Von Karl Kieser

Diese allererste Zeitreise in der Geschichte der Menschheit ist wahrlich kein Standardtrip. Niemand weiß, was mit mir geschehen wird. Weder mein Überleben und erst recht nicht meine wohlbehaltene Rückkehr können garantiert werden. Natürlich rechnen alle damit, dass das Prinzip einer Zeitreise in der Zukunft noch besser erforscht sein wird und ich daher auf eine Rückkehr hoffen kann.
In den letzten Minuten vor dem Go fühlte ich mich wie jemand, der sich einen Revolver an die Schläfe hält und vor dem Abdrücken damit rechnet, wie durch ein Wunder unbeschadet zu überleben. Alles in mir sträubt sich dagegen, diesen Schritt zu gehen. Aber die Aussicht, sensationelle Erkenntnisse aus einer fernen Zukunft in unsere Zeit zurückzubringen, ist einfach zu verführerisch.
Auf der Suche nach einem besseren Leben war die Menschheit schon immer bereit, Horizonte zu überschreiten. Ich bin stolz darauf, dass ich ausgewählt wurde, auch wenn ich innerlich zittere bei der Frage, ob ich die nächsten Sekunden überlebe.
Jemand beginnt, von zehn rückwärts zu zählen. Ich beiße die Zähne zusammen. Vor Anspannung kann ich nur noch mühsam atmen. Die Techniker und Wissenschaftler des Zeitreiseteams starren mich an. Ich denke krampfhaft an den erwünschten Technologietransfer zum Wohle meiner Zeitgenossen.
Der Countdown endet und ich habe abrupt das Gefühl, durch einen knallgelben Tunnel mit grellweißen Blitzen zu rasen. Plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen, bin ich in der zukünftigen Welt. Ich muss keuchend einatmen. Habe ich während der Zeitreise die Luft angehalten?

Um mich herum ist nichts als auffällig strukturiertes, hügeliges Grasland. Leblos, reglos und still. Die Enttäuschung springt mich an, wie ein wildes Tier.
Keinerlei Verkehrslärm, nicht einmal Vogelstimmen. Wie kann das denn sein?
Ich bin doch in einer lebendigen Metropole gestartet, immer noch an derselben Stelle, nur eben in einer anderen Zeit. Hier müsste es doch wimmeln von Leben. Was ist mit der Stadt passiert und wo sind die Menschen?
Allmählich beruhigen sich meine flatternden Nerven. Den Zeitsprung selbst habe ich ja offensichtlich überlebt und ich fühle mich normal. Aber hier ist doch nirgendwo auch nur eine Spur von der überragenden Technologie, die ich in meine Zeit zurückbringen könnte. Bei dieser Zeitreise muss etwas schiefgegangen sein.

Bei den vielen Hügeln um mich herum, die auch unnatürlich steile, ja schroffe Formen haben, kommt mir jäh ein schrecklicher Verdacht: Ist es denkbar, dass sich unter den Hügeln die Überreste der Gebäude befinden?
Was ist passiert? Eine Katastrophe? Gibt es Überlebende oder war der Sprung in die Zukunft etwa viel zu weit? Wie Pfeile schießen die Fragen durch mein Hirn. Ich ahne schon, dass ich die Antworten fürchten muss.

Erst jetzt wird mir die absolute Stille bewusst. Sie dröhnt mir förmlich in den Ohren. Kein Lüftchen regt sich. Die ganze Gegend scheint in einer unnatürlichen Ruhe erstarrt zu sein. Aber die Luft ist wunderbar klar und von einer unglaublichen Süße.
Das Bild eines Friedhofes drängt sich in meine Gedanken.
In meiner Zeit gibt es so etwas nicht mehr. Schon lange sind diese Flächen als unproduktiver Luxus abgeschafft worden. Bilder davon kenne ich nur aus alten Video-Dokumenten. Obwohl meine Umgebung wenig Ähnlichkeit hat mit den alten Bildern, habe ich doch das Gefühl, auf dem Friedhof der menschlichen Zivilisation zu sein.
Nein, diese Gedanken muss ich sofort loswerden. Sonst könnte ich gleich aufgeben. Aber aufgeben werde ich nicht. Niemals!

Die Situation verlangt Disziplin, keine Panik. Ich muss mich selbst zur Ordnung rufen: Reiß dich zusammen! Verschaff dir einen Überblick. Erkunde deine Möglichkeiten.

Entschlossen mache ich mich daran, den nächstbesten Hügel hinaufzusteigen. Von oben werde ich einen besseren Rundumblick haben. Und tatsächlich, mein Verdacht scheint sich zu bestätigen! Hügel über Hügel, bis zum Horizont. Die meisten steil aufragend.
War das einmal meine Stadt?
Ich fühle, wie jetzt doch Panik in mir aufzusteigen beginnt. Gibt es denn keinen Lichtblick? Begierig suche ich nach irgendwelchen Hinweisen intelligenten Lebens. Ich fühle mich schrecklich allein.
Und dann blinkt dort tatsächlich etwas in der Sonne. Auf einem der größeren Hügel ist etwas. Das muss ich mir ansehen. Neue Hoffnung spült Energie durch meine Adern.
Schon auf den letzten Metern des neuerlichen Aufstieges kann ich eine Kuppel aus transparentem Material erkennen. Sie hat sicher einen Durchmesser von 3 Metern und im weiten Umkreis darum herum ist das Gras kurz geschoren wie das Green eines Golfplatzes. Das sind eindeutige Anzeichen menschlicher Zivilisation. Die Erleichterung lässt meine Augen feucht werden. Gott sei Dank, ich bin nicht allein in dieser stillen Welt.

Diese Kuppel kann nur der Eingang zu einer unterirdischen Anlage sein. Obwohl das Material transparent wirkt, kann ich nicht hineinsehen. Die Kuppel fühlt sich sehr solide an. Sie scheint aus einem fugenlosen Stück zu bestehen. Trotzdem muss doch irgendwo ein Mechanismus zum Öffnen sein.
Unvermittelt glüht sie in rotem Licht. Vermutlich habe ich durch mein Abtasten etwas in Gang gesetzt.
Dann geht alles so blitzschnell, dass ich erschrocken einen Satz zurück mache.
Mit einem Wimpernschlag ist die große Kuppel schlagartig verschwunden. Dafür steht an ihrer Stelle ein Roboter auf einer Plattform vor mir. Er ist kleiner als ich und sieht mich freundlich lächelnd an. Der hat doch tatsächlich eine Mimik.
Ich bin ungeheuer erleichtert über sein Erscheinen. Endlich kann mir jemand erklären, was hier los ist. Ich stelle mich gleich zu ihm auf die Plattform und spreche ihn in Euras an, einer Sprache, die schließlich überall in Europa gebräuchlich ist:
„Was ist mit der Stadt geschehen und was ist das hier für eine Anlage?“

Er antwortet prompt in einem etwas umständlichen Euras:
„Ich bin Ben. Als Hüter dieser Anlage begrüße ich Sie als eine weitere zoologische Lebensform.“

Beschämt muss ich mir eingestehen, dass mein Auftreten überheblich wirken muss und ich mich auch zunächst einmal hätte vorstellen müssen. Das werde ich bei den menschlichen Bewohnern unbedingt nachholen.
Ben ist also so etwas wie der Hausmeister oder Hausdiener, der auf die Türklingel reagiert hat. Dass er die Menschen als zoologische Lebensform bezeichnet, ist zwar irritierend, ich bin aber so erleichtert, doch noch auf Artgenossen zu treffen, dass ich solche Eigentümlichkeiten gerne in Kauf nehme.
Meine Fragen hat er mir allerdings nicht beantwortet. Die möchte ich aber ohnehin lieber mit seinen Herren diskutieren. Deshalb bitte ich ihn gleich um ein Gespräch mit ihnen:
„Ben, würden Sie mich bitte zu den anderen zoologischen Lebensformen führen?“

Zum Einverständnis nickt Ben und fordert mich mit einer Geste auf, ihm zu folgen.
Du meine Güte, wir sind ja schon innerhalb der unterirdischen Anlage und ich habe nichts davon bemerkt, dass die Plattform uns unterdessen abgesenkt hat. Geht hier alles mit rechten Dingen zu?
Der Komplex ist hell, lichtdurchflutet wie an der Oberfläche, obwohl ich Lichtquellen nicht entdecken kann.
Diese unterirdische Anlage scheint sehr ausgedehnt zu sein. Sie wirkt wie eine große, niedrige Halle. Aber die Halle ist nicht leer. Es gibt viele wie skizzenhaft angedeutete Räume und Verbindungswege, die seltsam schemenhaft wirken. Ich habe das Gefühl, mich in der dreidimensionalen Zeichnung eines Architekten zu bewegen.
Ben hält sich an die angedeuteten Verbindungswege. Sobald er sie betritt, werden sie real. Hin und wieder taucht sogar ein Stück der Einrichtung auf. Ich gehe ihm einfach hinterher, verwirrt und beeindruckt zugleich. Ich muss mich dauernd umdrehen und sehe fasziniert, wie die eben noch realen Gangelemente hinter mir wieder Teil des dreidimensionalen Musters werden.
Das ist ja unglaublich. Der Ingenieur in mir fragt sich automatisch, wozu das gut sein kann. Könnte es etwas mit Energieeffizienz zu tun haben? In dem Sinne, dass nur wirklich benutzte Räumlichkeiten auch real ausgebildet werden?
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Für mich ist das eher wie Zauberei.

Ben hält auf den einzigen Raum mit massiven Wänden zu. Der ist auffällig wie ein Leuchtturm in dieser irrealen Umgebung. Aha, in diesem Raum wird sich jemand befinden und ich bin mir jetzt sicher, dort die Bewohner dieser rätselhaften Wohnung kennenzulernen.
Wie werden sie sein, die Menschen in dieser fernen Zukunft? Sicher hochintelligent und von erhabener Persönlichkeit. Hoffentlich können sie mir weiterhelfen. Denn inzwischen ist meine Zuversicht gesunken, die Mission zu Ende zu bringen.

Vor dem realen Raum angekommen, stellt Ben sich neben die Tür.
Will er mir den Vortritt lassen? Oder ist er ungehalten darüber, dass ich ihm meinen Namen nicht genannt habe und ich mich daher gefälligst selbst vorstellen soll?
Sein Gesicht zeigt keine Emotionen, als er mir auffordernd zunickt.
Ich hole noch einmal tief Luft, tue einen weiteren Schritt, und noch bevor ich anklopfen kann, ist die Tür schlagartig offen.
Ich will gerade hindurchgehen und
Aber der Raum ist doch dunkel. Feuchtwarme Luft mit einem stechenden Geruch weht mir entgegen. Das Licht, das durch die offene Tür in den Raum fällt, erzeugt eine Schneise wimmelnder Fluchtbewegungen. Der Fußboden, die Wände, die Decke, sind die lebendig?
Nach einer ungläubigen Schrecksekunde macht mein Körper reflexartig einen Sprung zurück und die Tür schließt das Gewimmel wieder ein.

Verzweiflung hat noch keinen Platz, als ich mich erbittert zu Ben umwende. Der hebt beschwichtigend die Hände. Auch seine Mimik ist nun begütigend, als er unaufgefordert erklärt: „Das sind die einzigen zoologischen Lebensformen, die ich bisher finden konnte.“

Jetzt bricht meine Welt krachend zusammen.
Kakerlaken, nur Kakerlaken. Das ist alles, was noch übrig ist?
Und ich? Bin ich der Letzte meiner Art?

Version 3