Von Hella Sehnert

Es war nur ein Experiment. Ein kleiner Versuch. Wer hätte ahnen können, dass er Wirklichkeit werden und ihn hierher verschlagen würde?

Er hätte nicht einmal im Traum daran gedacht, dass all das, alles worüber er bisher nur Geschichten gehört und Bücher gelesen hatte tatsächlich real werden könnte.
Hätte man ihm noch vor wenigen Stunden gesagt, dass er sich tatsächlich hier befinden würde, er hätte laut aufgelacht. Aber die Erzählungen waren Wirklichkeit geworden, oder zumindest schien dem so.

Ein leichter Luftstoß fuhr durch die zahlreichen Blätter des großen Baumes und ließ sie sacht im Wind zu einer stummen Melodie tanzen, die eher mit dem Herzen als mit den Ohren zu hören war.
Leise, fast lautlos ließ sich ein mit silbrigen Punkten bespickter Vogel auf einen der großen Äste nieder und pfiff ein Lied. Es klang wundersam in seinen Ohren, fremd und doch so vertraut als hätte er es in seiner Kindheit schon etliche Male gehört und lediglich vergessen, doch nun da es wieder so präsent in seinen Ohren klang und sein Herz schneller schlagen ließ, war ihm als würden mit den zärtlichen Lauten verbundene Assoziationen wieder in ihm wach. Fast war es, als habe jemand einen Film in seinem Kopf gestartet der Szenen aus seinem Leben beinhaltete und dessen Bilder nun vor seinem inneren Auge abliefen als hätten sie nur darauf gewartet erneut wach geküsst zu werden.

Es waren Erinnerungen an laue Sommerabende am See, mit dem Geruch von gemähten Rasen in der Nase und dem Geschmack von kühler Limonade auf den Lippen. Einen Moment lang, nur einen kurzen Augenblick schloss er die Augen, trotz der Angst dass er sich, wenn er sie wieder öffnete, erneut in seiner Heimatstadt wiederfinden würde und atmete tief die süßliche Luft ein.
Fast konnte er sie vor sich sehen, ein kleines Mädchen wie es mit ihren geflochtenen Zöpfen über die Wiese lief, Blumen pflückte und zu den Enten hinab ins seicht glänzende Wasser warf. An den Stellen an denen die Pflanzen die Oberfläche des Sees durchbrachen breiteten sich kleine, immer größer werdende Kreise aus und ließen das Kind kichern.
Es war zwecklos ihr zu erklären, dass sich die Entchen viel mehr über ein Stückchen altes Brot freuen würden, sie würde doch nur erwidern, dass jeder sich über blühender Pflanzen freue und da die Enten nun mal auf dem See wohnten und sich selbst keine Blumen pflücken könnten, müsse sie dies eben übernehmen.  
Sie konnte verdammt dickköpfig sein, wenn es um das vermeintliche Wohl Anderer ging, eine Eigenschaft die ihn zwar manchmal in den Wahnsinn trieb, die er jedoch trotz allem immer an ihr bewunderte und zu schätzen gelernt hatte.

Und doch war sie so verhängnisvoll für die Kleine gewesen…

Ein starker Windstoß ließ ihn aufschrecken und riss ihn aus seinen Gedanken. Mit pochendem Herzen stand er da, die Erleichterung, dass er noch immer an diesem ihm fremden Ort stand blieb jedoch aus. Er hatte Angst und als er den Blick langsam hob und dem vor ihm liegenden Wald entgegen sah, stockte ihm für einen Moment der Atem. Es war vollkommen still um ihn herum und fast schien es so, als hätte der Wind nicht nur jeglichen Sauerstoff aus seinen Lungen, sondern auch allen Mut, den er zuvor noch im Herz getragen hatte davongetragen.

„Komm schon…“, murmelte er und kam sich sogleich albern vor. Es war untypisch für ihn mit sich selbst zu sprechen, doch es gab ihm Kraft und nachdem er die Augen geschlossen und sich gezwungen hatte tief durchzuatmen, sah er der Dunkelheit vor sich bestimmt entgegen.
Der Vogel spreizte seine Flügel, ließ ein fast schon spöttisches Zwitschern hören und flog dann in die entgegengesetzte Richtung davon, hin zu den schier unendlichen und wunderschönen Wiesen und Feldern durch welche er zuvor so lange Zeit gestreift war, nur um sich nun vor diesem prächtigen, doch Bedrohlichkeit ausstrahlenden Wald wiederzufinden.

Nachdem er den Gedanken verworfen hatte wieder umzukehren, trat er zwischen die Stämme der mächtigen Bäume. Ihm war mulmig zumute und es schien ihm, als würden diese hölzerne Riesen mit ihren prächtigen Hüten aus Blättern und Ästen fast jedwedes Sonnenlicht schlucken und alles in einem gespenstigen Schimmer hinterlassen.
Je weiter er sich vorwagte, desto diesiger wurde es und umso mehr wurde er sich dem schlagenden Organ in seinem Inneren bewusst, das er Herz nannte.

„Keine Panik.“, murmelte er leise, doch seine Stimme klang so verloren und schwach in der ihn umgebenden und alles einhüllenden Dunkelheit, dass ihm eine Gänsehaut über die Arme kroch, so wie der Nebel manchmal an einem kühlen Novemberabend langsam über die Felder hinweggleitet.

Für einen Moment schloss er erneut die Augen und versuchte sich zurück an den See zu zaubern, doch diesmal erschien lediglich eine dicht befahrende Straße vor seinem inneren Auge, ein frei laufender Hund, ein Schrei, quietschende Reifen…

Er zuckte zusammen, riss die Augen auf und rang nach Luft.
Es dauerte einen Moment, bis er begriff dass er sich noch immer in diesem abscheulichen Wald befand, zitternd und keuchend, doch lebend.

„Beeil dich.“, flüsterte eine kleine Stimme, tief in ihm verborgen. „Du hast bestimmt nicht ewig Zeit und du hast nicht die geringste Ahnung wo du nach ihr suchen sollst.“

„Sei still!“, befahl er ihr, doch die Angst in ihm kicherte nur und schlang ihre kalten Finger um sein krampfhaft pochendes Herz.
So stolperte er weiter, orientierungslos in einer ihm völlig fremden Umgebung.
„Rose.“, murmelte er leise. „Rose wo bist du?“
Ihren Namen auszusprechen tat gut. Es bot ihm Schutz vor der Kälte die ihm umgab, vor den Schatten die rund um ihn herum lauerten und der Stimme in seinem Inneren, die leise flüsterte:
Gib auf.

Doch er wollte nicht aufgeben. Er konnte nicht aufgeben. Sein Wille war stärker als seine Angst, das wusste er und das war seine einzige Waffe in dieser Welt, in einer Welt in der sein Herzschlag der einzige weit und breit war.

Er lief so schnell und so weit er konnte, doch als er eine kleine Hügelkuppe erklomm versagten beinahe seine Beine und keuchend und mit auf die Knie gestützten Händen kam er zum stehen.

Ich kann nicht mehr. Das ist zu viel.

Die Gedanken waren da, bevor er sie verscheuchen konnte und sie fraßen sich wie ein tödliches Gift in sein Bewusstsein. Stumm schüttelte er den Kopf, immer und immer wieder mit dem verzweifelten Versuch sie zu vertreiben, doch sie hatten sich festgebissen wie eine Zecke und sogen ihm nun zwar nicht sein Blut, doch all die ihm verbliebene Kraft aus.
Er sank zu Boden, resigniert, erschöpft, ausgelaugt.
Gerade als er aufgeben wollte, gerade als er sich eingestehen wollte, dass alles umsonst gewesen war, all die Recherche, die Versuche, das Experimentieren, da fiel sein Blick auf etwas leuchtend Rotes nur wenige Meter vor ihm auf dem Boden. Er hielt den Atem an, rappelte sich auf und stolperte vorwärts. Seine Beine protestierten,doch er zwang sie vorwärts, nur ein, zwei Schritte.

Ungläubig starrte er auf das Blütenblatt zu seinen Füßen.
Sie musste hier ganz in der Nähe sein. Ganz nah…

Entschlossen richtete er sich auf und begann dann dem leicht abfallenden Pfad zu folgen, hinab in eine Art Tal, das nur vereinzelt von Bäumen besiedelt war. Je weiter er ging, desto lichter wurde es und bald begann er mehr als nur Schemen zu erkennen. Auch die Luft veränderte sich, sie war weniger drückend hier unten und es schien ihm fast so als würde eine unsichtbare Last von seinen Schultern genommen werden.

Und dann erblickte er sie. Nicht fern von ihm stand sie da, sie hatte ihm den Rücken zugewandt und hockte in dem etwa kniehohen, nur spärlich wachsenden Gras.

„Rose.“, seine Stimme klang erstickt, doch sie war laut genug dass sie sich umdrehte und ihn anstrahlte.
„Bruderherz!“, lachend und mit ausgebreiteten Armen kam sie auf ihn zugelaufen, ließ sich von ihm hochheben, durch die Luft wirbeln und an sich drücken.
Als er sie sacht auf den Boden absetzte und die Blume, die sie sich hinters Ohr gesteckt hatte gerade rückte, rann eine Träne über seine Wange. Bestimmt wischte sie ihm diese fort, denn für einen 10 Jahre älteren Bruder gehörte es sich nicht zu weinen, so viel war sicher! Vor allem wenn er doch jetzt hier war, um mit ihr zu spielen.

„Wieso weinst du?“
„Ich… Ach, es ist nichts… Ich bin nur glücklich dich endlich wieder zu haben mein kleiner Engel. Ich habe so lange nach dir gesucht.“
Trotzig stemmte sie die Arme in die Hüften und sah ihn tadelnd an. „Dafür hast du aber ziemlich lange gebraucht. Außerdem warst du ja einfach so weg. Ganz alleine stand ich hier, keine Spur von dir!“

Er nickte und fuhr sich mit einer zittrigen Hand über die Augen. „Ich weiß Rose. Ich weiß. Aber erinnerst du dich nicht?“
„Wir waren auf dem Heimweg.“, antwortete sie, die Stirn grübelnd in Falten gelegt. „Und da war dieser Hund, der auf die Straße gelaufen ist. Ja… Und ein Auto war da auch. Das wäre einfach über den Hund drüber gefahren. Aber das habe ich gesehen. Und dann…“, sie dachte nach.
„Dann bist du losgelaufen.“, flüsterte er, kaum hörbar.
„Ja… Und dann war ich hier. Was hat das zu bedeuten Robbie?“
„Nichts Spätzchen… Nichts… Komm mit, wir gehen nach hause.“
„Ist das ein Traum Robbie?“
„Bestimmt. Ganz bestimmt, aber kein schlechter oder?“
„Nein.“, sie schüttelte den Kopf. „Jetzt nicht mehr, jetzt bist du ja da.“

Er lachte und drückte sie fest an sich. Er würde sie zurück bringen nach hause, zurück in die Vergangenheit, zurück an jenen Tag, zu jener Straße und jenem Auto das sie überfahren hatte.

Er hatte nur diesen einen Versuch, das hatte ihm der Mann, den man den Bezwinger des Todes nannte ganz deutlich klar gemacht, aber dieser eine Versuch würde reichen um den Tod seiner kleinen Schwester rückgängig zu machen.

Denn diesmal würde er schneller sein, denn wen der Tod holen würde das war ihm egal, aber dass er jemanden holen würde, so viel war sicher.