Von Agnes Decker

Es war in einem dieser Winter, wie man sie heutzutage leider nur noch selten erlebt. Der seit Stunden unermüdlich fallende Schnee hatte die Welt vor meiner Haustür in eine dicke Watteschicht gepackt oder ein Leichentuch darüber gebreitet, je nachdem, wie man es sehen will. Ich erinnere mich genau an diesen Tag. Lange hatte ich am Fenster gestanden, die Betrachtung der Winterlandschaft genossen, passte sie doch mehr zu meiner Stimmung als alles andere. Die trügerische Gemütlichkeit unserer Wohnung dagegen hatte etwas Schmerzhaftes, die Sofaecke mit den vielen Kissen, der Esstisch mit den Korbsesseln, an dem wir lange und oft feucht fröhliche  Abende mit der Familie und Freunden verbracht haben. Ich erinnere mich auch noch an die Stille, die ich kaum ertragen konnte, an die düsteren Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, an die dunklen Bilder. Und, dass alles zu diesem Tag passte, an dem es nicht richtig hell geworden war. Denn auch in mir wurde es nicht mehr richtig hell. Von jetzt auf gleich war meine Welt in unzählige Stücke zerbrochen wie ein Wasserglas, das jemand mit voller Wucht an die Wand geworfen hatte und das nicht mehr zu kitten war.

Mit der Diagnose hätte keiner von uns jemals gerechnet, waren wir doch immer in Bewegung, sowohl sportlich als auch im Geiste. Ständig auf der Suche nach Herausforderungen. Kein Kick hielt länger als ein paar Tage. Schon bald fiel uns noch Spektakuläreres ein, noch Gefährlicheres, noch Ungewöhnlicheres. Und dann geschah etwas, das uns den Boden unter den Füssen weg zog, uns straucheln machte, uns, die wir bisher doch alles bezwungen hatten.

Gerade waren wir von einer Hochgebirgswanderung nach Hause zurückgekehrt, als mein Mann über Unwohlsein klagte. Wir vermuteten eine Kreislaufschwäche,  aufgrund der in den letzten Tagen überwundenen Höhenunterschiede. Und, obwohl dies eigentlich ungewöhnlich ist für einen gut trainierten Menschen, gaben wir uns gerne mit dieser Erklärung zufrieden, zudem wir sie durch die Erstdiagnose des Hausarztes bestätigt sahen. Als die Schwindelgefühle nach ein paar Tagen nicht nachließen und ein heftiger Kopfschmerz dazu kam, schien eine weitere medizinische Untersuchung unaufschiebbar. Unser Arzt, am Ende seiner Möglichkeiten angekommen, ordnete die Weiterbehandlung in einer Klinik an. Und hier begann der Horror, der bis zu dem Geschehnis, von dem ich berichten möchte, nicht geendet hat.

Die daraufhin folgende Diagnose spielt für den weiteren Verlauf der Handlung keine Rolle, deshalb wird sie hier auch nicht erwähnt. Es sei nur so viel gesagt, dass es sich um eine schwerwiegende, in vielen Fällen tödlich endende Erkrankung handelte, die eine sofortige Operation und im Idealfall einen langen Krankenhausaufenthalt mit offenem Ende erforderte.

So kam es also, dass ich diesen und viele vorhergehende und noch folgende Tage alleine in unserem jetzt so stillen Haus verbrachte, verzweifelt, grübelnd, mit einer kaum zu bezwingenden inneren Unruhe, die mich von einem Zimmer ins andere trieb. Diese Rastlosigkeit, die auch in den schlaflosen Nächten kein Ende nahm, raubte mir zusehends meine Kräfte, die ich gerade jetzt dringend benötigte. 

Selten war mir so sehr danach, mich mit Alkohol zu betäuben, wie damals. Bei einem befreundeten Paar fühlte ich mich für diesen Anlass gut aufgehoben und nahm ihre am Telefon sehr warmherzig ausgesprochene Einladung zum Abendessen gerne an. Ich wusste, dass beide sowohl mit Dauermonologen und inhaltlichen Entgleisungen, als auch Tränenströmen meinerseits umgehen konnten und außerdem dafür sorgen würden, dass ich wohlbehalten wieder nach Hause käme. 

Also zog ich den warmen Wintermantel an, schlüpfte in die Schneestiefel und verließ das Haus in Richtung Bahnhof. Draußen war es stockfinster. Der Himmel verschwand hinter Wolken, aus denen unaufhörlich Millionen Schneeflocken herunter rieselten, die mich beim Hineinschauen in ihren schwindelerregenden Sog zogen. Die Straßenlampen mit ihren Schneehauben tauchten die Umgebung in ein schummriges Licht und, außer einem Mann, dessen kleiner, weißer Hund in der mittlerweile wadenhohen Schneemasse fast verschwand, war niemand zu sehen. 

Mit großen Schritten stapfte ich in die andere Richtung, durch das noch unberührte Weiß und philosophierte über die Spuren, die ich hinterließ, und darüber, welche Spuren ein Mensch in sein Leben zeichnet. Da mich diese Gedanken tiefer und tiefer in eine traurige Stimmung versetzten, versuchte ich, mich ganz auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, was mir aber nur mäßig gelang. Immer wieder kehrten die Gedanken zurück zu dem nicht enden wollenden Kreislauf von Trauer und Anklage, vermischten sich mit Bildern längst vergangener Zeiten und setzten Gefühle frei, von denen mir nicht bewusst war, dass sie in mir schlummerten.  

Während ich durch die einsamen Straßen schritt, spürte ich die zunehmende Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die sich wie eine nasse Wolldecke über mir ausgebreitet hatte und mich niederdrückte. 

In den Wohnungen hinter den hell erleuchteten Fenstern sah ich Menschen an Tischen sitzen, essen und reden, Familien, die wohl ihren Feierabend genossen. Ich zog den Schal enger um meinen Hals, klaubte die Handschuhe aus der Manteltasche und streifte sie über meine eiskalten Finger.

Als ich um die Straßenecke bog, sah ich ein paar vereinzelte Menschen, die, wohl um die Kälte zu vertreiben, auf dem Bahnsteig auf und ab gingen. Auf der mit Schnee bedeckten Anzeigentafel über ihren Köpfen konnte ich nur mühsam das Wort „Verspätung“ entziffern. Da der überdachte Teil der Wartezone überfüllt war, stellte ich mich an den Zaun, der den Bahnsteig vom Gehweg trennt, stampfte mit den Füssen und überließ mich der Spirale meiner unguten Gedanken.

Mit der Zeit trafen immer mehr Menschen auf dem Bahnsteig ein, gingen auf und ab, die einen hin, die anderen zurück, einige telefonierten, andere hatten beide Hände in den Manteltaschen vergraben, den gefrorenen Atem wie Sprechblasen vor sich her schiebend. Einer fiel mir besonders auf, vielleicht, weil er eine Uniform trug. Ein Bahnbeamter vermutlich, der aufpasst, dass sich die Türen erst dann schließen, wenn alle Reisenden sich im Zug befinden, dachte ich. Irgendetwas an diesem, eigentlich durchschnittlich aussehenden Mann mittleren Alters, hielt meinen Blick gefangen. Erst nach einer Weile des Hinschauens oder vielmehr Hinstarrens wusste ich, was es war, das mein Interesse so sehr fesselte. Dieser schmale Mann in seiner Uniform strahlte etwas unendlich Gütiges aus. Anscheinend hatte er meine intensiven Blicke gespürt, denn er drehte sich um und schaute mich an. Ein wacher Blick aus hellen Augen traf mein versteinertes Gesicht. 

„Was ist geschehen?“, fragte der Uniformierte. Ich schaute ihn immer noch an, und, während ich das tat, überschwemmte mich plötzlich eine Welle aus Güte und Liebe, weichte meinen harten Panzer auf, den ich mir zugelegt hatte, um zu überleben,  und eine Sturzflut von Tränen drängte nach oben und lief über mein Gesicht.

Mit meinem rauen Wollhandschuh wischte ich die Tränen ab und begann, zuerst langsam mit erstickter Stimme, dann schneller und schneller, mal anklagend und wütend, mal abgrundtief traurig, zu berichten, was passiert war. Nicht nur über die Krankheit sprach ich, auch für die Gefühle, die mich seit Wochen zerrissen, fand ich Worte. Der uniformierte Mann stand nur da und schaute mich an. 

„Wie heißen Sie?“, fragte er ganz unvermittelt. 

Ich brach meinen Monolog ab, ein bisschen verlegen und unsicher, und nannte ihm meinen Namen.

„Es gibt eine Kirche, in der Innenstadt, die trägt Ihren Namen“, die Stimme des Mannes war warm und angenehm, „Sie sollten dorthin gehen und beten. Das wird ihnen helfen, zur Ruhe zu kommen. Ihr Mann wird schon wieder gesund. Er ist stark, ein Kämpfer.“ 

Genau in diesem Moment fuhr die S-Bahn ein und unterbrach abrupt seine Worte. In dem üblichen Gedränge des Aus- und Einsteigens verlor ich ihn aus den Augen. Erst in der Bahn sah ich ihn wieder, weit weg von mir im ersten Abteil. Er stand dort, ohne sich festzuhalten, mitten zwischen den anderen Passagieren, ganz für sich alleine, so als wären die anderen vor ihm zurück gewichen. Da stand er nun in seiner Uniform, mit seinem strahlenden Gesicht und es schien, als wäre um ihn herum eine besondere Helligkeit. Aber ich kann mich auch getäuscht haben. 

An der nächsten Haltestelle sah ich ihn zwischen den Aussteigenden den Zug verlassen. Schnell stieg ich ebenfalls aus, drängte mich zwischen den Reisenden hindurch, suchte den Bahnsteig ab. Vergeblich. Ich fand ihn nicht mehr. Enttäuscht machte ich mich auf den Weg zu meiner Verabredung, hätte ich mich doch gerne bei ihm bedankt.

Der Abend bei meinen Freunden verlief dann ganz anders, als gedacht. Beide zeigten sich verwundert, wie souverän ich mit der Situation umgehe. Betrunken habe ich mich auch nicht, sondern bin zu später Stunde zu Fuß durch den Schnee gestapft, quer durch die Stadt bis nach Hause, und habe zum ersten Mal nach langer Zeit tief und fest geschlafen. 

Schon am nächsten Tag suchte ich die  Kirche meiner Namenspatronin auf. Ich, seit Jahrzehnten bekennende Atheistin, zündete eine Kerze an, sprach ein unbeholfenes Gebet. Nicht, weil ich unversehens  gläubig geworden bin, eher aus einem unerklärlichen, inneren Bedürfnis. Und überhaupt, man weiß ja nie, wofür es gut ist. Erstaunt stellte ich fest, dass sich tief in mir drin eine unglaubliche Zuversicht einstellte. Hatte ich vorher wie ein Mantra immer wieder vor mich hin gesprochen: „ Lass ihn bitte gesund werden. Bitte, lass ihn nicht sterben“, hörte ich mich jetzt laut sagen: „Er wird wieder gesund. Ganz sicher. Er schafft das.“ 

Das alles liegt lange zurück.  Diese Zuversicht ist übrigens nicht mehr von mir gewichen. Auch mein Mann ist wieder ganz gesund geworden.

Und ich, ich denke noch oft an ihn, den Zugbegleiter in seiner Uniform, wie er da stand im Lichtschein und lächelte.  

Version 3