Von Gerd Henze

„Sie wissen schon, dass immer was zurückbleibt? Selbst, wenn Sie sie zurückerobern, wird es nie mehr so wie vorher sein.“
Der Klient schaute beschämt zu Boden und nickte stumm. Er hockte in sich gesunken in einem tiefen Sessel vor dem Panoramafenster des Sprechzimmers.
„Wie haben Sie sie kennengelernt?“
Er wiegte seinen Kopf, holte tief Luft und erzählte.
„Wenn ich ehrlich bin, war sie anfangs gar nichts Besonderes für mich. Sie war immer schon dagewesen. Wie soll ich sagen? Selbstverständlich halt und daher auch kaum beachtenswert. Sie war mir vertraut, aber eher unbewusst. Wir waren Freunde, ohne eine echte Beziehung gehabt zu haben. Klingt das arg durcheinander?“
„Durchaus nicht. Ich glaube, den meisten von uns geht es in dem Alter so. Aber sprechen Sie bitte weiter.“
„Als Kinder sind wir gemeinsam über die Spielplätze getollt, von der alten Bogenbrücke aus in den Fluss gesprungen und auf Bäume geklettert. Wir sind mit dem Fahrrad die Waldwege hinab geprescht und haben den Schlitten wer weiß wie oft den Berg hinaufgezogen, um jauchzend wieder ins Tal hinunter zu brettern. Ich erinnere mich noch, wie viel Angst ich bei meiner ersten Riesenfelge am Reck hatte? Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich das niemals geschafft. Ich wusste einfach, ich konnte mich auf sie verlassen. Da habe ich sie zum ersten Mal so richtig wahrgenommen.“

 

„Welche Eindrücke sind Ihnen von damals in Erinnerung geblieben?“
Die leuchtenden Augen des Klienten tauchten unter die spiegelnde Oberfläche des Canal Grande in Venedig, der als Druck von William Turner an der Wand gegenüber hing.
„Wie wohlgestaltet sie war, ebenmäßig glatt, allzeit bereit für alles, was mir Spaß machte. Geradezu andächtig habe ich sie ausgezogen und sie bewundert, wenn sie wie in allerfeinsten Marmor gemeißelt vor mir stand.“
„Achten Sie sehr auf Äußerlichkeiten?“
„Seien wir doch mal ehrlich! Was zählen schon innere Werte bei dieser fast schon überirdischen Vollkommenheit.“
Der gut situierte Herr wälzte sich gedankenverloren in seinem Sessel. Das Sonnenlicht glänzte auf seinem vollen, blonden Haar, in das sich erst ein paar vereinzelte graue Strähnchen gemischt hatten.
„Wie gern ich sie angefasst und stundenlang gestreichelt habe. Unter ihrer sanften Haut fühlte sie sich so fest und straff an – so voller Lebenskraft und Tatendrang. Die Welt lag uns zu Füßen. Es war unsere schönste Zeit. Jetzt waren wir richtig zusammen.“
„Sie waren stolz auf sie.“
„Und wie! Auf jedes Titelblatt hätte sie es geschafft. Einfach jeder drehte sich um, wenn ich mit ihr durch die Straßen stolzierte – aus Neid und voller Verlangen. Mein Freund Markus zum Beispiel. Der war ja später mit seiner überhaupt nicht mehr zufrieden. Gut, er hatte sich auch nie sonderlich um sie bemüht. Während ich mit meiner auf Achse war, im Wald, am See, in den Bergen, auf dem Rad oder beim Tanzen, saß er viel lieber vor dem Computer und ließ seine links liegen. Als ich liebevoll für uns gekocht habe, gab es bei ihm nur Pizza und Cola.“
„Nun, gewöhnt man sich nicht an alles?“
„Sicher, man gewöhnt sich sogar aneinander, doch muss man aufpassen, dass man sich nicht irgendwann einmal nur noch ankotzt. Um alles in der Welt wollte ich es nicht so weit kommen lassen wie er.“

 

„Und trotzdem hat es Sie erwischt?“
Der Klient ließ den Kopf wieder hängen und barg sein Gesicht in den Händen.
„Ja, hat es. Ich wurde befördert. Hatte ich vorher meine festen Arbeitszeiten, fand ich jetzt immer weniger Momente für sie. Nicht sofort, denn die erste Zeit habe ich mich wirklich zusammengerissen – ganz gleich, wie spät es auch geworden war. Ich war ihr diese Aufmerksamkeit schuldig. Doch nach und nach fand ich immer mehr Ausreden, mich mehr um meinen Job als um sie zu kümmern.“
„Hat sie Ihnen so viel abverlangt?“
„Auf Dauer wurde sie mir einfach zu anstrengend. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch. Warum sollte ich kein Recht auf ein bisschen Schwäche haben, ein bisschen Spaß, ohne ständig nur an sie denken zu müssen? Die anderen machten es doch auch.“

 

„Gab es denn keine Warnsignale?“
„Doch. Nicht ohne Genugtuung und Schadenfreude rieben mir meine Kumpels unter die Nase, was mir selbst schon klar war: Dass ich sie früher oder später verlieren würde, wenn ich mich nicht änderte.“
„Warum taten Sie es dann nicht?“
„Ich glaube, ein bisschen Trotz war mit dabei oder vielleicht auch die Neugierde, wie lang sie es noch mit mir aushalten würde. Schließlich hat sie mich aber doch verlassen – ich hab ihr einfach keine andere Wahl gelassen. Es war nicht fair von mir, all meinen Stress, meinen Kummer auf ihr abzuladen und sie unter meiner Zügellosigkeit leiden zu lassen.“
„Und als sie weg war?“
„Da wurde mir erst richtig klar, was sie mir bedeutet hat. Je weniger erreichbar sie mir schien, um so mehr ließ ich mich gehen. Heulend habe ich am Küchentisch gesessen mit den alten Fotos in der Hand.“

 

„Haben Sie versucht, sie zurückzubekommen?“
Der Therapeut schaute ihn neugierig über seine Notizen hinweg an.
„Reumütig bin ich auf sie zugegangen, doch sie gab sich spröde und pikiert. Ich glaube, nach so langer Zeit will sie nichts mehr mit mir zu tun haben.“
„Meinen Sie, Sie haben sich genug ins Zeug gelegt?“
„Es ist so verdammt schwer. Ich weiß nur, dass ich das nicht allein schaffe. Bitte, helfen Sie mir! Schauen Sie mich doch an! Ich vermisse sie so sehr, meine Figur von früher.“