Björn D. Neumann
20:00 Uhr – 4 Stunden zum Abgrund
„Stani, Du musst aufwachen“. Mühsam öffnete der 44-jährige die Augen. Er war doch gerade erst eingeschlafen, nachdem er seine Schicht im „Oko“ beendet hatte und heimgekommen war. Zärtlich strich ihm seine Ehefrau Raissa durch das verwuschelte Haar. „Jewgeni hat angerufen. Er ist krank. Du musst seine Schicht übernehmen.“ Stanislaw Petrow stöhnte auf.
„Hilft ja nichts. Danke, Raissa. Ich mache mich direkt fertig und fahre nach Serpuchow.“ Mit diesen Worten verschwand er im Badezimmer der kleinen 3-Zimmer-Wohnung im Norden Moskaus. Als Oberstleutnant der Roten Armee war er schon privilegiert. Eine Wohnung in Moskau, der Lada stand vor der Tür. In der streng militärisch organisierten Sowjetunion war man in dieser Position so etwas wie ein Superheld. Nur, dass seine Aufgabe streng geheim war und niemand, nicht einmal seine Frau Raissa, wusste, was seine Aufgabe war. Als Kind war er an eine verbotene amerikanische Actionfigur gelangt und irgendwie fühlte er sich manchmal wie dieser „Batman“, wenn der in seinem hochtechnisierten Bat-Cave die Verbrecherjagd organisierte. Stets im Geheimen und unbeachtet von der Öffentlichkeit. In diesem Bewusstsein zog er seine Uniform an, tastete in der Jacke nach der kleinen Figur, die er immer als Talisman bei sich trug und verabschiedete sich von seiner Frau.
Eine halbe Stunde Autofahrt später stand er an der Einlass- Kontrolle der Serpuchow-15-Bunker-Anlage.
21:00 Uhr – 3 Stunden zum Abgrund
In einer Hand eine Aktentasche, in der anderen eine Tasse Tee, öffnete er mit dem Ellbogen die Eingangstür des Kontrollzentrums. Der Raum war kaum beleuchtet und in das dunkle Grün der monochromen Bildschirme getaucht. Als er bemerkt wurde, sprangen die Soldaten an den Monitoren auf und salutierten. Petrow stellte die Tasse auf seinen Schreibtisch und salutierte ebenfalls. „Leutnant Smirnow, wie ist die Lage?“
„Alles ruhig. Keine Vorkommnisse, Genosse Oberstleutnant.“
„Sehr gut, dann hoffen wir mal, dass uns die Amis eine ruhige Nacht bescheren, was?“, fragte Petrow in die Runde.
„Jawoll, Genosse Oberstleutnant“, kam die Antwort wie aus einem Mund.
Petrow wurde von den Soldaten geschätzt. Er verstand es, die Stimmung mit einem lockeren Spruch immer wieder aufzuheitern, ohne dass darunter die Disziplin und Einsatzbereitschaft der Männer litt. Dies trug ihm den Respekt seiner Untergebenen ein, wurde von den Vorgesetzten aber stets mit einem kritischen Blick beäugt. Härte und Disziplin waren normalerweise das alltägliche Brot eines Rotarmisten.
22:00 Uhr – 2 Stunden zum Abgrund
Petrow beugte sich über die Schulter von Smirnow, um einen besseren Blick auf dessen Bildschirm zu erhaschen. Zu sehen waren die Umrisse der Vereinigten Staaten von Amerika. Mit Punkten waren die Basen der amerikanischen Nuklearwaffen-Arsenale markiert.
„Immer noch keine Vorkommnisse, Genosse.“
„Gut so. Unser neues Satelliten-System scheint ja einwandfrei zu arbeiten. Weitermachen!“
Die Lage war äußerst angespannt. US-Präsident Reagan sorgte für einen Skandal, als er in einer Radio-Ansprache aus ‚Spaß‘ den Erstschlag ankündigte. Atomraketen wurden in West-Deutschland stationiert und mit dem SDI-Programm trugen die Amerikaner den kalten Krieg in den Weltraum. Immer wieder wurde der sowjetische Luftraum durch die Amerikaner verletzt, was in der Konsequenz zum tragischen Abschuss einer Koreanischen Linienmaschine führte. Es schien so, als ob nur der Funke fehlte, der diese explosive Gemengelage zwischen den Blöcken entzünden würde. Und Petrow wusste, was das bedeutete – die Vernichtung der Menschheit. Und er wusste auch, dass die Führung der Sowjetunion nicht zögern würde, den Amerikanern zuvorzukommen. Zu tief saß der Stachel des Überfalls auf Mütterchen Russland im 2. Weltkrieg.
23:00 Uhr – 1 Stunde zum Abgrund
Stanislaw gähnte. Die Stunden Schlaf, die ihm fehlten, machten sich bemerkbar. Und die tägliche, monotone Arbeit sorgte auch nicht dafür, dass die Lebensgeister geweckt wurden. Die Soldaten saßen vor ihren Bildschirmen und warteten auf Bewegungen, die in ihrer Hoffnung nie eintreten sollten. Stanislaw saß ihnen gegenüber am leicht erhöhten Schreibtisch und empfing von seinen Männern in regelmäßigen Abständen die Meldung, dass keine besonderen Vorkommnisse vorlagen. Dies dokumentierte er dann akkurat im Schichtbuch. So ging es Stunde für Stunde, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Er nahm gerade einen Schluck aus der Teetasse und wollte die neueste Ausgabe der Prawda aufblättern, als Leutnant Ivan Smirnow entsetzt aufschrie.
00:00 Uhr – Die Welt steht am Abgrund
„Alarm! Abschuss eines ballistischen Flugkörpers vom Staatsgebiet der USA!“ In zwei Sätzen war Petrow am Bildschirm des jungen Soldaten. Von einer der Markierungen auf dem Bildschirm entfernte sich ein blinkender Punkt.
„Welcher Stützpunkt ist das?“
„Die Malmstrom Airforce Base in Montana, Genosse.”
„Hat jemand weitere Bewegungen?” Die Soldaten schwiegen. „Was sagt das Radar?“
„Keine Bewegung. Es gibt bis jetzt kein Eindringen in den sowjetischen Luftraum.“
„Danke. Dieser Flugkörper kann frühestens in 28 Minuten auf dem Radar sichtbar werden. Bis dahin müssen wir uns auf das neue Satelliten-System verlassen“, sagte Petrow mehr zu sich selbst und fügte flüsternd hinzu: „Aber warum nur ein Flugkörper? Das macht keinen Sinn!“ Petrow griff nach der Figur in seiner Tasche. Wie würde der Superheld reagieren? Aus großer Macht erwächst eine große Verantwortung. Dennoch war das Protokoll eindeutig. Er musste seinen direkten Vorgesetzten informieren. Nachdenklich ging er zu seinem Schreibtisch. Sein Magen krampfte. Fünf Augenpaare verfolgten ihn mit besorgten Blicken. Er nahm den Hörer ab und wählte eine dreistellige Nummer.
„Hier Wotinzew. Was ist los?“
„Genosse General, ich muss einen Vorfall melden.“ Petrow zögerte.
„Was für einen Vorfall? Reden Sie schon, Mann!“
„Der Computer meldet einen Raketenabschuss in den USA.“
„Einen was? Sind sie sicher?“
Petrow zögerte wieder, dann antwortete er: „Nein, Genosse General!“
„Wieso? Wissen Sie, was auf dem Spiel steht?“
„Jawohl, Genosse General. Es handelt sich nur um einen Flugkörper. Das kann nicht stimmen. Um unsere dezentrale Zweitschlagfähigkeit auszuhebeln, benötigt es einen gleichzeitigen Angriff mit hunderten Nuklearraketen. Es macht keinen Sinn!“ In diesem Moment schrie Smirnow: „Vier weitere Flugkörper sind gestartet!“
Wotinzew antwortete gefasst. „Ich werde den Genossen Generalsekretär informieren und um Freigabe zum Gegenschlag bitten!“
„Nein, ich bitte Sie. Auch fünf Raketen machen ebenso wenig Sinn. Unser Satelliten-System ist neu und noch fehleranfällig. Bitte! Geben Sie mir 15 Minuten Zeit und lassen Sie uns den Angriff mit dem Radar bestätigen.“
„Um Gottes Willen! Können wir uns 15 Minuten leisten?“
„Können wir uns leisten, nicht zu warten, Genosse General?“
„Beten Sie, dass Sie Recht behalten, Petrow. Ich erwarte Bericht in 15 Minuten!“
00:15 – Showdown
„Laut Satellit erreicht der erste Flugkörper sowjetischen Luftraum in 2 Minuten“, meldete Smirnow.
„Aktivität auf dem Radar?“, fragte Petrow zurück. Mit zitternden Händen stellte er seine Teetasse ab. Die Batman-Figur, die er die ganze Zeit in der Hand hielt, schmerzte unter dem Druck seiner Faust.
„Nichts.“
Die Atmosphäre des Kontrollzentrums war bis auf das Unerträgliche gespannt. Petrow wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn. Der Sekundenzeiger der großen Uhr bewegte sich wie in Zeitlupe.
„Flugkörper bricht laut Satellitensystem in sowjetischen Luftraum ein. Aber keine Anzeige auf dem Radar!“ Mit diesen Worten brach ein unbändiger Jubel aus. Stanislaw Petrow ließ sich erschöpft in seinen Bürostuhl fallen, blickte für einen Moment in die Leere und griff zum Telefonhörer. In diesem Moment wurde es mucksmäuschenstill.
„Danke, Genosse General. Es war nur meine Pflicht.“
Als Petrow auflegte, sah er in die Augen der Soldaten. Einige weinten. Leutnant Smirnow straffte sich als Erster. Nahm Haltung an, salutierte in Richtung Petrows und begann die sowjetische Nationalhymne zu singen:
„Sojus neruschimy respublik swobodnych
Splotila naweki Welikaja Rus.
Da sdrawstwujet, sosdanny wolei narodow,
Jediny, mogutschi Sowetski Sojus!“
Ein Jahr später
Petrow saß wie jeden Morgen im Gorki-Park und las die Prawda. Ein junger Soldat ging an ihm vorüber, blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Genosse Oberstleutnant?“
Stanislaw blickte auf und sah Smirnow an. Lächelnd antwortete er ihm: „AD.“
„Nicht zu fassen! Was ist passiert?“
„Nun, nach dem ‚Vorfall‘ wurde ich zu Wotinzew bestellt. Er beglückwünschte mich, stellte mir eine Beförderung und Auszeichnungen in Aussicht.“
„Und dann?“
„Offensichtlich stieß das in höchsten Kreisen nicht auf Gegenliebe. Es wäre ein Eingeständnis gewesen, dass die sowjetische Technik doch nicht so überlegen ist. Man stelle sich vor – fast hätten Sonnenreflexionen von Wolken die Vernichtung der Menschheit ausgelöst. Jedenfalls wurde ich aufs Abstellgleis gesetzt und später wurde mir sogar der Abschied nahegelegt. Zur Krönung warf man mir vor, ich hätte das Schichtbuch an jenem Abend nicht ordnungsgemäß geführt.“
„Das ist ein Skandal, Stanislaw! Für uns werden Sie immer ein Held sein. Es war uns eine Ehre, unter Ihnen gedient zu haben.“
„Tja, Individuen wie Superhelden passen nicht in das sozialistische Weltbild.“ Mit diesen Worten stand Petrow auf und reichte Smirnow die Hand zum Abschied.
Smirnow blickte Stanislaw noch eine Zeit in Gedanken nach. Erst dann bemerkte er die kleine Batman-Figur, die sein ehemaliger Vorgesetzter ihm in die Hand gelegt hatte.
9.492 Zeichen – Version 2
Inspiriert und in Gedenken an Oberstleutnant Stanislaw Petrow, der in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1983 den 3. Weltkrieg verhinderte.