Von Ursula Riedinger

Beim Abstauben kamen mir auch ein paar Fotoalben aus Kindertagen in die Hände, in die mein Vater alle Fotos eingeklebt hatte, die es von uns gab. Es waren nicht sehr viele. Dabei stiess ich auf das Foto aus dem Kindergarten, professionell aufgenommen, das die Eltern erwerben konnten. Ein Foto wie Tausende von Kindergarten- und Schulfotos, bei denen die Kinder sitzend und stehend so gruppiert wurden, dass alle darauf passten. Die Klassen waren gross, damals. Auf meinem Kindergartenfoto sass ich neben Doris auf einem kleinen Stuhl in der vordersten Reihe. Hinter uns grössere Buben und Mädchen. Ich war nicht so klein wie Doris, aber da wir unzertrennliche Freundinnen waren, musste ich neben ihr sitzen. Schau lächelten wir beide in die Kamera.

Lange hatte ich jetzt nicht mehr an Doris gedacht. Aber als sie aus meinem Kinderleben verschwand, brach eine Welt zusammen.

Am ersten Tag, an dem ich den neuen Kindergarten besuchte – wir waren frisch zugezogen – setzte mich Fräulein Schütz, die Kindergärtnerin, neben Doris. Bis vor einer Woche hatte dort Remo gesessen, wie ich später erfuhr. Der arme dicke Remo, der dann mit seinen Eltern die Schweiz verlassen musste. Es gab andere Mädchen und natürlich auch Jungen, die gerne neben Doris gesessen wären, aber nun war ich es, die diesen Platz bekam. Sie lächelte mich an. Von da an waren wir quasi Freundinnen und blieben es bis in die vierte Klasse. Sie war eine treue Freundin, hielt immer zu mir. Wir gingen durch dick und dünn.

Dann, von einem Tag auf den anderen kam Doris nicht mehr in die Schule. Ich frage immer wieder nach. Zuerst erzählte Frau Hofmann, unsere damalige Lehrerin, Doris sei krank, käme aber sicher bald zurück. Doris kam aber nicht zurück. Irgendwann merkte ich, dass niemand, am allerwenigsten Frau Hofmann damit rechnete, dass Doris wieder zurückkehren würde. Ich fühlte mich enttäuscht, hintergangen, auch von Doris. Ich fragte meine Mutter, die angeblich nichts wusste. Niemand konnte oder wollte mir sagen, was mit Doris passiert war. Ich nahm alles hin, war aber sehr traurig. Ich vermisste sie so sehr und der Platz neben ihr blieb einige Zeit leer. Frau Hofmann platzierte uns dann alle um, damit ich eine neue Pultnachbarin bekam. Lotti war aber kein Ersatz für Doris. Lange suchte ich mir keine neue Freundin aus Angst, dass ich sie wieder verlieren könnte.

Seither waren Jahre, Jahrzehnte vergangen. Mit der Zeit hatte ich immer weniger häufig an sie gedacht, das Leben war weitergegangen. Ich hatte andere Freundinnen und Freunde gefunden, war glücklich verheiratet gewesen, bis mein Mann starb, hatte zwei erwachsene Kinder. Seit ich wieder mehr Zeit für mich hatte, erinnerte ich mich vermehrt an Episoden aus Kinder- und Schultagen. Es war kein Zufall, dass ich jetzt beim Blättern im Fotoalbum hängengeblieben war.

Als junge Frau kam ich zum Schluss, dass meine Mutter wirklich nichts über den Verbleib von Doris gewusst hatte, aber dass Frau Hofmann sicher etwas erfahren haben musste. Ich suchte nach Frau Hofmann, was nicht so einfach war, wenn jemand nicht im Telefonbuch stand. Eine andere Lehrerin unserer damaligen Primarschule sagte mir dann, Frau Hofmann sei vor ein paar Jahren gestorben. Sie war erst 56 gewesen, so alt wie ich heute bin.

Heute war es einfacher, nach jemandem zu suchen, vorausgesetzt sie, er sei irgendwo im Netz präsent. Plötzlich wurde mir klar, dass ich nochmals nach Doris Loosli suchen wollte. Die Google-Suche brachte nichts Eindeutiges. Ich registrierte mich auf allen Social-Media-Plattformen, die ich kannte, auf Facebook, LinkedIn, Xing und Pinterest. Die Suche konnte beginnen. Auf Facebook, auf das ich am meisten Hoffnungen gesetzt hatte, fand ich ihren Namen nicht. Vielleicht, wahrscheinlich hiess sie ja auch nicht mehr Doris Loosli. Wenn sie überhaupt noch lebte. Stayfriends brachte nichts zutage. Auf Pinterest fand ich ein Bild von Dorothy Loosli aus London. Auf LinkedIn endlich fand ich den Namen. Das Bild war nicht so klar, eine ältere Frau mit feinen Gesichtszügen, die Theaterregisseurin und Theaterpädagogin war. Sie hatte lange im Ausland gelebt, in New York, London, Hongkong und Paris. Wie erkennt man jemanden, den man seit über 45 Jahre nicht mehr gesehen hatte? Es konnte gerade so gut eine andere Frau mit dem gleichen Namen sein.

Ich überlegte es mir lange, sandte ihr dann eine Kontaktanfrage mit der Bemerkung: «Kindergarten 1974? Liebe Grüsse, Karin».

Dann passierte lange Zeit nichts. Eine Woche, zwei Wochen …

Nach vier Wochen kam ein E-Mail über LinkedIn. Doris Loosli hatte meine Kontaktanfrage angenommen. Sie schrieb mir kurz: «Ich erinnere mich gut, möchte dich gerne treffen, liebe Grüsse Doris. P.S.: Lebe in Paris, aber komme ab und zu in die Schweiz».

Ich war ganz aufgeregt. Doris Loosli! Nach so langer Zeit hatte ich sie wieder gefunden. Wir vereinbarten einen provisorischen Termin in einem Monat.

Wir trafen uns in einem Restaurant nahe beim Bahnhof Basel. Es machte mir nichts aus, nach Basel zu fahren und für sie war es offenbar praktischer, da sie dann gleich weiter musste. Sie kam, verspätet, mit federndem Gang auf mich zu. Ich erkannte sofort an ihrem Gang. Es war immer noch diese feine kleine Person, die damals im Kindergarten neben mir gesessen war.

«Karin, wie schön dich zu sehen. Was ist aus dir geworden?»

Ich erzählte ihr ein wenig von meiner Familie. Dann berichtete sie von ihrem intensiven Leben in der Theaterwelt, ihre Gedanken waren ganz eingenommen für ihre eigenen Projekte. Sie hatte kaum ein Ohr für mich.

«Doris, da uns nicht so viel Zeit bleibt, bitte erzähl mir, was damals passiert ist.»

«Damals, was meinst du mit damals?»

«Warum du nicht mehr in die Schule zurückgekommen bis. Ich habe so auf dich gewartet.»

Doris blieb einen Moment still. Dann raffte sie sich auf.

«Ich erzähle sonst niemandem davon, aber wenn du es unbedingt wissen willst…»

«Meine Eltern haben sich das Leben genommen. Es war schrecklich. Ich habe erst später erfahren, wie sie es gemacht haben. Aber niemals warum. Dies quält mich noch heute…»

«Und dann? Wo warst du?»

«Meine Tante war restlos überfordert. Sie hat mich in ein Internat in der Romandie geschickt. Ich wollte dir schreiben, aber ich wusste nicht, was ich dir hätte schreiben können. Zudem mussten wir alle Briefe der Schwester Oberin vorlegen.»

«Aber später, als du erwachsen warst, warum hast du dich nie bei mir gemeldet? Das verstehe ich nicht.»

«Ich weiss, ich hatte ja ein schlechtes Gewissen deswegen, aber es ging einfach nicht. Die Freundschaft mit dir war wie aus einer anderen Zeit. Ich verstehe schon, dass du enttäuscht gewesen sein musstest.»

Dazu gab es eigentlich nichts zu sagen. Und wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Traurig, irgendwie.

Doris verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange.

«Ich muss auf den Zug. Alles Gute, pass auf dich auf, vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.»

Und weg war sie, mit ihrem federnden Gang.

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