Von Klaus Frank

Völlig erschöpft vom langen Arbeitstag eilte ich durch die heiß-schwüle Luft zur U-Bahn-Station. Ich hastete die Treppe hinunter und verschwand in den Katakomben. Da es bereits auf 20 Uhr zuging, war nicht mehr viel los; mir begegneten nur ein paar verlorene Seelen, die nicht wussten, wo ihr Ziel lag.

Meine U-Bahn, die Linie 13, kam pünktlich. Ich setzte mich auf einen freien Platz ganz in der Nähe der Tür. Mir gegenüber saß eine junge, äußerst reizende Frau, die mir einen kurzen Blick zuwarf und dann wieder auf ihr Smartphone starrte. Ich spürte den Drang, ihr einige freundliche Worte zu sagen, wollte jedoch nicht als Störenfried gelten.

Es waren sieben Stationen, die ich fahren musste. Eine Zeitspanne, die ausreichte, für eine Weile die Augen zu schließen. Die Erschöpfung lähmte meinen Verstand, so genoss ich, völlig gedankenlos im Halbdämmer versunken, das Dunkel hinter meinen Lidern.

Nach einer Weile schlug ich die Augen wieder auf. Hätte nicht schon längst eine Haltestelle kommen müssen? Einige der Fahrgäste, die ich von meinem Platz sehen konnte, wirkten ebenfalls unruhig. Dann erlosch das Licht, und sargähnliche Finsternis verschlang mich. Selbst die Notbeleuchtung in der Bahn und im Schacht funktionierte nicht. Einige Passagiere schrien auf. Die U-Bahn setzte mit unverminderter Geschwindigkeit ihre Fahrt vor. Es kam keine Information aus den Lautsprechern.

Das Gesicht der Frau mir gegenüber wurde von ihrem Smartphone angeleuchtet. Es wirkte fahl und seltsam aufgedunsen und erinnerte mich an einen verschimmelten Brotlaib.

»Keine Sorge«, sagte ich und hoffte, dass meine Stimme etwas Heldenhaftes und Beruhigendes ausstrahlte. Sie schaute mich an, erkannte ich im diffusen Lichtgerinnsel, das von ihrem Telefon ausstrahlte, erwiderte jedoch nichts.

Es war ein unheimliches Gefühl, mit großer Geschwindigkeit durch völlige Finsternis zu rasen. Wie wichtig war es doch, sehen zu können. Wenn ich sah, war ich in der Lage, Dinge zu begreifen. Sehen war für mich der kürzeste Pfad zur Erleuchtung.

Stimmen wurden laut. Einige Fahrgäste unterhielten sich. Ein anderer brüllte laut: »Macht Licht!« Panik schwang in seiner Stimme mit.

Die U-Bahn fuhr mit viel zu hoher Geschwindigkeit, ich wurde auf meinem Platz heftig durchgeschüttelt. War etwa der Fahrer in Ohnmacht gefallen? Doch deswegen fiel das Licht nicht aus.

Weiter vorn schrien Menschen. Ich fühlte ihre Angst, die zu mir herüberschwappte wie ein übler Geruch.

Ich stellte fest, dass die U-Bahn sich leicht nach vorn neigte, als führen wir in die Tiefe. Viele Meter Erdreich mussten wie ein Siegel bereits über uns liegen, es trennte uns von der lichtdurchfluteten Welt und vom Sonnenschein. Wie konnte das sein? Was sollte ich nur tun? Was konnte ich tun?

Plötzlich vernahm ich ein eigenartiges Summen, Flattern und Schaben in der Luft. Es klang, als hätte ein wuselndes Milliardenheer hungriger Insekten den Zug geentert, mit dem Ziel, jegliches Fleisch von unseren Knochen zu nagen.

Die Schreie der Passagiere begleiteten meine ziellosen Überlegungen, doch so richtig wurde ich mir ihrer erst bewusst, als sie abbrachen. Statt Hilferufe und Schluchzen vernahm ich nichts mehr, was an menschliche Anwesenheit erinnerte. Es war der Lärm des Todes, der plötzlich in meinen Ohren summte.

Selbst von der Frau mir gegenüber bemerkte ich kein Lebenszeichen mehr. Das Display ihres Telefons leuchtete nicht mehr.

»Hallo?«, fragte ich leise. Ich riss meine Augen weit auf, als würde dadurch die Dunkelheit nachgiebiger. »Geht es Ihnen gut?«

Ich bekam keine Antwort, und mein Herz setzte vor Schreck einen Schlag aus. »Hallo?« Ich tastete nach ihr und bekam eine eiskalte Hand zu fassen. Die Frau schrie panisch auf und zuckte auf ihrem Sitz zusammen.

»Alles in Ordnung.« Ich atmete erleichtert auf. »Ich bin es. Ich wollte nur sichergehen, dass Ihnen nichts passiert ist.«

»Was geschieht denn hier nur?« Ihre Stimme klang vor Tränen völlig verschleimt. Sie zog geräuschvoll die Nase hoch.

»Das weiß ich nicht. Ich werde versuchen, es herauszufinden. Wie heißen Sie?«

»Marie.«

»Okay, Marie. Ich werde nach hinten gehen, mich vergewissern, ob dort jemand ist. Ich komme gleich wieder, um Sie zu holen. Ist das in Ordnung, Marie?«

Die Frau antwortete nicht.

»Marie? Haben Sie verstanden?« Wieder tastete ich nach ihr, doch statt ihrer Hand oder eines Beins fand ich lediglich eine leere Sitzfläche. Die Frau war verschwunden, von einer Sekunde auf die andere, ohne dass ich davon etwas mitbekommen hatte. Ich spürte, wie Panik an meine Seite schlüpfte und bedrohliche Botschaften in meine Ohren flüsterte.

»Hallo?«, schrie ich, so laut ich konnte. Keine Reaktion, nur die U-Bahn legte just in dieser Sekunde noch an Geschwindigkeit zu, als wäre meine Angst ein geeigneter Treibstoff. Als sie über eine Weiche rumpelte, riss es mich beinah vom Sitz, mein Kopf schlug heftig gegen das Fenster. Ich stieß einen Klagelaut aus.

Ich stand schwankend auf, umklammerte eine Haltestange und wollte zum Ende der U-Bahn flüchten, doch dann erkannte ich die Sinnlosigkeit meines Plans. Niemand regte sich dort. Alle waren fort, ausgelöscht.

 

Teil 2

 

Ich schrie um Hilfe. Von der Ferne erklang eine Antwort. Ich stieß einen stammelnden Laut der Erleichterung aus. Mit zitternder Hand wischte ich mir über mein Gesicht und stellte fest, dass es feucht vor Schweiß war.

Plötzlich flammte Licht auf, und ich schrie erneut auf, diesmal vor Schmerz. Die Helligkeit bohrte sich mit einer Wucht in mein Hirn, als habe mir jemand Bleistiftspitzen in die Augen gerammt. Stimmen wurden laut, sie klangen besorgt, beruhigend, aber auch verärgert.

Ich fühlte Arme, die mich umschlangen.

»Was machst du denn für Sachen?« Die Stimme meiner Mutter, ganz nah an meinem Ohr. Ihr Haar kitzelte mich am Hals. Ich öffnete meine Augen zu winzigen Schlitzen.

»Verdammt, Junge, weißt du eigentlich, wie spät es ist?« Die Stimme meines Vaters. Sein gewaltiger Bierbauch, der sich unter dem Unterhemd abzeichnete, plusterte sich auf, als wolle er mich verschlingen. »Es ist elf Uhr. Du solltest längst schlafen wie andere Jungs in deinem Alter auch. Morgen hast du wieder Schule. Hast du wieder eines von diesen gruseligen Hörspielen gehört?« Er ging hinüber zu meinem Nachttisch und schaltete das Radio aus, das auf die Frequenz vom Deutschlandfunk eingestellt war. Ein Geschenk meines Großvaters, ein Schaub-Lorenz Touring, in das ich ganz vernarrt war.

»Wir nehmen dir das Radio weg, wenn du nicht endlich begreifst, dass du diesen Mist nicht hören sollst!«

Ich blickte auf die behaarte Hand meines Vaters, die auf dem Radio lag, als wolle er seine Drohung schon in der nächsten Sekunde wahrmachen. »Nein«, protestierte ich schwach. Mehr brachte ich nicht über meine zitternden Lippen. Bloß nicht heulen!, dachte ich. Mein Vater hatte mir mit aller Nachdrücklichkeit beigebracht, dass Tränen Dinge nicht zum Besseren regelten.

Meine Mutter deckte mich zu. Endlose Worte der Belehrung prasselten wie ein Hagelschauer auf mich ein. Meine Mutter war besonnen dabei, fast betüternd, bei meinem Vater hörte ich mühelos den Zorn raus, den er empfand. Seine breitbeinige Präsenz schien den Raum auf ein Minimum zu verkleinern. Ich konzentrierte mich auf die Worte, wodurch es mir gelang, die Tränen, die schon in meinen Augenwinkeln glitzerten, zum Versiegen zu bringen.

Die Köpfe meiner Eltern unterschieden sich in unzähligen Dingen, erkannte ich, während ich lauschte. War der Schädel meiner Mutter eher zierlich und grazil, so war der meines Vaters irgendwie unfertig und skizzenhaft. Just in dieser Sekunde kniff er die Lippen zusammen, sodass es auf unheimliche Weise so wirkte, als befände sich unterhalb der Nase nichts weiter als eine blanke Fläche, auf der nur Bartstoppeln sprossen. Doch im nächsten Moment entfaltete sich sein Gesicht wieder, und er setzte mit seinen Maßregelungen fort.

»Und nun schlaf bitte«, sagte meine Mutter und richtete sich auf.

Im Hinausgehen hörte ich meinen Vater sagen: »Wird Zeit, dass der Junge endlich den Ernst des Lebens begreift. Verdammt, warum ist er so anders als andere Kinder in seinem Alter? Er ist jetzt zehn Jahre; da spielen Jungs Fußball oder raufen sich. Aber sie vergraben sich nicht in ihren Zimmern. Der wird immer mehr zum Stubenhocker. Der verweichlicht!«

Die Tür wurde geschlossen, und Dunkelheit stülpte sich über mich und mein Zimmer. Noch eine ganze Weile vernahm ich die Stimme meines Vaters, der mit meiner Mutter über mein Verhalten stritt. Konnte ich seine Worte deutlich hören, vernahm ich von den Entgegnungen meiner Mutter nur rätselhafte Andeutungen.

Mein Vater: »Ich werde ihm die Phantastereien schon noch austreiben, wirst sehen.«

Meine Mutter: »…schläft…«, »…nicht so laut…«

Vater: »Hochbegabt, sagst du? Von wem soll er das denn haben? Etwa von dir? Mach dich nicht lächerlich!«

Mutter: »….bitte…«

Vater: »Wenn du noch mal davon anfängst, lande ich noch in der Klapse.«

Ich schnappte nach dem Wort wie eine ausgehungerte Robbe nach einem Fisch. Sein Wohlklang wärmte meine aufgewühlten Gedanken. Klapse: Damit meinte man die Orte, in denen man in einem abgeriegelten Raum lebte, den andere Menschen nicht ungefragt betreten durften. Dort konnte ich den ganzen Tag in einem Bett liegen und Geschichten im Radio hören oder mir selber ausdenken, mit geschlossenen Augen fremde Welten erforschen, in denen ich gute Menschen retten und Bösewichte bestrafen konnte. Manchmal wünschte ich mir nichts sehnlicher, als in einer Klapse zu sein.

Irgendwann schlief ich ein, und ich glaube, ich tat es mit einem Lächeln auf den Lippen.

 

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