Von Anne Zeisig

Plötzlich will Susanne, dass ich mit der U-Bahn zur Arbeit fahre, weil sie im Home-Office ist und unsere Jüngste mit dem Auto zur Kita-Not-Betreuung vier Stadtteile weiter bringen will. 

„Das geht doch auch mit dem Bus“, schlage ich meiner Frau vor. „Mit dem umweltfreundlichen E-Bus. Bisher hat das mit dem Fahrplan doch gut geklappt.“

Ich recke mich und meinen Pyjama: „Da lernt unsere Kleine was von Greta.“ Zwei Zahnstocher halten meine Augen auf. „Thunberg oder so, als Vorbild.“

„Hey! Janina-Erekia ist es nicht gewöhnt, dass ihr Menschen mit Maske im ÖPNV begegnen!“

„Ich bin das auch nicht gewohnt!“, antworte ich schlaftrunken und meine elektrische Zahnbürste surrt einlullend die Fliesen in Bahama-Beige unserer Mietwohnung aus den Achtzigern an, als mich der missbilligende Blick meiner Frau trifft.

„Du bist erwachsen und wirst schon kein Trauma erleiden.“ Sie zeigt kopfschüttelnd auf meine E-Bürste und schrubbt ihre Beißerlein mit einer mechanischen aus Ebenholz. 

Ich gebe mich nicht geschlagen: „Und was hat der Bus oder unsere Familienkutsche mit dem Abholzen des Regenwaldes auf sich?“ Zeige auf ihr Zahn-Reinigungs-Tool.

Sie drückt mir eine ‘PFFF-Oder-So-Ähnlich-Maske’ in die Hand und sagt: „Willst du wirklich, dass unser Kind ein Masken-Trauma erleidet?“

Nein, das will ich nicht.

Und sage dennoch: „Holz ist selten und sehr teuer geworden nach den letzten drei Dürrejahren.“ Zeige auf ihre Holz-Zahnbürste.

* * *

Also lerne ich unsere Stadt im Halbschlaf  in der U-Bahn kennen.

Mein Minz-Zahnkreme-Atem fängt sich in der Mund-Nasen-Bedeckung und vernebelt meinen Gleitsichtgläsern den Blick. Oder sind die Fenster beschlagen? Von der Wärme hier und der eisigen Kälte da draußen?

Die Lider werden schwer.

Zahnbürsten aus Bambus wären noch umweltfreundlicher?

* * *

Ich schwelge in einem Traum von Wintererinnerungen:

Meine Brüder und ich hatten unsere Kirche mit Schnee im Vorgarten nachgebaut.

Plötzlich beschwerte sich der Vater von der Familie Jusuf gegenüber, dass daneben eine Moschee fehle!

Er zeigte uns, wie sie auszusehen hatte. Mit einem hohen Turm! Ähnlich hoch unserem Kirchturm. Und half tatkräftig mit beim Bau.

Bei unserem läuteten die Glocken zur Messe, bei Jusuf rief einer vom Moscheeturm hinunter zum Gebet.

Wie besahen uns zufrieden die sakralen Gebäude, Pappa Jusuf nickte und  ging hinein, um einen süßen heißen Tee zu trinken.

Nun öffnete der Nachbar von nebenan sein Fenster und zeterte, weil eine Synagoge fehle.

Wir Kinder blickten rotwangig zu ihm und rieben unsere Hände warm. 

„Aber die Synagoge darf auf keinen Fall am Sabat entstehen, weil da der Alltag ruhen muss“, meinte der Alte aus dem Erdgeschoss.

Meine Brüder und ich standen verwirrt im Schnee, weil wir nicht wussten, was ein Sabat ist, als die ältliche Spanokowski aus dem Mansardenfenster rief: „Eine Schande ist das! Kinder sollten während der christlichen Fastenzeit keinen Spaß im Schnee haben!“

Unsere Gedanken zeigten sich konfus.

„Solche Probleme haben nur die Erwachsenen“, sagte einer meiner älteren Brüder.

Das Weiß des Winters glitzerte in der Morgensonne!

„Wir haben Winterferien und unseren Spaß!“, rief der Zweitälteste zur Spanokowski hoch. 

Haben voll guter Laune unsere Kirche lachend im Schneegestöber zerstört und mit rosigen Wangen und außer Atem am Wohnblock hochgeblickt.

„Schaut die Ungläubigen an!“, schrie Vater Jusuf, „sie zerstören ihre Gotteshäuser!“

„Kein Problem, Jungs!“, lächelte der Witwer Ehrenstein breiten Lächelns hinunter. „Billiges Bauland für eine Synagoge!“

Wir verstanden nichts.

* * *

„Endstation Multi-Kulti!“, weckt mich die Durchsage.

Ich nehme meine beschlagene Brille ab und blinzel in die Winter-Sonnenstrahlen, welche sich in den schmierigen Scheiben der U-Bahn bricht, weil sie am Musiktheater aus dem Untergrund ans Licht gelangt.

 Recke meine Glieder und wünsche mir, dass Töchterlein Janina-Erekia auch so eine lebendige Kindheit haben würde wie ich und meine Brüder.

Nicht perfekt, aber anders.

 

EndVERSION