Von Karl Kieser
Ich fühle mich großartig, zum Bäumeausreißen. Überraschenderweise habe ich das sichere Gefühl, so ein Bäumchen könnte ich jetzt tatsächlich schaffen. Noch im Schlafanzug gehe ich in den Garten. Den Apfelbaum habe ich vor 5 Jahren gepflanzt. In diesem Jahr hat er erstmals Früchte angesetzt.
Ich hole tief Luft, beuge mich hinunter, umfasse den Stamm mit beiden Händen und dann …
Das ist ja unglaublich! Ich ziehe mir selbst den Boden unter den Füßen weg. Der arme Baum. Das wird er nicht überleben.
In die Trauer um den Baum mischt sich ein triumphierendes Gefühl: Ich habe Superkräfte.
Wie ist das nur möglich? Seit ein paar Jahren bin ich Rentner und beobachte eigentlich abnehmende Kräfte bei mir.
Also, beklagen werde ich mich nicht über dieses unverhoffte Geschenk. Wer weiß, wie lange es anhält.
In meinem Kopf ertönt ein Gong. Dann sehe ich eine Leuchtschrift vor meinem inneren Auge: LASS DEN UNSINN! DU SOLLST DIE WELT RETTEN UND HAST DAZU NUR NOCH VIER STUNDEN ZEIT. Noch ein Gong, dann ist wieder Ruhe.
Die Welt retten? Was soll das nun wieder? Ich bin ja erfreut, über außergewöhnliche Kräfte zu verfügen, aber für die Welt fühle ich mich nicht zuständig. Überhaupt, wie soll ich die Welt retten? Und wovor? Nicht, dass ich mich vor so einer Aufgabe drücken wollte. Nein, neue Herausforderungen sind mir ganz recht, denn im Moment verläuft mein Leben eher farblos.
Wieder ein Gong und eine neue Leuchtschrift: MACH HIN, DIE ZEIT LÄUFT DIR DAVON. Und Gong.
Das nervt allmählich. Also gut. Wenn es nicht allzu viel Mühe macht, dann bin ich auch bereit, die Welt zu retten. Aber dafür brauche ich Instruktionen.
Stille.
Ist mein innerer Antreiber mit solchen Feinheiten etwa überfordert? Na schön, dann werde ich mich erst mal anziehen und frühstücken.
Meine Frau, noch im Morgenmantel, löffelt schon ihr Müsli, als ich im Freizeitdress die Küche betrete.
Während ich mich über Eier mit Speck hermache, erkläre ich mampfend: „Zum Mittagessen kann es später werden bei mir. Ich muss die Welt retten.“
Ich hab’s nicht ganz ernst gemeint, will sie nur provozieren.
Sie sieht kurz auf von ihrer Zeitschrift, tippt sich an die Stirn, ohne den Löffel aus der Hand zu legen, und taucht ihn dann wieder in ihren Müslinapf.
Gong.
FLIEGE ZU DEN VEREINTEN NATIONEN UND SAGE IHNEN, DASS DU ZUGRIFF AUF ALLE NUKLEARWAFFEN HAST. DASS KEINE EINZIGE SICH VON IHREN ABSCHUSSRAMPEN LÖSEN WIRD, DU ABER JEDE EINZENE IN IHREN VERSTECKEN ZÜNDEN KANNST.
Gong.
Das ist ein Hammer. Selbstverständlich würde ich so etwas niemals tun: Nuklearwaffen zünden. Man weiß doch, welche Folgen das hat. Aber ich muss zugeben, das ist eine wirksame Drohung. Ich hatte ja keine Ahnung, was meine Superkräfte alles bewerkstelligen können.
Aber könnte man das nicht auch telefonisch erledigen? Wozu der ganze Aufwand?
Die UNO hat ihren Sitz schließlich in New York. Und Fliegen? Ich bin meilenweit entfernt vom nächsten Flugplatz. Allein die Anreise wird mich Stunden kosten. Der Flug selbst dauert ja schon länger als vier Stunden.
Oder kann ich etwa so wie Superman?
Gong.
JA; DU KANNST. UND DU MUSST DIE NACHRICHT PERSÖNLICH ÜBERBRINGEN: SIE BRAUCHEN EINE ÜBERZEUGENDE SHOW.
Gong.
Das ändert die Lage. Ich habe keine Ahnung wie lange ich nach New York brauche und verstehe allmählich, warum die Zeit drängt, will mich aber von meiner Frau noch verabschieden.
„Ich muss los. Schatz. Ich weiß noch nicht, wann ich zurück bin. Du weißt ja: Welt retten.“ Damit gehe ich los Richtung Haustür.
Jetzt springt sie doch auf und rennt hinter mir her: „Wo willst du denn hin? Du hast ja nicht einmal dein Frühstück aufgegessen.“
Ich bin inzwischen durchdrungen von meinem Auftrag und antworte über die Schulter zurück: „Keine Zeit, muss zur UNO.“
„Hast du den Verstand verloren?“ Meine Frau versucht mich zurückzuhalten, aber ich bin schon auf die Straße getreten und im Morgenmantel wagt sie sich nicht hinaus.
Ich recke noch etwas zögerlich die linke Faust nach oben und hebe in moderatem Tempo ab. Ich habe noch die Zeit, zurückzublicken und sehe meine Frau, mitten auf der Straße, mit offenem Morgenmantel, beide Arme hochgereckt, als ob sie mich zurückziehen will.
Oh je, die Nachbarn werden sich das Maul zerreißen.
Nun stoße ich gleich beide Fäuste energisch vor und sofort geht die Post ab.
Viel zu spät mache ich mir Gedanken darüber, in welcher Höhe ich fliegen werde und ob mir vielleicht kalt werden wird, aber meine Superkräfte scheinen mich immun zu machen für solch menschliche Schwächen. Die grobe Richtung stimmt jedenfalls, die Sonne scheint mir auf den Rücken.
Bis nach New York ist es selbst mit Superkräften kein Katzensprung. Ich vertreibe mir die Zeit damit, meine Fakten und Forderungen gefällig zu formulieren, denn außer einer endlosen Wasserwüste gibt es nichts zu sehen. Dann taucht die Ostküste Amerikas auf. Dort ist gerade Morgendämmerung. Erstmals mache ich mir Sorgen um die weitere Navigation. Wie soll ich die UNO finden und wird dort schon jemand wach sein, mit dem ich reden kann?
Meine Sorgen sind unbegründet. Es geht rasend schnell: Zuerst sehe ich die Lichter der Riesenstadt, dann die Skyline von Manhattan. Schon bin ich im Inneren eines Gebäudes und bevor ich mich auch nur wundern kann, schwebe ich in einem großen Saal knapp unter der Decke.
Das Erste, was mir auffällt, ist ein monumentales Gemälde, das fast die gesamte Stirnseite des Saales ausfüllt und davor, in einem Dreiviertelkreis angeordnet, Tische mit Stühlen für etwa 60 Leute. Im Vordergrund und an den Seiten gibt es noch wesentlich mehr Stühle. Der Saal ist voll besetzt. Ich sehe viele übernächtigte Gesichter, einige hat der Schlaf überwältigt.
Ich weiß es augenblicklich, ich bin im norwegischen Saal, dem Tagungsort des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.
Diese Zusammenkunft muss wichtig sein. Seit Tagen hört man auch immer wieder von einem neuen Konflikt im Nahen Osten. Irgendwie weiß ich, wo die Vertreter von Israel und Iran sitzen. Ich sehe erregte oder eiskalte Mienen, je nach Naturell.
Mich hat man noch nicht entdeckt.
Bevor mich der nächste Gong mahnt, lasse ich mich einfach in das Zentrum des Sicherheitskreises hinabsinken, bis ich wieder festen Boden spüre. Irgendwie muss ich schließlich anfangen.
Zu meiner Verblüffung hat sich mein Outfit in ausgefallener Weise geändert. Wirkt das nicht lächerlich an mir?
Innerhalb von zwei Sekunden herrscht absolute Stille. Dann bricht die Hölle los.
Ich kann sie ja verstehen. Da hat man sich die Nacht um die Ohren geschlagen auf der Suche nach einem Kompromiss, der die Welt vor dem Chaos rettet, und dann kommt so ein Typ im Superman-Kostüm daher und will einem die Show stehlen.
Schon fliegen die Türen auf und das Sicherheitspersonal will mich hinausbegleiten. Das ist für mich kein Problem. Ich schwebe einfach mit leicht wehendem Cape ein paar Meter höher und bin für die Gorillas nicht mehr erreichbar.
Gong.
JETZT SAG’S IHNEN ENDLICH!
Gong.
Also fange ich einfach an zu reden. Ich verlasse mich darauf, dass die Übersetzer hinter den Seitenscheiben ihren Job machen. Meine ausgefeilten Formulierungen habe ich vergessen. Dafür ist ein Wissen über die Situation in mir gewachsen, von dem ich nur vermuten kann, dass meine Superkräfte dahinterstecken. Meine Stimme, erstaunlich volltönend und kraftvoll, erreicht auch das letzte Ohr.
„Ich weiß, dass ihr hier kurz vor einer Entscheidung steht, die die Welt ins Chaos stürzen würde. Aber ich sage euch: Das schlimmste Chaos wird ausbleiben, denn ich allein habe die Verfügung über sämtliche Atomwaffen, taktische und strategische. Für euch sind sie nur noch gefährlicher Schrott, denn keine einzige wird sich auf den Weg machen können.
Ich rate dringend zu einer friedlichen Einigung, welche die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt. Sollte doch noch jemand Krieg führen wollen, dann denkt daran, dass ich jederzeit jede Nuklearwaffe zünden kann. Ob in ihren heimischen Silos oder auf den Abschussrampen.“
Es dauert ein, zwei Sekunden, bis auch der letzte Übersetzer fertig ist. Dann wird es laut. Empörung und ungläubiges, abfälliges Gelächter mischt sich mit vorsichtiger Schadenfreude der atomaren Nobodies.
Ich habe eigentlich alles gesagt und könnte mich auf den Heimweg machen, aber irgendwie finde ich die Situation unbefriedigend. Weil es so schön wäre, setze ich noch eins drauf, auch wenn ungewiss ist, ob ich damit meine Kompetenzen überschreite.
„Ich bin mir sicher, dass die ersten Überprüfungen in den Atomsilos eurer Heimatländer schon angelaufen sind. Sobald ihr euch vergewissert habt, solltet ihr die gefährlichen Altlasten so schnell wie möglich loswerden. Denn erinnert euch, ich habe den Finger drauf. Es bringt auch nichts, mich ausschalten zu wollen, denn es gibt mich gar nicht, obwohl ich viele Gesichter habe. Und noch etwas: Auch alle nuklearen Neuanschaffungen werden unter demselben Problem mit der Verfügungsgewalt leiden.“
Jetzt macht sich doch mehr und mehr Betroffenheit breit. Vermutlich sind auch die ersten bestätigenden Rückmeldungen eingetroffen.
Ein letztes Mal lasse ich meine beeindruckende Stimme ertönen:
„Einigt euch! Friedlich!“
Gong.
GUT GEMACHT!
Gong.
Als nach der Wasserwüste die vernebelte Küste Englands auftaucht, weiß ich, es ist nicht mehr weit. Es wird auch höchste Zeit. Ich kann meinen Magen hören.
Für die Landung habe ich mir unseren Garten ausgesucht und spaziere – leider nicht mehr im Superman-Kostüm – über die Terrasse ins Haus. Meine Frau sitzt immer noch im Morgenmantel in der Küche. Sie macht einen unglücklichen Eindruck. Sogar mein nur zur Hälfte gegessenes Frühstück steht noch auf dem Tisch. Hat sie etwa geglaubt, ich würde mich für immer davonmachen? Sowas macht man doch nicht. Erst recht nicht Superman.
Da habe ich vor dem UN-Sicherheitsrat die Welt gerettet, die Zwangsabrüstung aller Nuklearwaffen eingeleitet, einen 12.000 km Flug in den Knochen, das alles mit einem halben Frühstück und jetzt gibt es nicht einmal Abendessen?
V2