Von Barbara Hennermann
Es war sechs Uhr morgens, als das Telefon klingelte.
Sofort saß ich senkrecht im Bett.
Ich hatte grottenschlecht geschlafen. Alle Knochen schmerzten mich und in meinem Kopf schnurrte ein Karussell.
Ächzend schälte ich mich aus den Federn und schlurfte zum Telefonapparat in der Diele.
Seit wir in Rente sind, lassen wir den Tag immer sehr geruhsam angehen. Jeder weiß das, der uns kennt. Wer, zum Teufel, rief also um diese Zeit an?
Widerwillig nahm ich den Hörer ab.
Eine weibliche, muntere und zweifellos geschulte Stimme rauschte aus dem Hörer. „Guten Morgen, Frau Adler! Ich habe Sie hoffentlich nicht geweckt? Sie sind doch Frau Adler?“
„Ä…ja…ich…“
„Das ist ja wunderbar, Frau Adler!“, zwitscherte die Stimme. „Halten Sie sich fest! Sie sind unter Tausenden Festnetzkunden ausgewählt worden und erhalten den Hauptgewinn!“
Neben mir tauchte mein morgenmuffeliger Mann auf.
„Wer, zum Teufel, ruft um diese Zeit an?“, schnaufte er.
Ich stellte auf Freisprechanlage um.
„… ja, tatsächlich, Sie haben richtig gehört, SIE sind ausgewählt, die Welt zu retten!“ „Hä?“, machte mein Mann und auch ich hatte offenbar Wesentliches verpasst.
„Ä…wie jetzt… ?“
„Ja sicher doch, Frau Adler, Sie haben ab sofort Superkräfte und dürfen die Welt retten!“ Die Stimme überschlug sich fast vor Begeisterung.
„Wie jetzt…Superkräfte…ich?“
„Selbstverständlich, Frau Adler, genau Sie. Machen Sie was draus! Ich melde mich wieder.“
Es knackte im Hörer.
Mein Mann und ich sahen uns verständnislos an.
„Hilde, was hast du bloß wieder Blödes im Internet angezettelt?“
Kurt schüttelte den Kopf.
Na, das war ja mal wieder typisch für ihn! Sofort mir Fehlverhalten zu unterstellen… Offen gestanden machte ich mir diesbezüglich aber selbst schon Gedanken. Hatte ich, ohne es zu merken, irgendwo ein Häkchen gesetzt?
Mein Mann ist Pragmatiker.
„Na, Hilde“, grinste er, „wenn du nun Superkräfte hast wie Spiderman, dann kannst du dir ja jetzt die Treppe sparen und stattdessen vom Balkon zum Bäcker starten und Brötchen holen.“
Wir wohnen im vierten Stock, ohne Aufzug! Dafür mit Dachterrasse.
„Du willst mich wohl loshaben, Kurt?“
Mein Lachen klang nicht ganz echt.
Aber irgendwie reizte mich das jetzt schon. Ich schloss mich im Badezimmer ein, stieg auf den Schemel, stieß mich mit dem Fuß ab und … „aua!“ knallte voll gegen die Decke. Oha! Den zweiten Versuch startete ich im Treppenhaus. Es funktionierte tatsächlich, ich konnte fliegen!
„Kuuuurt“, kreischte ich, „ich kann´s wirklich!“
Kurt erschien an unserer Wohnungstür. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er mich für „plemplem“ hielt.
„Hilde, komm rauf und zieh dir erstmal was über!“
Natürlich FLOG ich jetzt die Treppe hoch. Kurt fiel die Kinnlade herunter. Er zog mich hastig in die Wohnung und schmiss die Tür zu.
„Na Servus, Hilde. Dann kannst du ja jetzt die Welt retten.“
Ich plumpste auf einen Stuhl vor Schreck.
„Ja, aber warum grade ich? Ich bin doch viel zu alt für so was!“, ächzte ich.
„Das hilft jetzt nichts, Hilde. Du hast nun auch eine Verantwortung. Eine riesige Verantwortung. Zieh dir was Adäquates an und dann machen wir einen Plan, womit du am besten anfängst.“
Kurt ist, wie gesagt, Pragmatiker.
Keine Ahnung, wie Spiderman gekleidet ist. Irgendwas in Rot? Auf jeden Fall bequem und aerodynamisch, schätzte ich. Also kramte ich meine alten Yogaklamotten aus, die auf natürlichem Weg eng anliegend geworden waren.
Dann fiel mir aber noch etwas ein: „Kurt, sind diese Typen nicht auch super stark?“
Er nickte. „Da hast du Recht. Schieb doch mal die Schrankwand zur Seite!“
Dahinter war ihm neulich eine seiner Zigarren gefallen, die er heimlich hortet. Wusste ich natürlich … höhö. Trotzdem versuchte ich mich an dem Schrank und es ging komplett leicht. Mit links sozusagen!
Wir waren beide richtig geschockt. Aber nun verstand ich auch plötzlich, weshalb mir alles weh tat beim Aufwachen! Ganz offensichtlich hatten die übernatürlichen Kräfte sich nachts Raum verschafft in meinem Körper.
Im Wohnzimmer schlug die Uhr sieben Mal.
In diesem Moment läutete das Telefon.
„Nun, Frau Adler, wie geht es denn voran? Wie ist ihr Plan?“
Es war die gleiche Stimme wie vorher, diesmal allerdings nicht mehr so zwitschernd. „Das ist ja auch eine Verantwortung, die Sie da haben, Frau Adler. Eine einmalige Chance, in Ihrem Leben noch etwas Sinnvolles zu tun.“
„Ja, ä, ich musste ja erst ausprob …“
Die Stimme klang nun eindeutig tadelnd.
„Wenn Sie so wenig Vertrauen in Ihre Fähigkeiten haben, Frau Adler, dann wäre es vielleicht besser, wenn …“
„Nein, passt schon“, stammelte ich, „ich mach mich jetzt gleich drüber.“
„Gut, Frau Adler. Dann nutzen Sie die Zeit! Sagte ich Ihnen vorhin schon, dass Sie insgesamt nur vier Stunden haben? Eine haben Sie ja ganz offensichtlich schon vertrödelt! Ich melde mich wieder.“
Und schon tutete es im Hörer.
Ich sackte auf einen Stuhl. Kurt streichelte mir über den Rücken und brummte: „Hildchen, am besten machen wir erst mal unseren Plan.“
Er legte einen Schreibblock und Stifte auf den Tisch. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Gott sei Dank! Kurt, mit seiner geradlinigen Art zu denken, war wirklich schon immer eine Stütze in meinem Dasein gewesen. Seine jahrzehntelange Berufstätigkeit im städtischen Archiv trug immer noch Früchte.
Kurt legte auf einem Blockblatt drei akkurate Spalten an und beschriftete eine jede. Links stand „drängende Konflikte“, in der Mitte „brodelt schon lang“ und rechts „persönlich betroffen“.
Dann trug er schon mal links ein „Kiew, Moskau, Naher Osten, Afrika I …“. In der Mitte stand „ Syrien, Algerien, Afrika II …“ und rechts „Gemeinde“.
Erwartungsvoll sah er mich an. Leider war mein Kopf wie leer gefegt. Wortlos starrte ich zurück.
„Hilde, was meinst denn du? Wo möchtest du denn anfangen?“
Kurt schüttelte mich am Arm. Mich packte das Grausen. Wie, bitte schön, sollte ich kleines Würstchen trotz aller Superkräfte zum Beispiel Putin zur Raison bringen, damit er seinen Angriffskrieg sofort stoppte? Oder die Horden im Nahen Osten zur Vernunft zwingen? Oder…
Da klingelte das Telefon.
SIE war es.
„Nun, Frau Adler, geht´s voran? Wo sind Sie denn schon vorstellig geworden und was haben Sie bewirkt?“
Es klang ziemlich streng.
„Ja…also…ich…wir haben überlegt, wo…“, stotterte ich.
Jetzt klang die Stimme sehr streng.
„Also, Frau Adler, so geht das aber gar nicht! Haben Sie mal auf die Uhr gesehen? Mit Überlegen ist das weiß Gott nicht getan!“
„Ja…aber…“
„Nichts aber! Jetzt machen Sie sich mal an´s Werk! Zwei Stunden haben Sie nur noch!“ Bevor sie auflegte, hörte ich sie murmeln: „Eine schöne Verschwendung war das mit den Superkräften an das alte Weib. Habe ich dem Chef aber gleich gesagt.“
Heulend setzte ich mich an den Tisch.
„Kurt, ich kann das nicht. Superkräfte her oder hin. Was bringt es, wenn ich durch die Lüfte nach Kiew fliege und ein paar russische Drohnen zerquetsche? Oder im Gazastreifen hundert Terroristen? Das rettet doch die Völker nicht und schon gar nicht die Welt!“
Kurt strich mir über meine tränennassen Wangen.
„Beruhige dich, Hildchen. Du hast vollkommen Recht. Unsereiner kann die Welt nicht retten. Nicht, so lange narzisstische Verbrecher sich Völker einverleiben und unterdrücken. Usurpatoren! Widerlinge!“
Er redete sich richtig in Rage.
Ich atmete befreit auf. Wenn Kurt mich verstand, würde alles gut werden.
Ängstlich spähte ich nach der Uhr. Es war Neun, aber das Telefon blieb stumm.
Kurt sah mich nachdenklich an.
„Hilde, was meinst du, wenn du nun schon mal diese Fähigkeiten hast …?“
Er deutete auf die rechte Spalte am Block.
Gemeinde?
Gemeinde! Wir grinsten uns an.
Ich zupfte meine Yogatracht zurecht und segelte los, direkt zum Rathaus.
Der Bürgermeister saß hinter seinem Schreibtisch, hatte die Füße hochgelegt und blätterte in der Tageszeitung. Ich klopfte ans Fenster. Er blickte auf. Als er mich sah, schreckte er, wie von der Tarantel gestochen, hoch. Ich rief ihm, zu dass er das Fenster öffnen solle und schwebte in sein Amtszimmer. Er stand immer noch wie vom Donner gerührt da. Lässig schob ich mit meinem kleinen Finger seinen Schreibtisch zur Seite und hockte mich breit in seinen Bürgermeistersessel. Der arme Mann zitterte am ganzen Leib.
„Herr Bürgermeister“, sprach ich sanft in sein aschgraues Antlitz, „wollen Sie sich das nicht doch noch einmal überlegen und der Erweiterung des Seniorenparks zustimmen? Sie sind es, der unser Vorhaben seit Monaten blockiert.“
Mittlerweile war ich aufgestanden, hatte locker mit einer Hand das massive Eichenregal von der Wand vorgezogen und pustete die Staubflocken dahinter weg. Der Bürgermeister wechselte von aschgrau zu käseweiß.
„Aber meine liebe Frau Adler“, säuselte er, „selbstverständlich. Das wollte ich selbstverständlich sowieso tun.“
Er kramte den Antrag unserer Seniorengruppe aus den Tiefen seines Schreibtisches und unterschrieb eilig. Ich nahm das Papier und entfloh durch das geöffnete Fenster.
Ein Blick auf die Rathausuhr hatte mir nämlich einen ziemlichen Schrecken eingejagt: 9 Uhr 55.
Es langte gerade noch! Schwungvoll landete ich auf der Dachterrasse, als ich unser Telefon schrillen hörte.
Kurt nahm ab. Die bekannte Stimme quoll aus dem Hörer, und zwar ausgesprochen unwirsch.
„Frau Adler“, zeterte sie, „ Sie haben Ihre gewonnenen Talente nicht genutzt! Sie haben nichts zur Rettung der Welt beigetragen!“
Kurt hatte keine Zeit, sich dazu zu äußern, denn der Hörer schepperte auf der anderen Seite ins Aus.
Wir sahen uns an und rümpften beide die Nase. Woher, zum Teufel, kam nur plötzlich dieser ekelhafte Schwefelgeruch?
** *
Zuerst dachte ich ja, ich hätte das alles nur geträumt.
Aber dann fand ich vorhin überraschend die bürgermeisterliche Einverständniserklärung zur Erweiterung unseres Seniorenparks auf dem Küchentisch …
V 2