kurz knacken. Nur der heiße Puls im Nacken lässt sich nicht so leicht abschütteln.

 

Über den Gehweg vor meinem Haus schlappe ich dem Gartentor entgegen, es knarrt und lässt mich genauso widerwillig passieren wie Elfriede. Im Vorgarten der Pohlmanns angekommen, kann ich den Bass jetzt richtig spüren und nehme jetzt deutlicher Rockmusik mit schiefem Geträller wahr. Ich trete auf die bereits plattgestampften Brennesseln vor der Haustür, klingel mit der rechten Hand und klopfe gleichzeitig mit der linken so laut ich kann. Fast 45 Sekunden dauert es, bis ein Mann  mit Perlenohrring und schwarzem Nasenring mich erstaunt begrüßt und von oben bis unten mustert, bevor sein Blick an meinen Hausschuhen hängen bleibt.

 

„Rüdiger, richtig? Wollen Sie zu Fred?“ lallt er mir freudig entgegen.

„Allerdings, junger Mann,“ erwiderte ich, noch immer verärgert aber zugleich verdutzt.

„Ja, kommen Sie doch rein!“

Woher er meinen Namen kannte, war mir ein Rätsel.

 

Meine Hände in den Taschen des Mantels vergraben, laufe ich in Richtung Wohnzimmer, wo der junge Fred Pohlmann auf seinem abgenudelten Ledersessel sitzt und vor einer Gruppe Menschen in Rockkostümen stolz Anekdoten vergangener Partys preisgibt. Ich ignoriere die Fremden, bäume mich vor Fred auf und greife mit der rechten Hand nach seinem Kragen, bevor ich ihn bis vor seine Haustür zerre.

 

Seine schon benebelten Rehaugen blicken unter dem Nachthimmel zu mir auf, dann beginnt Fred: „Rüdiger, ich weiß, dass…“

„Gar nichts weißt du, Bürschschen“, unterbreche ich ihn und grabbele nach den kleinen Glasflaschen in meiner Morgenmanteltasche. „Kleiner Feigling, das beschreibt dich doch ganz gut, oder? Nicht mal bei uns gemeldet hast du dich.“

„Rüdiger, es tut mir…“

„Ja ja, spar dir deine Ausflüchte.“

Ich öffne unsere beiden Likörflaschen und proste ihm mit genervtem Blick entgegen. „Nicht lang schnacken…“

„Lass es knacken!“ vollendet Rüdiger unseren Spruch und schweigend stehen wir uns gegenüber. Ein kleines Grinsen entweicht mir jetzt doch. Der Bursche sah mich so wehmütig an. 

„Rüdiger, ich wollte bei dir klopfen, wirklich. Aber du weißt doch wie es ist, wenn du auftauchst.“  „Schämst du dich etwa, mich zu deinen Studentenpartys einzuladen?“ frage ich und kann ein kleines Zittern in der Stimme nicht unterdrücken.

„Quatsch, ich mag dich doch gerne – aber sobald du da bist, interessiert sich niemand mehr für mich oder meine Party. Alle wollen nur noch die Rüdiger-Show sehen.“

Ich runzele die Stirn. „Unsinn. So ein alter Knacker wie ich kann doch deine Feier gar nicht – äh – grätschen?“

„Crashen. Klar kannst du das, meine besten Party-Anekdoten sind deine Einlage beim Nachbarschaftsfest und bei unserer Familienfete. Ich beweise es dir, komm mit“.

 

Ich lasse die Kleiner-Feigling-Flaschen zurück in die Morgenmanteltasche fallen und ihr Klirren begleitet uns zurück ins Wohnzimmer. Dort sind seine zusammengewürfelten Stühle, der Sessel und der Kaffeetisch schon beiseite geräumt, um eine Bühne für mich zu schaffen. Wer diese Menschen eigentlich sind, weiß ich immer noch nicht. Sie scheinen mich aber zu kennen.

 

Mein Puls steigt wieder an, diesmal pocht er vor Aufregung in der Brust. „Fred, wenn ich das jetzt tu, musst du aber mitmachen. Elfriede wollte nicht mitkommen.“ Dann schaltet ein rothaariges Mädchen, das uns beide erwartungsvoll anlächelt, auch schon die Musik an und die berühmten Worte, die mir seit Jahrzehnten Gänsehaut verleihen, hallen aus der Anlage: Now I’ve had the time of my life.

 

Nach zwei Takten frage ich mich, ob es eine gute Idee war, die Hebefigur mit dem betrunkenen Fred vorführen zu wollen, da fangen die Gäste an, begeistert in Richtung Wohnzimmerfenster zu johlen. Eine resignierte Elfriede mit einem Teller voll aufgeschnittener Wassermelone in den Händen schreitet draußen in Richtung Haustür.

 

Zum dritten Mal an diesem Abend steigt mein Puls. Mit Elfriede fühle ich mich selbst immer wie 21. Sie ist die wirkliche Partygrätscherin.