Von Ursula Kollasch

In Hoppegarten bei Berlin lebte die 78-jährige Lisbeth Langenhahn in einer gemütlichen, aber etwas in die Jahre gekommenen Etagenwohnung. Sie sah mit dem grauen Pagenkopf und dem Bohnenstangen-Körper in praktischer Kleidung aus wie die typische Grundschullehrerin, die sie bis zur Pensionierung gewesen war.  Für ihre Tatkraft und ihren scharfen Verstand bekannt, wandten sich viele Bekannte und Nachbarn, die ein Problem oder Sorgen hatten, um Rat an sie.

Zu früh Witwe geworden hatte sie keine Kinder. Ihre große Liebe Uwe war Polizist gewesen, aber nach nur zwei glücklichen Ehejahren im Dienst ums Leben gekommen und Lisbeth hatte sich nie wieder in jemanden verliebt oder gebunden.
Uwes Tod hatte ihr das Herz gebrochen und die Kinderlosigkeit ihr zuerst sehr zugesetzt.
Bis sie all ihre Fürsorge und Aufmerksamkeit auf die Generationen von Schulkindern richtete, die sie mit liebevoller Strenge führte und zumeist erfolgreich auf den Weg brachte.
Lisbeth war zufrieden mit ihrem Leben.
Die Tage verbrachte sie mit der Hege ihrer Pflanzen, mit Kriminalromanen, Besuchen von Uwes Grab und der Pferderennbahn.

Doch die Jahre und ihr einziges Laster, das Rauchen, hatten Spuren hinterlassen.
Ihr Atem ging rasselnd, sie musste oft husten.
Fehlsichtigkeit machte das Lesen zur Herausforderung.
Rheuma plagte die Gelenke, die Muskeln schwächelten.
Bald würde sie statt des Gehstocks einen Rollator benötigen.
Ihr Wohnhaus verfügte über keinen Fahrstuhl, aber Lisbeth war von jeher eine Frau gewesen, die Hilfe anbot, jedoch nicht gut annehmen konnte.
Ein Umzug ins Altenheim kam nicht in Frage. Lieber quälte sie sich täglich die Treppen in den zweiten Stock hinab und hinauf.
„Los, altes Mädchen, das schaffste schon!“, murmelte sie, wenn sie die Stufen erklomm und wegen der Schmerzen mit grimmiger Miene die Zähne zusammenbiss.

Eines Nachts im September, als ein gewaltiges Gewitter über Hoppegarten zog, geschah etwas Außergewöhnliches. Blitze zuckten über den Himmel, der Donner grollte wie ein wütender Drache.
Lisbeth lag im Bett und hörte dem tosenden Sturm zu. Das Prasseln des Wolkenbruchs und das Rauschen der Baumkronen brandeten durch das gekippte Fenster, brachten die Vorhänge in Bewegung. Da schoss ohne Vorwarnung ein greller Blitz herein und tauchte den Raum in gleißendes Licht.
Für Sekunden war Lisbeth unfähig zu atmen, sie riss die Augen auf und krallte die Finger ins Laken. Zeitgleich durchfuhr Hitze ihren Körper, sie glühte innerlich, als würden die Organe in Flammen aufgehen und Lava durch die Adern rauschen, dann wurde alles schwarz um sie.

Als Lisbeth am nächsten Morgen erwachte, erhob sie sich ohne die gewohnte Morgensteifheit aus dem Bett. Verwundert betrachtete sie ihre Hände, keine Schmerzen peinigten mehr die Glieder. Ihre Augen, zuvor abhängig von einer Brille mit dicken Gläsern, konnten mit einem Mal die kleinsten Details im Zimmer erkennen.
Kein Räuspern, kein Husten, leicht floss der Atem durch die Lunge.
Sie hüpfte auf und ab, besaß so viel Kraft wie in ihren besten Jahren.
Dann erinnerte sie sich an den Blitz im Schlafzimmer.
„Hu, dass ich zäher, alter Rochen das überlebt hab‘!“
In der Küche erhitzte sie Wasser, um sich erst einmal einen Tee zuzubereiten.
Aber Lisbeth sollte keine Zeit mehr haben, über das widerfahrene Wunder nachzudenken, denn in diesem Moment hörte sie von allen Seiten die Stimmen ihrer Nachbarn erregt durcheinander sprechen. Jedoch nicht wie sonst, als Murmeln durch die Wand, sondern so laut und deutlich, als stünden die Leute neben ihr in der Küche.
Lisbeth lauschte mit offenem Mund, worüber sie diskutierten, es brachte sie dazu, den Fernseher einzuschalten.
„Ruhe!“, dachte sie, weil die Nachbarn das Gerät übertönten. Und seltsamerweise herrschte sofort Stille.
Die Nachrichten waren dramatisch: Spannungen zwischen Nationen, eine abgefeuerte Langstreckenrakete, militärische Aufmärsche, die drohende Gefahr eines dritten Weltkriegs!
Die Worte „Atomwaffen“ und „Vernichtung“ hallten in ihrem Kopf wider.
Mit klopfendem Herzen atmete Lisbeth durch. Sie resümierte, dass sie nicht nur über neu gewonnene jugendliche Stärke verfügte, die Stimmen und Gedanken der Menschen im Haus und auf der Straße hören konnte, sondern auch in der Lage war, mental mit ihrer Umgebung zu kommunizieren und auf sie einzuwirken.
Sie spürte einen Energieschub, der jegliche Nervosität dämpfte und sie mit Kraft und unerschütterlichem Selbstvertrauen erfüllte.
„Das ist Vorsehung, mein Schicksal, das mir bestimmt ist“, dachte sie. „Ich muss eingreifen!“
Der Countdown lief, laut Nachrichtensprecher waren nur noch vier Stunden Zeit für Gespräche und Verhandlungen der Präsidenten, um das Fürchterlichste abzuwenden, was dem Planeten und der Menschheit passieren konnte.
Rasch kleidete sich Lisbeth an und rief ein Taxi. Während sie durch die Hauptstadt fuhr, nahm sie wahr, wie sehr die Menschen um sie herum in Panik waren. Die Nachrichten hatten sich wie ein Lauffeuer verbreitet, verleitete die Massen zu Hamsterkäufen.
Sie spürte die Angst, Aggression und Verzweiflung in der Luft, vernahm unzählige Gedankenfetzen und Äußerungen der Leute.
Voller Besorgnis musterte sie die aus Berlin Flüchtenden, die vollgepackten Autos, die hupend im Stau standen. Sie hielten ihr Taxi auf. Daher bezahlte sie den Fahrer, stieg aus und hastete zu Fuß weiter.

Vor dem Regierungsgebäude hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Die Medien filmten, einige Berliner Politiker, von Polizei abgeschirmt, sprachen hitzig in Mikrofone, während die Demonstranten schrien und protestierten.
Lisbeth drängelte sich zum Eingang. Als erster Ansprechpartner war ihr Kai eingefallen.
Vor vierzig Jahren war er ihr Schüler gewesen. Der damals schmächtige Junge hatte in schwierigen Verhältnissen gelebt und unter Legasthenie sowie Stottern gelitten.
Aber auch ihn hatte sie mit Güte und resoluter Strenge gefördert.
Und Kai hatte es von all ihren Schülern mit am weitesten gebracht: Heute war er Bürgermeister von Berlin. Was Lisbeth ihm von Herzen gönnte, aber jetzt gerade vor allem inbrünstig hoffen ließ, dass er sie und ihr Zutun zu seiner Karriere nicht vergessen hatte. 
Sie trat vor die Wachmänner und sagte mit fester Stimme: „Richten Sie dem Bürgermeister bitte aus, dass Frau Langenhahn aus Hoppegarten ihn sprechen muss, sofort! Es geht um Leben und Tod!“
Die Männer schauten sie nur kurz misstrauisch an, denn Lisbeth wirkte auf ihr Denken ein, sodass man sie zum Bürgermeister führte. Der war überrascht über ihr Auftauchen, aber auch ihn überzeugte sie ohne Mühe mit ihrer mentalen Kraft.
Kai tätigte diverse Anrufe und die nötigen Kontakte in Form einer großen Videokonferenz wurden hergestellt. 

Was im Folgenden geschah, war unfassbar.
Lisbeth ließ ihre Gedanken in die Köpfe der weltweit verantwortlichen Politiker strömen.
Sie zeigte ihnen die Konsequenzen möglicher Fehlentscheidungen, die Katastrophe, die sie verursachen würden.
Sie projizierte die Bilder von brennenden Städten, Gewalt, der zerstörten Umwelt direkt in ihre Gehirne. Von Millionen Leichen, weinenden Kindern und dem Elend auf der ganzen Welt.
Lisbeth zitterte, die gleichzeitige mentale Einflussnahme auf die Entscheidungsträger, die ihr auf den Bildschirmen gegenübersaßen, strengte sie furchtbar an, zeigte aber selbst bei den Hartgesottenen Wirkung. Die zuvor grimmig-entschlossenen und streitenden Politiker und Militärs zögerten.
„Alle Menschen haben die gleichen Hoffnungen, Wünsche, Ängste und Sorgen! Wir müssen zusammenarbeiten, nicht gegeneinander kämpfen!“, setzte sie nach und zeigte nun die Bilder der Hoffnung. „Denkt an die Zukunft unserer Kinder!“
Mit jedem Wort, das sie sprach, durch die weiteren positiven Szenarien, die sie in die vielen Köpfe pflanzte, schwanden ihre Kräfte. Doch sie wusste, dass sie alles riskieren musste, um die Welt zu retten.
Schließlich, kurz vor Ende der gesetzten Frist, waren alle Politiker überzeugt, dass der Frieden wichtiger war als Macht und Einfluss.
Und als die Verhandlungen endlich zu einem positiven Ergebnis führten, überkam Lisbeth eine Welle der Erschöpfung.
Mit einem Mal atmete sie flach und fühlte sich so schwach und zerbrechlich wie ein Vogelküken, das aus dem Nest gefallen war.
„Das war unglaublich!“, rief Kai. „Wie haben Sie das nur gemacht?“
Er stützte sie, als sie erbleichte und schwankte. „Frau Langenhahn, was ist mit Ihnen?“
Lisbeth sank in seine Arme und er legte sie sanft auf den Boden, rief dann um Hilfe, ehe er ihren Kopf auf seinen Schoß bettete.
„Halten Sie durch, der Krankenwagen kommt!“
Der ehemalige Schüler schaute sie mit derart traurigen braunen Augen an, dass sie ihm wie früher über die Wange strich.
„Ich bin sehr stolz auf dich“, wisperte sie, schloss die Augen und hörte ihn leise schluchzen, doch das war nicht mehr von Belang. Die Realität um sie herum verschwamm, ihr wurde kalt.
In ihren letzten Momenten sah sie Uwe. Lächelnd breitete er die Arme aus, das nahm ihr die Angst vor dem Tod und sie lächelte zurück.
Wieder mit ihm zusammen zu sein war ihr Trost, genau wie die Zukunft, die sie für die Menschheit gesichert hatte.

Die Nachricht von Lisbeth Langenhahns heldenhafter Tat verbreitete sich nicht nur unter Insidern.
Ursprünglich hatte die Regierung ihre unglaubliche Gabe, ihren Einsatz für den Frieden aus Erklärungsnot und politischen Gründen geheim halten wollen. Erfolglos.
Nicht nur Freunde, Bekannte und Schüler erinnerten sich bei Gedenkfeiern an die alte Dame, die mit Mut und Entschlossenheit gegen die Dunkelheit gekämpft hatte.
Weit über Hoppegarten und Berlin hinaus wurde sie, die nie aufgab, zur Legende, und ihre selbstlose Hingabe zum Vermächtnis.
Lisbeth war nicht nur eine Heldin; sie war ein Symbol für den unerschütterlichen Glauben an das Gute in der Welt.

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