Von Sabine Rickert
„Baby, ich habe den Job an der größten Börse der Welt. Dein Mann arbeitet in Zukunft an der Wall Street“, schrie Vincent durchs Haus, nachdem er seine E-Mails kontrolliert hatte.
Jelena fiel ihm um den Hals.
„Herzlichen Glückwunsch mein Schatz.“
Ihre Lippen waren fordernd und gaben ihm das Gefühl, Superman zu sein. Sie stießen mit Champagner an und fanden sich, nach einem kleinen Schluck, im Bett wieder.
„Erfolg macht sexy, stellte er selbstbewusst fest. Ich brauche die gleiche Brille wie Clark Kent“, scherzte er.
Oder sie waren schnell zu stimulieren, denn ihre Hochzeit lag erst drei Tage zurück. Der Flair und die Stimmung hielten hoffentlich eine Weile an.
„Diese Frau ist etwas Besonderes“, schwärmte er in Gedanken. Er hatte um sie gekämpft. Fast hätte er sie an ihren langjährigen Ex verloren. Aber sein Heiratsantrag hatte sie im richtigen Moment überrascht und emotional mitgerissen.
Mittags kam ein dringender Anruf, und er war gezwungen, sofort zur Wall Street zu fahren. Geplant war das nicht, mitten in ihren Flitterwochen.
Krisensitzung an der New Yorker Börse, da lässt man alles stehen und liegen. Ihm war klar, worauf er sich bei diesem Job einließ. Er hatte mit Jelena öfter darüber gesprochen.
„Ich bin hochqualifiziert“, sagte er zu sich selbst, auf dem Weg in die oberste Etage. Er pushte sich weiter: „Ich habe einen MBA Abschluss mit Auszeichnung von der renommierten Harvard University. Jetzt habe ich die Chance, den Weltmarkt zu kontrollieren.“ Nachdem er in seiner Büroetage ankam, fiel seine Einführung und der Empfang komplett aus. Alle waren völlig aufgelöst.
Die ganze Abteilung rannte planlos hin und her. Die Chart-Analyse war morgens schon bedenklich, das hatte er gesehen, bevor er seine E-Mails checkte. Aber sie ließ keine bevorstehende Katastrophe erahnen. Vincent stand mitten im Geschehen, ohne dass ihn irgendjemand beachtete. Er meldete sich bei seinem Chef, der nur abwinkte und meinte: „Sie wissen ja, wo ihr Büro ist, ich erwarte Vorschläge, möglichst gestern. Sie sehen ja, was hier los ist.“
Vincent verschaffte sich erst einmal einen Überblick mit Hilfe der Kurstafeln. Wo standen die wichtigsten Indizes. Mit einem Blick sah er, dass der Nikkei in Tokio vorzeitig, im Minus, aus dem Handel gegangen war. Er kam zu dem Ergebnis, dass ein weltweiter Börsencrash nicht mehr aufzuhalten war. Die Kurse fielen zielstrebig nach unten, panikartige Verkäufe, die das Ganze verschlimmerten. Sie hatten das Ende der Spekulationsblase erreicht und dadurch diesen extremen Einbruch ausgelöst.
„Wie lange bleibt uns, bis alles zusammen bricht?“, hörte er eine Stimme hinter sich.
Wie in Trance flüsterte er: „Vier Stunden maximal.“
„Leute, ihr habt es gehört. Sollte es euch nicht gelingen, die Katastrophe abzuwenden, dann kontrolliert hier ab morgen keiner mehr irgendetwas. Ich will Lösungen hören, und zwar im Sekundentakt“, schrie der CEO.
Vincent resignierte: „Da hilft nur, das Einfrieren der Zeit, und ein Zurücklaufen auf den Stand vor vier Wochen. Ein sogenanntes Wunder.“
Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gebracht, verlangsamten sich sämtliche Bewegungen der Menschen in seiner Umgebung. Die Grafiken und Zahlen auf den Kurstafeln bewegten sich kaum sichtbar, bis alles zum Stillstand kam.
Vincent war geschockt.
„Passierte das jetzt in Echtzeit, oder habe ich einen Schlaganfall?“
Er kniff sich feste in seinen Oberarm.
Es war surreal. Er versuchte Kontakt mit seinen neuen Arbeitskollegen aufzunehmen. Aber keiner hörte ihn. Er war so zu sagen alleine auf der Etage, alle anderen erstarrten in einer Parallelwelt.
Nach einigen Minuten bewegten sich die Menschen wieder, aber rückwärts. Es sah komisch aus und Vincent traute seinen Augen nicht. Es funktionierte! Sein Wunsch wurde erfüllt und alles lief zurück, hoffentlich auf den Stand von vor vier Wochen. Jetzt kam ihm Superman wieder in den Sinn. Er hatte über Nacht spezielle Fähigkeiten bekommen. Oder hatte er sie unbemerkt immer schon? Hatte er einen Börsenalbtraum? Er war bislang von Katastrophen jeglicher Art verschont geblieben. Wünsche erfüllten sich automatisch, oder waren es diese Kräfte? Er war verwirrt, viele Fragen schwirrten durch seinen Kopf. Das brachte jetzt nichts, er riss sich zusammen und konzentrierte sich auf die Rettung. Mit seinen neu entdeckten Superman-Kräften war er in der Lage, die Welt vor einem globalen Börsencrash zu retten. Das gelingt ihm hoffentlich ohne diesen albernen Anzug, er hasste Fliegen.
„Da ist nur Köpfchen gefragt“, motivierte er sich lautstark.
Ihn hörte ja eh keiner. Vincent genoss die Vorstellung. Anhand der Datenbewegungen sah er, dass alles in einer Stunde auf dem gewünschten Stand anhalten würde. Somit überlegte er sich in Ruhe die geeigneten Maßnahmen, um das Ganze wieder auf die richtige Spur zu bringen. „Erst einmal einen frisch gebrühten Kaffee für den Helden.“ Kaum hatte er die Kanne in der Hand, war sie leer. Lohnte es sich, die Maschine zu beobachten, ab wann sie wieder gefüllt ist, um dann zuzuschlagen? Nein, er war massiv unter Zeitdruck und fing mit seinen Analysen und Berechnungen an. Er war gezwungen, es im Kopf zu erledigen. Der Computer spielte verrückt, und Notizen auf dem Block verschwanden sofort.
Er kam zu keinem Ergebnis.
„Ich würde gerne die Zeit nochmal für eine Stunde einfrieren, dies wird reichen, um eine Strategie zu erarbeiten.“
Kaum war der Gedanke verfasst, hielt das Leben an und er legte los. „Wau, das Universum hört auf mich.“
Er war sich nach einer Stunde sicher, dass sein Plan aufgehen würde, sobald die Zeit wieder vorwärtslief. Das Management hatte er zu überzeugen. Aber wie? Er war zu dem Zeitpunkt mitten in der Bewerbungsphase.
Vincent hatte zehn Minuten bis zum Stopp. Er ließ den Tag in Gedanken Revue passieren. Es war wichtig, dass er vor Ort war, um einzugreifen.
„Ich werde mir ein festgelegtes Datum und eine Uhrzeit wünschen, dann habe ich die Chance, das Blatt zu wenden, ohne in Erklärungsnot zu kommen.“
Vincent stand an derselben Stelle, vor der Anzeigetafel. Es war sein Vorstellungsgespräch. Er hielt seine Präsentation. Schnell kommunizierte er die Problematik, die in vier Wochen entstehen würde. Er stieß nur teilweise auf offene Ohren. Er gab alles, um den letzten Ungläubigen zu überzeugen. Es wurde ein langer Tag.
Erschöpft kam er nach Hause. Er freute sich auf Jelena, sie war nicht da. Es sah hier anders aus, ihre Sachen fehlten. Er überlegte angestrengt, dabei fiel sein Blick auf den Kalender. Dort stand, Essen mit Jelena 20 Uhr im Central Park Boathouse.
Mein Gott, er war ja in die Vergangenheit gereist. Heute hatte er im Restaurant um Jelenas Hand angehalten. Abends direkt nach der Präsentation. Kurze Zeit später zog sie zu ihm, und eine Woche weiter waren sie verheiratet. Die Uhr zeigte mittlerweile 21 Uhr. Vincent hatte das Essen verpasst und Jelena sitzen lassen, ohne sie anzurufen. Er versuchte sie verzweifelt zu erreichen, seine Wünsche wurden vom Universum dieses Mal nicht erhört.
War sein Wunschkonto begrenzt? Hatte er insgesamt nur drei? Ein Held mit Ablaufdatum?
Es dauerte Wochen, bis Jelena sich zu einem Treffen überreden ließ.
Sie war enttäuscht und verärgert. Seine Ausführungen und Gründe kamen nicht bei ihr an. Sie hatte sich für ihre alte Liebe entschieden und war schon zu ihm gezogen. Keine Chance mehr für ihn. Sie sprachen sich aus. Sie hatte Angst, dass sein Job für ihn immer an erster Stelle stehen würde.
Vincent lag zu Hause auf dem Sofa, die Flasche Wodka war schon halb leer und ihr gemeinsamer Song, von Sinead O`Connor, zu dem sie auf ihrer Hochzeit tanzten, wurde in Dauerschleife abgespielt.
Heute hatte er seine Jobzusage bekommen. Diesmal fiel die Feier anders aus.
Er seufzte: „ Ich habe meine Lois Lane für immer verloren“.
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