Von Marianne Apfelstedt

Vorsichtig schaue ich hinein. Kein Geräusch ist zu hören, ich schließe die Türe, kauere mich auf dem Boden zusammen und spähe unter den den WC-Türen hindurch, nirgends zeigen sich Schuhe mit Beinen dran. Beruhigt öffne ich die erste Tür und verschließe sie von innen. Blödes Pauschalangebot! Keine Wetten mehr mit Tiny, die hat sicher gewusst, dass ich in einem Mann landen würde, wenn es zu wenige freiwillige Frauen gibt. Jetzt weiß ich, was bei dem Fragebogen gemeint war mit Spezifizieren Sie Ihren Tandemmenschen.

Der Spiegel zeigt mir sein Gesicht mit Dreitagebart und Grübchen am Kinn. Graue Augen blicken fragend und ich spüre, wie er mich zur Seite drängen will. Schnell schlucke ich eine der blauen Pillen, spüle sie mit Wasser aus dem Hahn nach. Das war knapp. Langsam wechselt sein Bewusstsein wieder in die Non-REM-Phase und ich kann ihn steuern. Ich wähle an meinem Armband den Chronografen aus und stelle eine Erinnerung für die nächste Pille ein. Auf dem Display blinkt der Eingang einer dringenden Nachricht.

Schwungvoll öffnet sich die Tür zum Damen-WC.
„Nanu, junger Mann, wohl die falsche Tür erwischt.“ Ich beeile mich und trockne die feuchten Hände an der Jeans ab, dann troll ich mich, um mich bei den Reisenden, die zum Bahngleis des ICE nach München strömen, einzureihen. Eine Durchsage ist über das Stimmengewirr der Menschen auf dem Bahnsteig kaum zu verstehen.

„ICE699, Abfahrt 18:31 Uhr über Ulm ….. Störung ….. fällt aus. Wir bitten Sie, auf den Regionalexpress auszuweichen. Ihre nächste Reisemöglichkeit ist der Regionalexpres auf Gleis 18.“ Wo ist Gleis 18? Suchend blicke ich mich um.
„Reisen im 21. Jahrhundert sind so beschwerlich“, murmele ich vor mich hin, mein Zeitfenster wird merklich kleiner, wenn ich die Wette gewinnen will, muss ich diesen Zug erreichen.
„Wem sagst du das? Hey! Du bist wohl nicht von hier.“ Wenn der wüsste. „Willst du zum Gleis 18? Dann solltest du dich beeilen.“ Schon läuft er los und ich haste ihm hinterher. Zum Glück überragt er mit seiner roten Cap die meisten Menschen, die auf dem Bahnsteig emsig, wie Ameisen ihrem Ziel entgegenströmen. Gemeinsam winden wir uns durch die Reisenden. Vor der Rolltreppe zum Gleis 18 kommt die Ameisenschlange abrupt zum Stehen. Von weiter vorne schieben sich Menschen frustriert nach hinten durch.
„Die Regionalbahn ist voll und die nächste fährt erst in zwei Stunden.“
„Das darf doch nicht wahr sein, ich muss heute noch nach München.“ Meine Hand krampft sich um die Dose mit den blauen Pillen in meiner Jackentasche, wenn sie ausgehen, landet mein Bewusstsein im REM-Schlaf ohne Wiederkehr.
„Komm mit!“, ruft mein Wegbegleiter, und wieder bemühe ich mich, mit ihm Schritt zu halten. Sobald wir aus dem Menschenpulk raus sind, stellen wir uns an die Wand und er tippt und scrollt auf seinem Handy. Wir stehen still, wie im Auge eines Sturms, während all die Menschen ihrem Ziel entgegenströmen.
„Wir haben Glück. Bei der Mitfahrzentrale sucht Miri eine Reisebegleitung, sie nimmt uns mit nach München.“ Er strahlt mich an und ich verstehe nur Bahnhof. Was ist eine Mitfahrzentrale?
„Cool!“ Diese veralteten Handys sind durchaus brauchbar.
„Miri holt uns direkt hier am Bahnhof ab. Sie sollte in einem Viertelstündchen da sein. Komm mit!“ Und schon wieder renne ich dem Kerl mit den langen Beinen hinterher. Urlaub ist das keiner. Vor einem Coffeeshop bleibt er stehen.
„Die einzige Bedingung, die sie gestellt hat, ist: Wir sollen ihr einen Hot Pumpkin Spice Latte in XL mitbringen und uns an ihren Spritkosten beteiligen.“
„Kein Kaffee für mich, ich warte hier auf dich.“
„Ok. Was magst du?“
„Nichts, danke.“ Als er außer Hörweite ist, halte ich mein Armband ans Ohr, um die dringende Nachricht abzuhören.
„Nachrichten sind derzeit nicht abrufbar.“ Zeigt sich ein Memo. Auf dem Display. Vermutlich sind das Interferenzen, davon stand etwas auf den Infoseiten.

Mit zwei Bechern Heißgetränk läuft mein Wegbegleiter mit den langen Beinen in gemäßigtem Tempo zum Ausgang und ich entspannt hinterher. Sein schlaksiger Körper steht im Gegensatz zum knackigen Po, der durch die enge Jeans betont wird. Wir stehen an der Ausfahrt zum nahegelegenen Parkplatz, als eines dieser alten Automobile, ein VW-Bus, vor uns anhält. Mein Begleiter öffnet schwungvoll die Tür und reicht eines der Heißgetränke nach innen weiter.
„Servus Miri, prima dass du uns mitnimmst. Ich bin Fred und das ist …“, fragend sieht er mich an.
„Alex.“
„Dann steigt mal ein. Ich habe einiges an Gepäck dabei, hinten könnte es eng werden.“ Tatsächlich muss ich einen großen Karton zur Seite schieben, um mich auf den Rücksitz zu zwängen.
Fred und Miri sind ziemlich schnell in eine Diskussion über eine Serie vertieft, von der ich noch nie etwas gehört habe. Ihr Pferdeschwanz wippt bei jeder Bodenwelle. Fasziniert beobachte ich, wie einige feine Strähnen sich kringeln und ein Tropfen Schweiß ihren Nacken entlang rinnt. Ob ihre Haut sich zart und heiß anfühlt? Ihre Hand stellt den Rückspiegel in meine Richtung. Ertappt schaue ich aus dem Fenster, fühle Hitze aufsteigen. Die Bauwerke weichen immer mehr grünen Wiesen und Bäumen, an denen ich mich nicht sattsehen kann. Diese intensiven Farben lassen sich nicht mit den Aufzeichnungen vergleichen, auch die Luft riecht ganz anders als in meiner Zeit. Zwischen dem Grün taucht ein See auf und ich würde am liebsten anhalten, um mir diesen aus der Nähe zu besehen. Große Wassermassen gibt es zu Hause nicht mehr. Ich schließe die Augen, stelle mir vor, einzutauchen. Mit den Beinen immer weiter ins Wasser zu laufen, bis es mich bedeckt, kühl. Streicht mir über meine Wange, fährt zart über meine Lippen. Ein blumiger Duft hüllt mich ein und ich öffne die Augen, schaue direkt in ihre blauen. Ich richte mich auf und sie zieht ihre Hand zurück.
„Sind wir schon da?“
„Nein, es ist noch ein gutes Stück bis München. Du warst einfach nicht wachzukriegen.“ Kommt von den blauen Pillen, eine der häufigsten Nebenwirkungen.
„Im Auto schlafe ich immer am besten.“ Ich sehe mich draußen um. „Wo ist Fred?“
„Der Motor gibt komische Geräusche von sich und wird später in der Werkstatt durchgecheckt. Fred holt Proviant. Wir können auf der Wiese neben der Werkstatt mein Zelt aufstellen. Morgen früh geht es dann weiter.“ Sie drückt mir verschiedene Utensilien in die Arme, die sie aus den Tiefen des Fahrzeugs befördert. Mist! Schon wieder eine Verzögerung. Mir läuft die Zeit davon. Als ich Miri folge, wird mir kurz schwindelig, sein Bewusstsein kämpft, er will aufwachen. Zeit für die Nächste. Das könnte jetzt knapp werden, mein Vorrat schrumpft, wenn ich keine Pillen mehr habe, versinkt mein Bewusstsein in einer Non-REM-Phase und ich bleibe in der Vergangenheit stecken, in seinem Körper. Mit zittrigen Händen öffne ich das Döschen und schütte den kläglichen Rest Pillen in meine Handfläche. Hastig schlucke ich eine. Miri hat bereits das kleine Zelt ausgepackt und drückt mir die Ecken in die Hand. Geschickt baut sie das Zelt auf, ich rücke zur Seite, da ich keine Ahnung habe, wie das zu bewerkstelligen ist. Als ihr fragender Blick mich trifft.
„Zelten war in meiner Familie nicht üblich, ich bin eher der Pauschalurlauber.“
„Das sieht man dir an.“

Zum Essen gibt es Teigteilchen in roter Soße, die sich Ravioli nennen. Mir haben sie geschmeckt, nur Fred hat verzichtet, weil sie mit Fleisch gefüllt sind. Schmollend hat er sich bald ins Zelt verabschiedet.
„Na los. Der Wein schmeckt sehr gut.“ Ich sehe zu, wie Miri die rote Flüssigkeit in zwei Becher gießt. Ein kleiner Schluck kann nicht schaden, natürlich ist Alkohol eine verbotene Substanz. In der Zukunft hat der Rat alle Stimulanzien verboten, viel zu unberechenbar ist ihre Wirkung. Wobei, an meinem letzten Abend werde ich mal gegen einige Regeln verstoßen, zu Hause bietet sich diese Gelegenheit nicht mehr und die Hand des Rates reicht nicht bis hierher. Bin gerade in rebellischer Stimmung.
„Ich habe noch nie Wein getrunken.“ Zaghaft nippe ich. Die Flüssigkeit schmeckt fruchtig und rinnt warm meine Kehle hinunter. Miris Lippen kommen näher, drücken sich sanft auf meine.
„Jetzt kann ich den Wein auf deinen Lippen schmecken.“ Meine Arme führen ein Eigenleben und ziehen sie an mich. Was tue ich hier? Ich vergrößere den Abstand zwischen uns. Ich bin eine Frau und benutze den Körper von einem Mann, kann ich da eine Frau küssen?
„Hast du schon mal eine Frau geküsst?“, frage ich unvermittelt. Sie rückt wieder näher.
„Durchaus.“ Schon spüre ich wieder ihre Lippen, gleich vergesse ich, wer und wo ich bin. Wollte ich nicht Regeln brechen?
„Gib mir einen Moment.“ Ich stehe auf, gehe auf die nahen Bäume zu und stecke eine weitere Pille in den Mund. Mit einem Schluck Wein spüle ich die Pille hinunter und drücke meine Lippen auf ihre. Alexandra drängt Alexander zurück und ich bin bereit weitere Regeln zu brechen. Die Nacht hüllt uns ein, genauso, wie die XXL-Decke, die ein wenig kratzt.

Am Morgen erwache ich, als die Sonne meine Lieder kitzelt. Beim Aufsetzten bemerke ich das Blinken einer dringenden Nachricht auf meinem Chronografen.

„Das Zeitfenster für den Rücktransport schließt sich in 12 Stunden, 18 Minuten und 35 Sekunden. Die neuen Koordinaten für Ihren Rückwarppunkt erhalten Sie direkt am Anschluss an diese Nachricht. Wir freuen uns sehr, dass Sie mit Pegasus in die Vergangenheit reisen, und schreiben Ihnen für die Komplikationen auf Ihrer Reise 50 Bitcoins gut. Bitte vergessen Sie nicht, ihrem Tandem Menschen die grüne Pille zum Entkoppeln zu verabreichen.“ Entgeistert starre ich auf das Koordinatenfeld, das auf meinem Armband erscheint. Geplant war München, Anzinger Straße 13 als Rückwarppunkt. Jetzt wurde ich umgeleitet nach Nürnberg, wie mir die Karte zeigte, die kurz aufploppte. Werden die Pillen ausreichen. Meine Zeit wird knapp. Vielleicht kann Miri mich hinfahren? Ich drehe den Kopf und sehe auf ihr schlafendes Gesicht. Unter der Decke schaut ihr Handgelenk hervor, an dem sie das gleiche Model eines Chronografen trägt wie ich.

© Marianne Apfelstedt, Version 3, 9996 Zeichen