Von Nicole Leidolph

Ich sitze nun schon seit zwei Stunden auf einer Bank und beobachte die Eichhörnchen, die in den Bäumen von Ast zu Ast flitzen. Friedhöfe haben immer etwas Beruhigendes und eigentlich könnte ich mit meiner Situation zufrieden sein. Allerdings beginnt es natürlich genau in diesem Augenblick zu schneien, meine Füße werden kalt und ich langweile mich entsetzlich. Ich sehe zu der älteren Frau, die mit einer kleinen Schaufel vor einem der Gräber hockt und mühselig in der halbgefrorenen Erde Unkraut jätet. Es erscheint vollkommen sinnlos, aber es ist ihr Ritual. Als nächstes wird sie Kerzen aufstellen. Ich wünschte, ich könnte mir wenigstens mal die Beine vertreten, aber das würde bedeuten, dass ich meinen Posten verlasse. Und wenn ihr schon wieder etwas passiert, brummen sie mir eine Strafe auf, die sich gewaschen hat. Im schlimmsten Fall ziehen sie mich von der Erde ab und ich werde an irgendeinem Schreibtisch in irgendeinem Büro versauern. Dann muss ich den ganzen Tag den himmlischen Chören und ihren Harfen lauschen. Das wäre zu viel. Dafür liebe ich Heavy Metal einfach zu sehr.

„Möchtest du Gesellschaft?“

Ich springe mit einem Schrei auf, als urplötzlich ein Mädchen vor mir auftaucht. Ihr Erscheinen hinterlässt ein kurzes Flimmern in der Luft und einen Hauch von Schwefel. 

Sie kichert übermütig und setzt sich dann neben mich auf die Bank. „Tut mir leid, Liriel, das war zu verlockend.“

„Du hast mich ganz schön erschreckt.“ Ich mustere sie. Sie sieht aus wie vielleicht sechs oder sieben Jahre, mit großen, blauen Augen, zwei strohblonden Zöpfen und einem rosa Kleid mit Rüschen. Sie ist so niedlich, dass sie gar nicht echt sein kann. Ist sie auch nicht. „Hallo Zita.“

„Na, wurdest du mal wieder strafversetzt?“ Sie sieht mich voller Mitleid an. „Ist es nicht unter deiner Würde, jetzt einfachen Schutzengel-Dienst zu schieben? Bist du nicht eigentlich in der Racheengel-Einheit?“

Ich werfe ihr einen Blick zu und schweige. Mein Schweigen ist Antwort genug.

„Wieder mal zu viel gefeiert und getrunken?“ Sie kichert erneut und deutet auf die Frau am Grab. „Das ist deine Person?“

„Ja.“

„Margarete Grobius?“

Langsam bin ich genervt. „Wieso?“

„Super, sie ist auch mein Ziel.“ Sie strahlt mich an und knufft mich in die Seite. „Howdy, Partner!“

Verdammt, verdammt! Ja, ich weiß, das sagt man nicht. Gedanklich schiebe ich schnell ein Vaterunser hinterher. Natürlich war mir klar, dass die andere Seite irgendwann jemanden schicken würde, aber Zita? Sie ist so übermotiviert, was bedeutet, dass ich mich anstrengen muss. 

„Wieso scharrt sie da im Dreck herum?“

„Sie verschönert das Grab.“

Zita kräuselt die Stupsnase. „Die Arbeit kann sie sich sparen. Ihr Mann ist bei uns unten.“

„Ich glaube nicht, dass sie das weiß.“

In diesem Moment bekreuzigt sich Margarete endlich und steht auf. Sie streckt den Rücken und packt dann alles zusammen. Gelobt sei der Herr! Ich stehe ebenfalls auf, Zita verlässt die Bank mit einem kleinen Hüpfer. „Super, endlich geht’s los! Bin schon so gespannt, was wir alles erleben werden!“

Ich bin nicht gespannt. Ich hätte jetzt gern mein altes Flammenschwert.

 

Margarete geht mit zügigen Schritten Richtung Busbahnhof. Hastig schließe ich zu ihr auf, Zita folgt im Hopserlauf und schwenkt dabei ein kleines Körbchen hin und her. Als ob sie Rotkäppchen wäre. 

„Na, ihr habt’s aber eilig“, trällert sie gut gelaunt. „Fährt sie nach Hause?“

„Wahrscheinlich“, murmle ich. Wir nähern uns der Straße. Ich sollte mich nun lieber konzentrieren, denn genau hier hatten wir letzte Woche einen kleineren Unfall, der mir im Anschluss eine Menge Papierkram eingebrockt hat.

Die Ampel wird rot, im selben Moment fährt der Bus auf der gegenüberliegenden Straßenseite an die Haltestelle.

Zita zupft an Margaretes Ärmel. „Lauf einfach über die Straße, die Autos bremsen schon.“

„Nein“, sage ich entschlossen und halte ihren anderen Arm fest. „Das machen wir nicht.“ Bitte, Margarete, triff die richtige Wahl!

Zita rollt mit den Augen. Einen Augenblick lang kann man nur das Weiße sehen. „Komm schon, Liriel. Nur ein kleiner Schritt. Sie machen das ständig! Siehst du? Da gehen schon wieder welche einfach so über die Straße. Die Dummheit der Menschen ist grenzenlos!“

„Zita, ich bin ihr Schutzengel.“ Ich seufze tief. „Es ist meine Aufgabe…“

Die Ampel springt auf grün.

„Los, Margarete, wir hängen sie ab!“, schreit Zita und lacht wild.

Margarete spurtet los, als wäre der Teufel hinter ihr her. Ist er auch. Einer seiner Lakaien zerrt an ihrem Arm und so, wie sie sich gerade anstellt, wird sie nicht entkommen.

Ich hole die beiden mit Leichtigkeit ein. „Wieso bist du so scharf auf ihre Seele? Ich dachte, ihr wärt überfüllt.“

„Sind wir ja auch.“ Zita wird langsamer, als wir den Bus erreichen und einsteigen. „Der Chef ist furchtbar gestresst. Die Höllenfürsten steigen ihm aufs Dach, weil wir langsam nicht mehr wissen, wohin mit den ganzen Seelen. Ich musste sogar in eine kleinere Höhle ziehen.“

„Liegt vielleicht an der Überbevölkerung.“ Ich tippe Margarete auf die Schulter. „Fahrkarte lösen.“

„Spießerin“, murmelt Zita, aber bevor sie reagieren kann, hat Margarete meinen guten Rat bereits befolgt. „Überbevölkerung hin oder her, die Menschen sind einfach verdammt einfallsreich geworden, wenn es darum geht, ihre Seelen zu zerstören. Nicht nur ihre Dummheit ist grenzenlos, auch ihr Verlangen, Sünde zu begehen.“

Hinter uns bricht ein Gerangel aus.

„Hören Sie auf, mich zu schubsen!“

„Was willst du denn, blöder Opa!“

Ich stöhne genervt. „Zita, hör auf, deinen Hass zu versprühen.“

Zita sieht mich an wie die Unschuld höchstpersönlich. „Das bin ich nicht, das sind sie selbst.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Viele Menschen auf engem Raum, dann der ganze Weihnachtsstress. Ob das gut geht?“

Ich lege Margarete prophylaktisch eine beruhigende Hand auf die Schulter und schenke ihr inneren Frieden. Sie hat hohen Blutdruck und soll sich nicht aufregen. Dann verbreite ich ein wenig Nächstenliebe. Augenblicklich verstummt das Gezanke hinter uns. Worte der Entschuldigung werden gemurmelt, eine Frau summt die Melodie von Jingle Bells, ein Kind lacht. Schüler springen auf und bieten älteren Fahrgästen ihre Plätze an.

„Ekelhaft“, brummt Zita und schüttelt sich. „Unnatürlich. Gute Stimmung in öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es nicht.“ Sie zieht einen giftgrünen Lolly aus ihrem Korb und steckt ihn mitsamt Papier in den Mund. Mit zwei krachenden Bissen verschwindet er komplett zwischen ihren Zähnen. Nicht einmal der Stiel bleibt zurück.

„Sehr effizient“, sage ich. „Du bist jedenfalls kein Umweltsünder.“

Sie rülpst leise und zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit streift dieser leichte Hauch Schwefel meine Nase wie eine giftige Wolke. Dieses Mal ist er mit einer Menge Zucker vermischt. „Ach, da brauchen die Menschen keine Hilfe. Wir haben ihnen Plastik gegeben, den Rest erledigen sie selbst. Ihr Bestreben, den Planeten zu vernichten…“

„…ist grenzenlos“, falle ich ihr ins Wort. „Ja, ja, schon kapiert.“

Die nächsten Stationen schweigen wir, während die Menschen um uns herum Weihnachtslieder anstimmen. Vielleicht habe ich mit meiner Nächstenliebe etwas übertrieben.

Als wir den Bus verlassen, wird es bereits dunkel. Meine Laune hebt sich, als ich die Weihnachtsbeleuchtung in den Fenstern sehe. Wenigstens einmal im Jahr scheinen sich die Menschen kaum Sorgen um die Stromrechnung zu machen. Ich bin sogar derart gnädig gestimmt, dass ich Zita einige kleinere Sünden gönne. Margarete kocht nicht selbst, obwohl sie dafür eingekauft hat. Nein, sie bestellt eine fettige Pizza und gibt kein Trinkgeld. Sie lässt sogar ihr Tischgebet aus. Dann trinkt sie eine Cola – und zwar nach dem Zähneputzen. Sie geht nicht ins Bett, sondern schläft auf dem Sofa vorm Fernseher ein, in dem höchst unchristliche Filme mit viel Blut zu sehen sind. Es soll mir egal sein. Es war ein langer Tag, ich will Feierabend haben. Als letzte Amtshandlung schicke ich ihr noch ihren Lieblingstraum von ihrer Jugendliebe.

„Na, alte Freundin, wollen wir uns einen hinter die Binde kippen?“ Zita streckt sich und sieht dabei aus wie eine müde Erstklässlerin. „Ich lade dich ein.“

„Gerne.“ Ich nicke. „Nach dir.“

Sie grinst. „Du traust mir nicht über den Weg, oder?“

„Nein.“

Mit einem theatralischen Blick über die Schulter öffnet sie einen Durchgang in die Zwischenzeit und geht hinein. Ich folge ihr und spüre, wie sich der Spalt hinter mir schließt. Könnte uns ein Mensch sehen, würde es für ihn so aussehen, als ob wir im Nichts verschwinden. Wir sind in einem Zustand zwischen Realität und dem Unwirklichen. Hier befindet sich unsere Stammkneipe, das Septum.

„Hast du davon gehört, dass sie mal wieder darüber debattieren, ob die Apokalypse stattfinden soll?“

„Jetzt doch?“ Ich verdrehe die Augen. „Machen die Reiter wieder Stress?“

„Ja, die alten Spielverderber.“ Zita öffnet die Tür zum Septum. Lärm schlägt uns entgegen. 

Ich schaue mich um. Es ist wirklich voll heute Abend. Wahrscheinlich, weil es auf Weihnachten zugeht, da sind alle immer in Feierlaune, selbst die Hölle. Während wir uns einen Weg in Richtung Theke bahnen, grüße ich nach links und rechts. Wir stehen zwar auf unterschiedlichen Seiten, aber am Ende wollen wir alle dasselbe. Die Welt muss im Lot bleiben. „Ich habe keine Lust, gegen euch zu kämpfen.“

„Ich auch nicht.“ Zita schubst einen kleineren Dämon aus dem Weg. „Stell dir mal vor, wir würden gewinnen. Dann gäbe es nur noch die Hölle. Keine Partys, kein Alkohol, kein Spaß.“

„Schlimmer wäre es nur, wenn wir gewinnen würden.“ Ich schüttle den Kopf. „Diese ständigen Harfen. Das hält man nicht aus. Ich mag die Erde.“

„Ich auch.“ 

Wir erreichen die Theke, unsere Getränke warten schon auf uns. Der Service hier ist super. Ich reiche Zita einen Schnaps und nehme mir selbst ein Bier. „Auf die Erde.“

„Auf die Erde.“ Sie grinst. „Mach deinen Job bloß gut, Liriel. Wir sind viel zu effizient. Wenn die Menschen weiter auf uns hören, sieht es schlecht aus für euch.“

Sie hat leider recht. Morgen strenge ich mich an. Wir werden noch sehen, wer Margaretes Seele bekommt.

 

Version 2