Von Daniel Magar

​„Glaub’s mir, die wird dir genauso das Herz brechen, wie all den anderen Typen vor dir“, sagte Oli und steckte sich eine Handvoll Pommes in den Mund. „Und dann wirst du hier in Fötusstellung auf der Bank liegen und uns die Ohren volljammern.“

„Oder noch schlimmer“, sagte Kai, während er die letzten Reste seines Milchshakes, die nicht mehr ins Glas selbst gepasst hatten, direkt aus dem metallenen Becher trank, „du willst dann nicht mehr hierherkommen und wir müssen uns was anderes suchen, wo wir nach der Schule rumhängen können.“

Oli schnaubte empört. „Du glaubst doch nicht, dass ich das Diner aufgebe, nur weil Dennis Liebeskummer hat. Vergiss es.“ Er blickte von seinem Pommeskörbchen auf und sah mich eindringlich an. „Versprich mir, dass du die nicht zwischen das Diner und uns kommen lässt, Dennis.“

Ich verdrehte die Augen. „Darf ich euch dran erinnern, dass wir nach wie vor ein glückliches Paar sind? Genau genommen könnte es kaum besser laufen mit Sally.“

Oli und Kai sahen sich an und fingen an zu lachen.

„Was?“

„Du hörst dich an, wie ein verliebter Teenager“, sagte Oli

„Ich bin ein verliebter Teenager!“

„Am besten, wir planen schon mal den Junggesellenabschied“, rief Kai.

Ich verdrehte die Augen und stand auf, um der nächsten Welle von Gelächter zu entkommen und neue Musik anzumachen. Während ich auf der riesigen Jukebox neben den Klos durch die Alben blätterte, schaute ich zu Sally, die gerade dem letzten außer uns verbliebenen Kunden abzog. Der Kerl sah ungefähr fünf Jahre älter aus als wir und musterte interessiert Sallys Ausschnitt, während sie in ihrem Geldbeutel nach Rückgeld kramte. Als Sally ihm die Münzen hinhielt, fiel sein Blick auf das Tattoo auf ihrem Unterarm, das ich so liebte. Ich sehe das Motiv heute noch genau vor mir: ein Segelschiff mit zwei gewaltigen Masten vor einem Leichtturm. Schwarze, blaue und rote Farbe.

Der Kerl deutete auf das Tattoo und sagte irgendwas. Sally lachte. Ihre Augen huschten durchs Diner. Als sie mich sah, lächelte sie mir zu. Der Kerl folgte ihrem Blick und runzelte die Stirn, als er mich sah. Es war offensichtlich, dass er Probleme hatte, die Informationen, die sich ihm präsentierten, zu einem logischen Ganzen zusammenzufügen. Ich kannte Reaktionen dieser Art mittlerweile gut, und jedes Mal durchflutete mich eine Welle von Stolz. Ich winkte Sally zu.

„Wird das noch was mit der Musik, Casanova?“, rief Kai quer durchs Diner und riss mich aus meinen Gedanken.

Ich errötete, warf ihm einen vernichtenden Blick zu und wählte schnell eine Dire Straits Platte aus, denn damit konnte man ja nie etwas falsch machen.

„Also an deiner Stelle würde ich mir das nicht gefallen lassen“, sagte Oli, als ich wieder an unserem Tisch angelangt war.

„Hä?“

„Du solltest dem Typ deutlich klarmachen, dass er bei deiner Freundin nix verloren hat.“ Er deutete in Richtung der Theke, wo Sally sich immer noch mit dem Kerl unterhielt.

„Was soll ich denn machen?“, fragte ich. „Ihn zum Duell auffordern?“

„Ja…“, sagte Kai langsam und kratzte sich am Kinn, „ich denke, das ist in so einer Situation erforderlich. Ich könnte dein Sekundant sein.“

„Und ich tröste Sally, falls ihr beide drauf geht“, warf Oli ein.

„Träum weiter“, sagte ich, und wir brachen in Gelächter aus.

Sally schaute zu uns rüber, runzelte die Stirn und warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

„Hat sie eigentlich sonst noch irgendwo Tattoos?“, fragte Oli, während er Sally eindringlich aus der Ferne musterte.

„Äh…“, erwiderte ich.

„Oh mein Gott“, sagte Kai mit gespieltem Entsetzen, „er weiß es nicht!“

„Lässt sie dich etwa nicht ran?“

„Wir… arbeiten dran“, sagte ich und merkte, wie ich schon wieder rot anlief.

Oli seufzte. „Also immer noch Jungfrau …“

„Das sagt der Richtige“, erwiderte Kai und lachte.

Oli zuckte mit den Schultern. „Immerhin habe ich, im Gegensatz zu euch zwei Schlappschwänzen, schon mal eine nackte Frau gesehen.“

In diesem Moment trat Sally an unseren Tisch. Sie hatte den Kunden offenbar endlich abgewimmelt. „Wen hast du denn nackt gesehen?“, fragte sie, während sie sich neben mich auf die Sitzbank schob. Oli starrte sie entsetzt an.

„Marie“, sagte Kai. „Aber auch nur einmal, und wirklich erfolgreich war es nicht, nach allem, was man so hört.“

„Na ja … wie man’s nimmt“, sagte ich.

Sally lachte. Sie gab mir einen Kuss auf die Wange, und ich hätte am liebsten laut gejubelt.

 

Wir plauderten noch ein paar Minuten über dieses und jenes, dann verkündeten Kai und Oli, dass sie so langsam mal heimmüssten. Sally eskortierte die beiden in Richtung des Ausgangs und sperrte die Tür hinter ihnen zu, als sie endlich draußen waren. Sie rutschte auf die Bank gegenüber meiner und seufzte.

„Was ist los?“, fragte ich.

„Keine Ahnung, irgendwie bin ich schlecht drauf heute.“

Sally wechselte öfter mal von einem auf den anderen Moment die Laune, und insofern war ich nicht sonderlich überrascht. Ich nahm ihre Hand und fragte: „Wie kann man dich denn aufmuntern?“

„Indem du mich wegbringst von hier.“

„Weg vom Diner?“

„Weg aus der Stadt. Ich kann das alles nicht mehr sehen. Das Diner, die Schule, die Leute. Die immer gleichen Leute …“

„Du machst ja so, als würden wir in irgendeinem abgelegenen Dorf wohnen.“

„Könnten wir ebenso gut. Dann gäbe es vielleicht wenigstens schöne Wälder oder sowas.“

„Als ob du durch den Wald spazieren würdest.“

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich mein‘s aber ernst. Ich habe das Gefühl, dass ich mein ganzes Leben nur darauf warte, dass irgendwas passiert. Aber hier passiert nie was. Ich will einfach nur noch weg. Am liebsten noch heute Nacht.“

Sie zog Tabak und Papiere hervor und begann, sich schweigend eine Zigarette zu drehen. Zwei rabenschwarze Haarsträhnen umrahmten den traurigen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Ich hätte ihr ewig zuschauen können.

„Sei froh, dass du nur noch ein Jahr hast, bis du fertig bist und hier weg kannst“, sagte ich stattdessen. „Ich muss noch mindestens zwei Jahre hier rumhängen.“

„Ich weiß nicht, ob ich noch ein Jahr aushalte.“ Sie seufzte und zündete sich ihre Zigarette an. „Können wir nicht einfach abhauen?“ Sie sah mich an, und ich erkannte, dass sie es ernst meinte.

In diesem Moment wünschte ich mir nichts mehr, als sie einfach an der Hand zu nehmen, zu meinem Auto zu führen und mit ihr in die Nacht hinaus zu verschwinden. Ich hätte ohne zu zögern alles zurückgelassen für sie. Klar, Oli und Kai hätte ich vermisst, aber sonst gab es doch eigentlich nichts, was mich hier hielt. Allein die Reaktion meiner Eltern wäre die Sache wert gewesen.

Aber ich hatte natürlich kein Auto, keinen Führerschein, kein Geld.

Sie rauchte eine Weile schweigend vor sich hin. Dann stand sie auf und sagte: „Ich brauche Musik.“

Mir war nicht einmal aufgefallen, dass die Jukebox verstummt war, und ich folgte Sally quer durch das Diner.

„Hast du noch Kleingeld?“, fragte sie, während sie durch die Alben blätterte.

Ich reichte ihr zwei Münzen, und sie wählte ein Album aus.

The Gaslight Anthem“, las ich vor. „Kennt man die?“

„Wenn man Ahnung hat schon“, antwortete sie. Sie zündete sich eine neue Zigarette an und begann, sich im Takt der Musik zu bewegen. Dann griff sie nach meiner Hand und zog mich zu sich heran.

„Worüber hast du mit den Jungs eben geredet?“, fragte sie während wir tanzten.

„Och … nichts Besonderes.“

Sie grinste mich an. „Komm schon, sag’s mir.“

Ich spürte, wie ein Anflug von Nervosität in mir aufstieg. Auf einmal war ich mir sehr bewusst, wie sich ihr Körper an meinem rieb.

„Sie haben mich gefragt, ob du noch an anderen Stellen tätowiert bist.“

Zu meiner Erleichterung lachte Sally. „Und was hast du gesagt?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Dass ich es nicht weiß.“

„Hm …“, antwortete Sally und drückte mich in Richtung des Tisches neben uns. „Dann ist es wohl mal an der Zeit, dass wir das ändern.“

 

Zwei Monate später fand Sally endlich einen Mann fand, der sie aus unserer Kleinstadt rettete. Kai und Olis Vorhersage traf ein: Sally brach mir nicht nur das Herz, sie zerschmetterte es in tausend Stücke. Es dauerte lange, bis ich es wieder zusammengesetzt hatte, und bis heute bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht den einen oder anderen Splitter übersehen habe. Wenn ich an warmen Sommerabenden noch alleine auf dem Balkon sitze, erwische ich mich oft dabei, wie ich an sie denke. Ich frage mich dann, was sie wohl heute macht. Ich frage mich, ob sie sich immer noch Zigaretten dreht, und ob sie immer noch das Segelschiff auf ihrem Arm trägt. Ich frage mich, was aus uns geworden wäre, wenn ich derjenige gewesen wäre, der sie gerettet hätte.