Von Bora Buonder
Tatsächlich hätte ich nicht erwartet, dass dieser Morgen mein Leben verändern würde. Die Nacht war wie immer. Ich schlief so um die acht Stunden und erwachte vor dem Wecker, obschon ich gestern ein beängstigendes Erlebnis beim Joggen im Wald erlebte: Ein Gewitter zog auf und der Blitz streifte mich um Haaresbreite. Ich spürte ein seltsames Kribbeln am ganzen Körper und hörte das Zischen. Ein unangenehmer Brandgeruch erreichte meine Nase, der von den verbrannten Härchen am Unterarm stammte. „Da habe ich ja nochmal Glück gehabt!“, ging es mir durch den Kopf.
Der Kaffee schmeckt bitter und brennt auf der Zunge. Ich spucke ihn aus und fülle mir stattdessen ein Glas kaltes Wasser. Heute scheint alles anders zu sein. Die Schuhe passen nicht so richtig. Sie drücken an den Füssen. Die Kleider kratzen am Körper wie eine alte Militär-Wolldecke. Mir ist nicht wohl und ich beschliesse, den Chef anzurufen um mich krank zu melden. Im Geschäft ist im Moment sowieso nicht viel los. Das Stimmengewirr am Telefon macht mir zu schaffen. „Wo bist du?“, frage ich den Chef. „Zu Hause. Wieso?“ Die Antwort erstaunt mich. Ich hätte erwartet, dass er in einem Restaurant sitzt, wo sich viele Leute unterhalten. Nach dem Gespräch lege ich auf und stelle mich, mit dem Glas Wasser in der Hand, vor das Fenster. Die Nachbarin geht mit dem Zwergpudel Gassi. Ich schaue, wie sie vorbeigeht und höre ihre Stimme klar und deutlich: „Der kann mir mal. Das lasse ich mir nicht länger bieten. Die Welt geht den Bach runter und was kümmert es mich?“ Habe ich grad ihre Gedanken gehört? Von der anderen Strassenseite kommt die kleine Lea gerannt. „Ich muss mich beeilen, sonst schimpft Frau Rütter.“, höre ich. Nun bin ich vollends verwirrt und mir dämmert langsam, dass der nahe Blitz gestern etwas in mir verändert hat. Um mich abzulenken, schalte ich das TV-Gerät an.
„…sind auf der Flucht. Als das Regime bekannt gab, mit dem Westen abzurechnen, traten der Aussenminister und der Justizminister mit sofortiger Wirkung zurück. Sie wurden noch im Parlamentsgebäude erschossen. Der Präsident liess verlauten, dass er keine Kritik und keine gegnerischen Aktivitäten dulden werde. Die ersten Raketen wurden, gemäss Angaben der NATO, in Stellung gebracht. Anhand der Position der Atomraketen lässt sich vermuten, dass der Präsident die ganze westliche Welt unter Beschuss nehmen wird. Laut inoffiziellen Berichten soll der Angriff in vier Stunden erfolgen…“
Fassungslos schaue ich die Reportage an und überlege fieberhaft, wohin ich in vier Stunden flüchten könnte. Es gibt in dieser kurzen Zeit keinen erreichbaren Zufluchtsort, ausser vielleicht einen Luftschutzkeller. Draussen höre ich Lärm. Die Menschen strömen aus ihren Häusern, beladen mit Gepäck. Sie eilen mit Kindern, Hunden und Katzen zu ihren Autos und fahren los. Andere rennen in Richtung Bahnhof. Ich blicke dem Nachbar nach, der unter mir wohnt und denke: „Bleib hier. Das hat keinen Sinn.“ Sofort bleibt er stehen und schaut sich um, als würde er jemanden suchen. Ich öffne das Fenster und winke ihm zu. Er rennt zu mir und ruft: „Hast du die Nachrichten gehört? Sie wollen uns umbringen!“ Ich lehne mich an den Fenstersims und lasse ihn näher kommen. „Komm, wir suchen einen Luftschutzkeller. Vielleicht sind das ja nur Drohgebärden.“, insistiere ich. „Typisch Frau.“, höre ich ihn denken. „Keinen Bezug zur Realität.“ Er sagt: „Die meinen es ernst! Mit diesem Fanatiker ist nicht zu spassen. Fliehe, solange du noch Zeit hast!“ „Ich suche mir lieber ein sicheres Versteck. In vier Stunden komme ich nicht aus dem Land heraus.“, antworte ich und denke: „Mach dir nicht in die Hosen. Das Leben ist unberechenbar.“ „Ganz schön frech.“, antwortet der Nachbar und will sich gerade abwenden. „Was habe ich gesagt?“, rufe ich ihm nach. „Dass ich mir nicht in die Hosen machen soll.“, gibt er beleidigt zur Antwort.
Ich lasse mich aufs Sofa sinken und überlege: wenn ich die Gedanken der Anderen wahrnehmen kann und sie meine Gedanken hören; könnte ich vielleicht den Präsidenten von Atomaria beeinflussen? Ich setze mich vor das Fernsehgerät und suche alle Sender durch, bis ich in den Nachrichten von CNBC den Präsidenten finde. Ich konzentriere mich, schliesse die Augen und versuche mit ihm gedanklich Kontakt aufzunehmen. Nichts geschieht. Die Distanz muss zu gross sein oder es war keine Live-Aufnahme. Am Computer checke ich, ob ich nach Atomaria fliegen könnte. Doch alle Flüge dorthin sind gestrichen. Ich rufe den Flughafen an. Nach einer Wartezeit von fünfzehn Minuten werde ich endlich verbunden. Ich schildere mein Anliegen und setze alle telepathischen Fähigkeiten ein. „Es tut mir leid, alle Flüge dorthin wurden gestrichen.“ „Aber ich muss dorthin. Ich kann die Welt retten!“ Ohne eine Verabschiedung legt die Stimme am anderen Ende auf. „Sch…!“, denke ich.
Auf dem kleinen Privatflugplatz herrscht hektisches Treiben. Wer ein eigenes Flugzeug hat, versucht möglichst schnell zu starten und ausser Landes zu kommen. Ich laufe zum Hauptgebäude. „Kann mich jemand nach Atomaria fliegen?“, rufe ich verzweifelt. „Sind Sie wahnsinnig? Die lassen in drei Stunden alles in die Luft fliegen.“ „Ich kann ihn aufhalten! Ich kann seine Gedanken steuern!“, denke ich nur. Der Pilot schaut mich entgeistert an. Ich höre wie er denkt: „Das ist zwar Wahnsinn, aber sie scheint das tatsächlich zu können.“ Laut sagt er: „Sie sind wohl so etwas wie die letzte Hoffnung der Welt? Kommen Sie!“
Wir landen auf einem Feld, kurz vor der Hauptstadt. Der Flug hat fast zwei Stunden gedauert. Es bleibt nicht mehr viel Zeit um den Präsidenten ausfindig zu machen. Hastig laufen wir auf die Autokolonne zu, die sich aus der Stadt wälzt. Ein einziges Auto kommt aus der entgegengesetzten Richtung. Der Pilot stellt sich mitten auf die Strasse und fuchtelt mit den Armen. Als der Wagen hält, gehe ich schnell zum Fahrerfenster und sage: „Wir müssen zum Präsidenten! Schnell!“ Doch der Fahrer wehrt ab und will nichts verstanden haben. Kurz entschlossen, steige ich auf der Rückbank ein und der Pilot setzt sich neben den Fahrer. Ich versuche ihm meine Gedanken mitzuteilen. Da er nur in seiner Sprache denkt, sende ich ihm Bilder. Langsam versteht er, was wir von ihm wollen. Ich höre seine Gedanken in seiner Sprache. „Mist. Wie soll ich mit dem Präsidenten Kontakt aufnehmen? Ich verstehe kein Wort.“ Nachdenklich schaut mich der Pilot an. „Ich spreche fliessend Englisch und ein bisschen atomisch. Vielleicht kannst du einfach meine Gedanken nachsprechen?“ Ich nicke: „Lass es uns ausprobieren.“ Als ich versuche ein paar atomische Worte zu sprechen, wird der Autofahrer plötzlich sehr lebhaft. Der Pilot übersetzt: „Der Präsident nimmt die Militärparade vor dem Regierungsgebäude ab. In einer halben Stunde werden wir das einzige Land auf der Welt sein. Kein Hunger mehr. Keine Knechtschaft mehr. Sie wollen sicher um Asyl bitten? Manchmal ist der Präsident sehr wohlwollend. Wenn Sie ihm Ihr Flugzeug schenken, hat er sicher ein mildes Herz…“ So geht das während der ganzen Fahrt. Der Mann redet so viel, dass mir ganz schwindlig wird. Plötzlich hält er den Wagen an und lässt verlauten: „Nun müssen sie zu Fuss gehen. Ich will nicht mit Ausländern gesehen werden.“ Der Pilot streckt ihm ein paar Geldscheine hin und verabschiedet sich.
Wir steigen aus dem Wagen und rennen Richtung Stadtzentrum. Hinter einem grossen Baum verstecken wir uns und sehen der Parade zu. Im Hintergrund stehen an die hundert Geschütze. „Hilf mir auf den Baum.“, flüstere ich. Der Pilot hievt mich zum untersten Ast und ich klettere weiter hoch, bis ich den Präsidenten sehe. Er steht im offenen Dach des schwarzen Mercedes und winkt den Soldaten und der Bevölkerung zu. Ich versuche krampfhaft in seinen Kopf zu dringen. Nichts tut sich. Er winkt wie versteinert weiter. Plötzlich merke ich, wie sich ein hoher Offizier umsieht. Er wirkt verunsichert. Ich schaue ihn von weitem an und denke, dass er den Präsidenten umbringen könnte. Langsam legt der Offizier das Gewehr an und schiesst auf den Präsidenten. Sofort werden Salven von den Scharfschützen auf den Dächern auf den Offizier geschossen. „Am besten bringen sie sich gegenseitig um.“, rufe ich zum Piloten, der den Satz auf Atomisch übersetzt. Ich versuche ihn nachzusprechen. Ein unglaubliches Chaos entsteht. Schüsse, Schreie, Menschen rennen durcheinander. Der Präsident sackt blutüberströmt ins Auto. Keine Rakete wird gezündet. Das Unheil ist abgewendet. Vielleicht.