Von Eva Fischer

Die Sonne hat den schwarzen Marmor gewärmt, der die Form eines Hinkelsteins hat. Der Regen hat die goldene Schrift mit der Zeit weggewaschen. Nur ich kann deinen Namen noch lesen. Es ist derselbe wie meiner.

Du bist/warst meine Mutter. Ich tue mich schwer mit dem Vergangenheitstempus.

 

Ein Rotkehlchen schaut neugierig zu, wie ich mit der Schaufel die dunkle Erde lockere, um gelbe Narzissen zu pflanzen. Du hast Blumen gemocht. Deine Balkonblumenkästen waren legendär. In einer Tüte hast du Pferdeäpfel als Dünger gesammelt.

 

Ich gehe zum nahegelegenen Brunnen und öffne den Wasserkran, höre zu, wie sich der Wasserstrahl geräuschvoll in die grüne Plastikkanne ergießt. Das erste Wasser nach dem Frost erscheint mir immer besonders kostbar.

Für einen Augenblick schließe ich die Augen, um mich von der Frühlingssonne wärmen zu lassen.

 

Da ist wieder dein Gesicht, als wären all die Jahre nicht vergangen.

Du lachst mich an, bist überglücklich. Ein Kind, endlich ein Kind, nach neun Jahren des Hoffens und Bangens.  

 

Die Kindheit war für mich ein Paradies. Erst später habe ich es mit dir in Verbindung gebracht. Du warst die Sonne, die jeden Tag aufging, auf die man sich verlassen konnte, über die man nicht weiter nachdenkt.

Der Himmel wölbte sich postkartenblau über der Stadt, wo es noch immer Lücken zwischen den Häusern gab, die nach und nach zugemauert wurden. Moderner Beton.

Man schaute nach vorn. Niemals zurück wie Lots Frau. Das brachte Leid.

 

Deine Mutter war während des Krieges gestorben. Du hast sie so vermisst, hättest gern dein spätes Mutterglück mit ihr geteilt.

Auch ich hätte die Frau auf dem verblichenen Foto gerne kennengelernt. Keine Großmutter nahm mich auf den Schoß, schenkte mir zu Ostern Schokoladeneier.

Die Auswahl an Essen im Nachkriegsdeutschland war nicht groß, aber genug, um satt zu werden. Eine Scheibe Brot mit Margarine und Zucker reichte zum Glücklichsein.

Es waren gute Zeiten.

 

Wurden sie besser, als ich zu viel Schokolade aß, später? Pubertät nannte man es. Loslösung vom Mutter-Ich. Nein, ich wollte nicht deine Prinzessin sein, die du bestricken und benähen konntest. Aus Protest trug ich unscheinbare blaue Röcke. Nur nicht auffallen. Denn wer war ich, der ich auf der Suche nach mir selber war?

Es gab keinen Machtkampf zwischen uns. Du ließt mich gewähren. Eleganz und Schönheit blieben für dich wichtig, während ich sie boykottierte.

 

Eines Tages, als ich aus der Schule kam, saßt du erstarrt und teilnahmslos auf deinem Stuhl.  Ich hatte Angst. Mir war, als sei alles Vertraute, Lebendige, Liebenswerte für immer verloren. In der Rückschau war es vor allem diese Hoffnungslosigkeit, die mich verzweifeln ließ. Ich flüchtete zu Freunden. Wie konnte ich dir helfen, die du doch sprachlos geworden warst?

 

Später nahmst du mir mein Schuldgefühl. Es gab tatsächlich ein Später, als du wieder fast die Alte wurdest. Elektroschocks können keine Depressionen heilen. Das Licht am Ende des Tunnels lässt auf sich warten.

Deine seelischen Wunden hatte der Krieg dir zugefügt. Dein Verlobter starb an der Ostfront. Zurück blieben dir Bilder des ungewissen Grauens. Nachts wachtest du manchmal auf von den Schreien der fremden Frau und Mutter, der sie ihr Kind weggenommen hatten. Du warst damals fast dankbar für deine eigene Fehlgeburt.

 

Ich schließe den Wasserkran und trage die Gießkanne zum Grab. Der schwarze Boden saugt gierig die Nässe auf. Die Blutbuche verstreut ihre rosa Blüten.

 

Auf schlechte Zeiten folgen gute Zeiten.

Ich habe geheiratet. Du wurdest Oma. Endlich noch einmal ein Kind! Ich überließ es dir gerne, während ich vormittags meinem Beruf nachging. Du hast es in Liebe erzogen, ohne es zu verwöhnen. Ja, der Junge trug stolz deinen selbstgestrickten Pumuckl-Pullover. Er war viel empfänglicher für deine Ästhetik als ich.

Doch auch Enkelkinder bleiben nicht klein, werden eines Tages flügge.

 

Du wolltest nie alt, nie hässlich, nie gebrechlich werden, keinem zur Last fallen. Du hast nicht gegen den Krebs gekämpft. Am Ende hast du deine Schwester und deine Freundinnen eingeladen und deine Kleiderschränke geöffnet. Du lächeltest glücklich, als sie Modenschau machten und mit vollen Koffern wieder nach Hause fuhren.

Kurz vor deinem Tod starb die Tante meines Mannes. Du nicktest, als ich deine schwarze Bluse zu meiner schwarzen Hose anzog. Ich trug dieselbe Kleidung zu deiner Beerdigung  

 

Loslassen ist eine Lektion, die wir alle irgendwann lernen müssen.

Heute entzünde ich eine Kerze zu deinem 98. Geburtstag.

Ich denke an die Alten, denen ich beim sonntäglichen Besuch der Schwiegermutter im Seniorenheim begegne. Sie blicken mich stumm aus leeren Augen an, halten sich an ihren Stöcken fest, aber sie leben.

 

Mein Kopf sagt, alles ist gut, dennoch spüre ich einen Schmerz.

Ich vermisse dich.