Von Michael Kothe

»Nun sperr den Hamster wieder in seinen Käfig! Wir haben dich als meine Regieassistentin nach Norwegen mitgenommen, nicht als Tierpflegerin. Und jetzt hol mir endlich meinen verdammten Kaffee!«

Sally öffnete den Mund und setzte zu einer Erwiderung an, rechtzeitig überlegte sie es sich aber anders. Einem James Algar widersprach man nicht. Besonders nicht, wenn die Arbeit für ihn sich in der eigenen beruflichen Vita extrem gut machte. Also nickte sie stumm, drehte sich um und setzte den Nager in den Käfig zurück. Sie schlang ihre Daunenjacke noch enger um sich. Als sie das Lager zum Küchenzelt hin durchquerte, ballte sie die Hände zu Fäusten. Mittlerweile war ihr gleichgültig, ob es Algar sah. Soll er doch mitbekommen, was seine Mitarbeiter von ihm halten!

 

Später am Vormittag schenkte eine fahle Sonne ein wenig Wärme und versöhnte Sally, die sich mit ihrer Situation wieder anzufreunden begann. Wenigstens ist es hier nicht ganz so frostig wie in Sibirien, wo wir ursprünglich die anderen Arten filmen wollten. So genoss Sally entgegen ihrer eigenen Erwartung das Zusammensein mit dem Expeditionsleiter. Zwar war Algar bei diesem Projekt True Life Adventure „nur“ der Regisseur, er nutzte aber seinen Ruf als Tierfilmer, sich als Lagerkommandant aufzuspielen. Diesen Begriff, den hinter vorgehaltener Hand beinahe alle gebrauchten, fand sie auf Grund seiner Ichbezogenheit und seiner Herrschsucht gerechtfertigt. Doch heute zeigte er sich umgänglich, seine Anweisungen gab er in freundlichem Ton, und ab und zu streute er – meist an Sally direkt gerichtet – Erklärungen ein, die ihr die Anatomie, das Leben und das Verhalten der Hauptakteure im Film White Wilderness, die Weiße Wildheit, näher brachten. 

Sie begleitete Algar, der in der morgendlichen Besprechung Arbeiten, Drehorte und die Anweisungen für die Szenen, die er wünschte, verteilt hatte. Nach dieser von seinen Mitarbeitern so genannten „Befehlsausgabe“ waren die Teams zu den ihnen zugewiesenen Gebietsabschnitten geeilt. Mehrere Kamerateams arbeiteten zeitgleich und trugen so dem engen Zeitplan Rechnung. Dabei hatten sie Glück gehabt, denn die Wanderungen der Tiere über lange Strecken machten es für gewöhnlich schwierig, sie aufzuspüren. An Stellen, an denen sie gesichtet worden waren, hatte eine Gruppe bodentiefe Löcher in den Schnee gegraben, gerade groß genug, dass der Kameramann und sein Assistent darin liegen konnten. Die Kamera stand auf einem Stativ vor einer Glasscheibe, die die Sicht in die Tunnel zwischen Schnee und Erde erlaubte. Dahinter bewegten sich die unwissenden und unfreiwilligen Akteure, fraßen das Moos von der Steinen oder paarten sich. Ein zweites Team drehte an einem schneefreien, leicht abfallenden Hang, auf dem es nach Sallys Annahme die Tiere genossen, sich im wörtlichen Sinn die Sonne auf den Pelz scheinen zu lassen. Die beiden letzten Kameraleute „filmten die Landschaft ab“, denn die Disney Corporation legte Wert darauf, durch die Vorführung auch anderer Wildtiere und ihres Lebensraumes eine umfassende naturwissenschaftliche Dokumentation zu erstellen. 

»Du fährst«, hatte der Regisseur angeordnet, und so war Sally ein wenig stolz, dass er sich ihr anvertraute und sie ihn in dem unwegsamen Gelände zwischen den kilometerweit auseinander liegenden Drehorten chauffieren durfte. Das war etwas Anderes, als nach der Abfahrt der Aufnahmeteams untätig im Lager zu sitzen, bis Algar mit seinem Frühstück und mit der wiederholten Lektüre seines Aufnahmeplanes fertig war. Über den Begriff „Drehbuch“ hatte sie nur den Kopf geschüttelt, zu oft hatte er seine eigenen Vorgaben verworfen und durch neue Anordnungen ersetzt, teils, weil die Tiere nicht mitspielten, wie sie sollten, und teils aus seinen Launen heraus. An den einzelnen Drehorten stand sie ein paar Schritte schräg hinter ihm und verfolgte aufmerksam die Gespräche, die er mit den Kameraleuten führte, oder seine Prüfungen, bei denen er sich selbst auf die Erde warf und durchs Objektiv schaute, oft genug den Winkel neu einstellte oder Anweisungen gab, zwischen Nahaufnahme und totaler Einstellung zu wechseln.

 

Gegen Mittag erreichten sie wieder das Lager. 

»Setz dich!« Einen der Klappstühle zog er für Sally heran und setzte sich auf den anderen ihr schräg gegenüber, wobei er die Landschaft mit ihren felsigen Ebenen, den Abhängen und dem weit unter ihnen liegenden Fjord im Blick behielt. »Was ich bisher gesehen habe, sind verdammt gute dokumentarische Aufnahmen. Lebensraum und Verhalten sind bestens eingefangen. Aber das alles ist mir zu brav, mir fehlt noch etwas Pepp. Die Geschichte braucht einen Höhepunkt. Damit gäbe ich der Welt auch die Erklärung für den Zyklus von drei bis fünf Jahren, in dem die Population stark anwächst und danach schlagartig fast verschwindet. Und nicht einmal Schneeeule, Polarfuchs und Hermelin muss ich bemühen!« Ein bellendes Lachen leitete seine Ausführungen ein. »Wenn wir nun …«

Kein Wort brachte Sally heraus, während sie zuhörte. Den Blick konnte sie von seinen Lippen nicht losreißen, doch ihr Gewissen sträubte sich zu glauben, was sie hörte. Zu ungeheuerlich schienen ihr die Vorstellungen Algars. Unwillkürlich versteifte sie sich, dann würgte sie. Ohne ein Wort sprang sie auf und rannte an den Rand des Lagers. Dort, wo der Abfall vergraben wurde, übergab sie sich. Als die Zuckungen von Magen und Bauchfell nichts mehr hergaben, schlang sie  die Arme um ihren Körper und schlich zu ihrem Zelt. In ihrem Schlafsack kämpfte sie gegen die Kälte an, die sie urplötzlich von innen heraus ausgefüllt hatte.

 

Erst am Abend traf Sally wieder auf die übrigen Mitglieder der Expedition. Über deren zufrieden aussehende Gesichter und ihr munteres Geplauder wunderte sie sich. Aus einem ihr unbekannten Grund schienen ihr alle euphorisch. 

Unerwartet legte sich eine Hand schwer auf ihre Schulter. 

»Da hast du wirklich etwas verpasst.«  

Sie drehte sich um und schaute in Algars Lachen.

»Wir haben die besten Aufnahmen im Kasten, die je ein Tierfilmer gemacht hat.« Er lachte laut auf. »Dafür bekomme ich den Oscar. Szenen, auf die die Welt gewartet hat und bei denen die Zuschauer Maulsperre bekommen.« Seine freie Hand beschrieb einen Halbkreis, der das gesamt Hochplateau umfasste, und verharrte über den Klippen und der Bucht weit unten. Seine Stimme war laut und klang übertrieben theatralisch. »Der Massenselbstmord der Lemminge.«

Sally schluckte. Mit diesem Ungeheuer will ich nie wieder zu tun haben! Mit ihrer Faust fegte sie die Hand von ihrer Schulter und wandte sich um. Nur fort wollte sie und begann zu rennen. Im Laufen hörte sie hinter sich, wie er seinen Befehl an das Unterstützungspersonal im Lager bellte: »Sperrt die Hunde wieder ein! Für heute haben sie genügend Lemminge über die Klippen gehetzt.«

 

Tatsächlich wurde Algar mit dem Oscar ausgezeichnet. Im Jahr 1959 für den besten Dokumentarfilm. Erst Jahre später wurden seine Manipulationen bekannt.

 

V2 – 6.897 Zeichen