Von Tabatha Schubert
Der riesige Kerl vor mir drückte mir ein abgenutztes, halb zerfetztes Buch in die Hand, zwischen dessen Seiten ein zerkauter, gelber Bleistift steckte. In seinem Gesicht lag ein panischer Ausdruck, während er sich immer wieder hektisch umsah. >>Tut mir sehr leid, aber du musst das hier nehmen, das besagen die Regeln. Es wird kommen.<< sagte der riesige Kerl schon beinahe flüsternd, während er mich fest bei den Schultern packte und mir geradewegs in die Augen starrte.
Alles in mir verkrampfte sich und ich umklammerte das Buch in meinen Händen. In meinem linken Ohr fing es an zu piepen. Ich wollte um Hilfe schreien, aber nicht ein Wort kam mir über die Lippen. Was passiert hier gerade? Was wird kommen? Was. Soll. Das.? Kopfschüttelnd versuchte ich mich aus dem Griff des Fremden zu lösen, welcher immer fester wurde. Sein Gesicht kam meinem viel zu nahe. In mir stieg Panik auf. Warum muss immer mir so etwas passieren? >>Du musst! Das ist die einzige Chance. Das Dunkel wird viel Schaden anrichten und du musst das verhindern. Du musst Schreiben! Es wird versuchen dich aufzuhalten. Das darf nicht passieren! Hast du mich verstanden?<< sagte er etwas lauter. Das Dunkel? Was soll das sein? Das Piepen in meinem Ohr wurde immer aufdringlicher. >>Alles was du wissen musst steht da drin.<< fügte er hinzu, bevor er abrupt den Griff um meine Schultern löste und einfach Ging. Verwirrt sah ich auf den Block in meinen Händen und dann dem Fremden hinterher, wie er davon stampfte. Sein Mantel flatterte hinter ihm im Wind und untermalte dramatisch seinen Abgang. Ungläubig drehte ich mich um meine eigene Achse, hilfesuchend nach irgendjemandem der das hier mitbekommen haben könnte. Der Park war wie leergefegt. Man hörte nur das unruhige Rascheln der Blätter durch den aufkommenden Wind. Ich blieb noch einige Momente wie angewurzelt auf der Stelle stehen und sah dem Fremden hinterher, bis er nur noch ein dunkler Fleck in der Ferne war. Ohne noch einmal zurück zu sehen hastete ich nach Hause.
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Mit einem leisen Klopfen betrat ich das Zimmer der alten Dame, welche zuvor geschellt hat. >>Frau Zimmermann? Ich bin es, Mia. Ist alles in Ordnung?<< fragte ich leise in das Zimmer hinein, während ich langsam eintrat. Ich wurde von einem sanften Lichtschein empfangen, der von dem Nachttisch der alten Dame kam und fast den gesamten Raum ausleuchtete. Das Zimmer war liebevoll und gemütlich eingerichtet. Frau Marianne Zimmermann war einmal eine begabte und sehr beliebte Innenausstatterin und Designerin gewesen. Die meisten Möbel ihres recht kleinen Bewohnerzimmers waren von ihr selbst entworfen. Sie war vor zwei Jahren in das Seniorenzentrum-Vergiss Mein Nicht gezogen, nachdem ihr Ehemann ganz plötzlich verstorben war. Ich hatte selten eine so liebevolle, großzügige und strahlende Dame kennengelernt. Ihre Sorgen mochten noch so groß sein, leuchtete sie jeden Tag wie die Sonne. Ich mochte sie gern und wir hatten mittlerweile einen guten Draht zueinander. Es war selten, dass sie die Notschelle betätigte, die in jedem Bewohnerzimmer zu finden waren und den Bewohnern des Seniorenzentrums zur Verfügung standen. In dem sonst so strahlenden, gütigen Gesicht, stand jetzt ein besorgter, ängstlicher Gesichtsausdruck. Sie saß aufrecht in ihrem Bett die Hände nervös nestelnd auf der Bettdecke verschränkt. >>Es wird etwas schlimmes passieren.<< sagte sie mit zitternder Stimme. Ich runzelte die Stirn und stellte mich langsam neben das Bett. >>Was wird denn schlimmes passieren Frau Zimmermann?<< fragte ich sie ganz ruhig. Bitte nicht schon wieder. Die nächste die eine Katastrophe ankündigt?! Frau Zimmermann klopfte mit einer Hand auf die Bettkante und deutete mir, mich zu ihr zu setzen. Das tat ich auch. Ich nahm ihre Hand und Strich beruhigend über ihren Handrücken. >>Ich hab es gesehen, es wird passieren!<< sagte sie mit zitternder Stimme und sah mir direkt in die Augen. Viele feine Fältchen umrandeten ihre strahlenden blauen Augen, Sorge und Angst standen ihr regelrecht ins Gesicht geschrieben. Ich atmete tief durch. >>Was haben sie denn gesehen Frau Zimmermann?<< ging ich ruhig auf sie ein, noch immer ihre Hand haltend. Frau Zimmermann beugte sich etwas zu mir vor und umschloss meine Hand mit beiden Händen, bevor sie sie an ihren Brustkorb drückte. >>Das Dunkel. Es wird kommen! Es wird uns finden. Uns Verschlucken. Du musst es aufhalten Mia. Du musst es aufhalten! Wir haben keine Zeit mehr.<< sagte sie leise. Eine Träne lief ihr über die Wange. Sie drückte meine Hand noch fester. Das Dunkel wird viel Schaden anrichten…und ich soll das verhindern. Das hatte auch der irre, riesige Kerl gesagt als er mir das zerfetzte Buch in die Hand drückte. Mein Mund wurde trocken und in meinem linken Ohr fing es wieder zu piepen an. >>Du musst schreiben Mia. Du musst schreiben. Verstehst du? Wir haben keine Zeit mehr. Es kommt!<< Was ist das für eine Scheiße? Was muss ich schreiben? fast schon flehend sah sie mir tief in die Augen meine Hand noch immer an ihre Brust gedrückt. Das Piepen in meinem Ohr wurde immer lauter, stechend als brenne es sich einen Weg durch meinen Körper. Schon wieder kam mir kein Wort über die Lippen und ich bekam Panik. Ohne etwas zu sagen entzog ich Frau Zimmermann sanft meine Hand, bevor ich aufsprang und schnellen Schrittes ins Dienstzimmer lief. Ich zog meine Tasche unter dem Tisch hervor und zog das zerfledderte Buch heraus. Warum hab ich das Ding überhaupt mitgenommen? Das ist doch irre. Ich schlug die Seite auf in welcher der Bleistift steckte und mir stockte der Atem. Mitten auf der Seite hatte jemand etwas mit dem Bleistift aufgeschrieben, hastig und kaum zu entziffern: „Das Dunkel wird kommen. Es wird uns verschlingen Stück für Stück. In vier Stunden wird die Welt ein einziges schwarzes Meer sein. Die Menschheit wird verstummen und dem Dunkel dienen.“ Ich hielt die Luft an. Das Piepen in meinem Ohr wurde unerträglich. Alles um mich herum schien sich zu drehen. Mir wurde schlecht. „Du musst schreiben Mia, nur so kannst du es aufhalten. In vier Stunden wird es da sein. Es wird uns verschlingen.“ Vier Stunden. Vier Stunden! In vier Stunden wird es da sein. Im Hintergrund lief das Radio. Die Wettertante kündigte Dauerregen und Temperaturen bis zu 6 Grad an. In meinem Kopf herrschte ein einziges Chaos. Langsam blätterte ich in dem Buch vor und überflog das kauderwelsch aus Buchstaben. Über das Papier der Seiten zogen sich Texte, manchmal sogar nur Wörter, in unterschiedlichsten Handschriften, einiges sogar in verschiedenen Sprachen. Ich blätterte weiter, bis ich das fand, was ich vermutlich auch finden sollte. Die Erklärung für einen unglaublich verrückten Tag, der noch verrückter werden sollte.
„Das Dunkel wird kommen, schleichend wie auf Samtpfoten einer schwarzen Katze. Es wird euch verschlingen, die Sinne vernebeln und den Verstand rauben. Es wird von eurer Angst zehren und euch nutzen wie Marionetten, als eine Armee gegen die, die sich dem Dunkel entgegenstellen und seine Existenz zu vermeiden drohen. Es wird kein Licht und keine Hoffnung über lassen.“
Die Prophezeiung war mit blutroter Tinte, in verschnörkelter Schrift geschrieben. In mir machte sich große Unruhe breit. Im Radio lief Radioactive von Imagine Dragons als das Programm durch die Stimme der Wettertante unterbrochen wurde. >>Uns kam eine Eilmeldung zu, dass die gesamte Berliner Innenstadt von einem weitreichenden Stromausfall betroffen ist.<< Stromausfall? In der GESAMTEN Berliner Innenstadt? Mit schnellen Schritten lief ich zum Radio auf der Fensterbank um es lauter zu drehen. Ich hielt die Luft an und hörte aufmerksam zu. >>Des weiteren breite sich eine unglaubliche Dunkelheit über die Straßen aus, vermutlich ein dichter Nebel. Zur Zeit gibt es keine Zeugen die nähere Infos zu der Situation berichten könnten. Es wird dazu aufgerufen direkt nach Hause zurückzukehren und Zuhause zu bleiben bis näheres bekannt ist. Passen sie auf sich auf.<< Gänsehaut kroch mir über den Rücken und mir wurde heiß und kalt zugleich. Stromausfall und Nebel zugleich? Also komplette Dunkelheit? Könnte Zufall sein. Oder auch bitterer Ernst.
>>Es ist da!<<
Ich zuckte zusammen und schrie auf. In der Tür stand Frau Zimmermann. Tiefe Sorge stand in ihrem Gesicht. Mein Herz klopfte wie verrückt. Für einen Moment stand ich wie versteinert da. >>Frau Zimmermann? Wie lange stehen sie schon da? Ist alles in Ordnung?<< fragte ich leise nachdem ich meine Stimme wiedergefunden hatte. Mein armes Herz schlug noch immer wie verrückt.
>>Unser Ende wurde geschrieben.<< sagte sie leise, während sie in das Zimmer trat. Mit den Fingerspitzen berührte sie das Buch und blätterte zu der Seite mit der blutroten Prophezeiung. >>Und du musst es Umschreiben, bevor wir vollkommen verloren sind. Schreibe das Ende um. Sonst sind wir verloren.<< sagte sie mit starker Stimme. Dann sah sie mich direkt an. Ihr Blick war Ernst, während ihre Augen jetzt all die Sorgen trugen. >>Wie? Wie soll ich uns retten indem ich schreibe?<< fragte ich. Sie bedeutete mir, mich zu setzen. Ich setzte mich, Frau Zimmermann tat es mir gleich. Sanft schob sie mir das Buch entgegen. >>Wie würdest du dem Dunkel denn entgegentreten? Schreib es einfach auf.<< Wortlos, mit zitternden Fingern nahm ich den Bleistift und blätterte zu der nächsten freien Seite. Zögerlich setzte ich den Stift an und schrieb.
„Das Dunkel breitete sich aus, während ich mich vorbereitete ihm entgegenzutreten. Ich musste es mit dem zu Grunde bringen was es zu fürchten schien. Licht und Mut. Doch ich kann dies nicht allein schaffen. Ich brauche Hilfe von möglichst vielen Menschen mit viel Mut, um so viel Licht zu schaffen wie es nur möglich ist.“
Ich stoppte und sah Frau Zimmermann an. >>Woher wissen sie das?<< Sie sah mir in die Augen und zuckte nur mit einem verschmitzten Lächeln die Schultern.
Version 2, Umbenannt, Vorheriger Titel: Rote Armee, Zeichen (mit Leerzeichen: 9893)