Von Simone Tröger

 

Ein Kaffee wäre jetzt das Richtige, ehe mich meine nervenraubende Arbeit völlig um den Verstand brachte. Zahlen waren von jeher nicht mein Ding, doch die Buchhaltung und Statistik mussten sein. Ohnehin standen mir nun 15 Minuten Auszeit zu.

Aus dem Automaten im Pausenraum ließ ich also das Getränk in einen Becher laufen, führte ihn zum Mund und hielt das Gefäß sofort weiter von meinem Körper weg. Dabei machte ich ein angeekeltes Gesicht.

Just in dem Moment kam meine Kollegin und Freundin Silke vorbei, die in einer anderen Abteilung mit nicht minder schwierigeren Aufgaben zu tun hatte.

Es ergab sich ein kurzes Gespräch:

 

„Hallo!

Ich hoffe, du hast heute schon einen Kaffee getrunken, Silke. Dieser hier ist nämlich nicht aus Äthiopien, sondern aus der Arktis. Zumindest so kalt und wässrig.“

„Guten Morgen!

 Ja, ich hatte daheim schon einen. Wenn du das sagst, spare ich das Geld.“

„Soll ich dir meinen Traum von heute Nacht erzählen? Du kommst auch drin vor.

Der Traum lenkt uns beide von dem Gedanken daran ab, dass wir noch mindestens sechs Stunden ohne trinkbaren Kaffee „schuften“ müssen.

 

„Zum Glück gibt es die Pause auch ohne Kaffee.

 Also, lass gern mal hören!“

„Schön.

Ich war ein kleines Mädchen, etwa vier-fünf Jahre alt. Nach einem Tag im Kindergarten lag ich abends im Bett. Mein Papa, der ganz anders aussah als in Wirklichkeit, wollte mir eine Gute-Nacht-Geschichte aus meinem Lieblingsbuch vorlesen. Das gelang ihm nicht, denn ich hatte erst andere Dinge zu  klären.  Wir unterhielten uns.“

*

„Papa?“

„Ja, mein kleines Prinzesschen?“

„Weist du wa-has?“

„Nein, was denn?“

„Ich habe heute gar nicht „Prinzessin“ gespielt. Ich durfte bei den Jungs mitmachen.“

„Das ist schön. Wie kam das?“

„Erst habe ich mit Silke „Mutter und Kind“ gespielt. Die Papas waren arbeiten.

Dann hat der Markus unsere Puppenkinder weggenommen und versteckt.“

 

„Das ist ja unerhört!“

 

„Da habe ich mit ihm geschimpft…

Dann ist er einfach hingefallen, und die Silke wollte nicht mehr mit mir spielen.

Nur wegen dem blöden Markus.“

 

 

 

 

 

„Vielleicht ist der Markus über einen Baustein gestolpert und dann hingefallen.

Und mit Silke spielst du morgen wieder!“

 

„Nein, der Markus ist nicht gestolpert. Er ist einfach so umgefallen…

Der Olaf hat das gesehen und gesagt, dass ich Superkräfte habe…

Und mit der Silke möchte ich nie mehr spielen.“

 

„Markus ist bestimmt schnell wieder aufgestanden?“

 

„Ja. Dann hat er gesagt…  weil der Olaf gesagt hat, dass ich Superkräfte habe, dass ich „Superman“ sein darf… Markus und Olaf waren beide „Hilfs-Superman“… Da habe ich auch gemerkt, dass ich Superkräfte habe, weil es die anderen gesagt haben.“

 

„Was macht man denn, wenn man „Superman“ ist?“

 

„Na – die Welt vor bösen Drachen retten…

Den gefährlichsten Drachen hatte ich schon tot gemacht. Mit einem Schwert.

Da war ich der Superheld.“

 

„Habt Ihr Schwerter im Kindergarten?“

 

„Nei-hein. Bloß so aus Spie-hiel.

Wir haben mit den Armen gewedelt. Aber da hat uns die Frau Reichenbacher ermahnt. Die hat gedacht, wir hauen uns.“

 

„Habt ihr denn die Drachen besiegt?“

 

„Nei-hein. Der König von der Welt hat gesagt, wir sollen das in vier Stunden schaffen, dann gibt er uns seine einzige Tochter zur Fra-hau. Aber die wollten wir alle nicht.“

 

„Warum nicht?“

 

„Weil die komisch ist. Weißt du – die war aus Luft. Die gab es nicht in Echt.“

 

„Das ist natürlich ein Grund…

Weißt du denn, wie groß die Welt ist und wieviel es da zu retten gibt?“

 

„Ja, das weiß ich!“

 

„So?“

 

„Ja. Von hier bis Köln. So groß ist die Welt… Oder bis zur Oma.“

 

„Du hast recht. Die Welt ist ungefähr so groß – und noch ein bisschen größer.“

 

„Papa?… Gehört auch „Tokio“ zur Welt?“

 

„Selbstverständlich. Tokio gehört auch zur Welt. Auch Australien. Das ist ein Land, ganz weit weg.“

 

 

 

 

„Weiß ich doch!… Haben die Menschen in Australien auch Superkräfte?“

 

„Bestimmt gibt es da auch Leute mit Superkräften.“

 

„Dann rette ich erst in Köln…, dann, wo die Oma wohnt…, dann in Tokio…, dann in Australien die Menschen vor den bösen Drachen, so lange, bis ich damit fertig bin.“

 

„Genau…“

 

„Das dauert 1000 Stunden, nicht nur vier… Tausend ist nämlich mehr als vier… Das habe ich im Kindergarten schon gelernt…

Vielleicht dauert es auch so lange, bis ich in die Schule komme.“

 

„Jetzt schlaf erst mal, du Superman, damit du morgen wieder Superkräfte hast und die Welt retten kannst!“

 

„Papa?…  Hast du früher auch immer „Superman“ gespielt?“

 

„Na klar! Darum weiß ich, dass Supermänner ganz viel Schlaf brauchen.“

 

„Dann will ich doch lieber „Prinzessin“ sein. Ich bin noch gar nicht müde, … und eine Geschichte wolltest du mir auch noch vorlesen.“

 

„Schlaf erst einmal. Und morgen erzähle ich dir die Geschichte „Superman rettet die Prinzessin vor dem bösen Drachen“

 

„Papa?… Weißt du noch was?…

Die Mama hat gesagt, in Australien leben Kängurus. Die sind niedlich. Können wir   B-i-t-t-e   auch eins haben?“

 

„Nein. Das geht nicht. Die würden Australien vermissen.“

 

A -b-e-r,    wenn es in unserem Garten so aussieht wie in Australien, denkt das Känguru, es ist daheim.“

 

„Wir können doch nicht unseren Garten umbauen. Außerdem frisst das Känguru dann unsere schönen Blumen.

Am besten, du schläfst erst einmal, und morgen bist du wieder Superman, Prinzessin oder Känguru!“

 

„Papa!!!… Ich bin doch kein Känguru, ich bin ein Mädchen.“

 

„Und kleine Mädchen müssen schlafen!“

 

„Papa?…  Spielen wir morgen „Superman“?

Wenn du die Welt in vier Stunden vor den bösen Drachen rettest, darfst du die Mama heiraten.“

 

 

*

 

 

 

 

„… und dann hat der Wecker geklingelt. Träume, an die ich mich erinnern kann, habe ich selten. Ich hätte zu gern gewusst, wie die Unterhaltung mit meinem Papa weitergegangen wäre. Vermutlich fragte ich ihm noch Löcher in den Bauch.

Aus welchem Grund ich diesen Traum hatte, erschließt sich mir auch nicht. Weder der Superman noch die Prinzessin waren zuvor präsent. Lediglich eine Doku über Kängurus habe ich gestern im Fernsehen verfolgt.“

 

„Ja. Ein süßer Traum. Ich habe das Bild richtig vor mir.

Wie gemein, dass ich wegen Markus nicht mehr mit dir spielen wollte.

Doch das haben wir im Laufe der Jahre gut hinbekommen.“

 

„Vielleicht träume ich nächstes Mal von „Superwoman“. Jetzt brauche ich meine Superkräfte

zunächst für den Aktenstapel.

Also – „Frohes Schaffen!“

 

„Mir sagt der Traum etwas sehr Wichtiges:

Wir müssen unbedingt bald ein Klassentreffen organisieren!

Nicht nur Markus und Olaf werden begeistert sein.

Adieu – bis zur Mittagspause!“

 

 

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