Von Karolin Schneider

Und dann überschritt Ana den Horizont.

 

Es war nichts besonderes. Nur so, wie wenn man am Äquator einen Schritt über die imaginäre Linie im Sandboden setzt und plötzlich auf der Südhalbkugel steht.

So war das. Ein Schritt und der Horizont lag hinter ihr. Die feine Linie, auf die sie bei ihrer Wanderung durch die Prärie stetig zugelaufen war, war überschritten. Nichts passierte. 

Warum hatte Luka hier immer unbedingt hingewollt?

Sie lief weiter. Vielleicht käme wenigstens bald ein schönes Ausflugslokal, das heißen Kaffee und Kuchen servierte.

 

Kurz darauf stand sie wieder vor dem Hot Dog Stand, an dem sie eben noch eine dieser langen Würste im schlaffen Brötchen verzehrt hatte. War sie im Kreis gelaufen? Die Sonne stand immer noch schräg links von ihr, kurz vor dem Zenit. Es war noch nicht viel Zeit vergangen seit der Überquerung des Horizonts. Eigentlich nur genau die zehn Minuten, die sie gebraucht hatte, um von der Imbissbude dem Wegweiser „Horizon – only ten minutes walking distance!“ zu folgen um zu der unsichtbaren Linie im Präriegras zu gelangen.

 

Der Hot Dog Verkäufer, der tatsächlich einen blauen Paillettenanzug trug, winkte ihr grinsend zu: „Mach das Beste draus, jeder geht diesen Weg nur einmal!“ Die Pailletten fingen die Mittagssonne blau funkelnd ein.

„Hä?“, dachte Ana leicht verwundert. Sie war hier heute doch schon zum zweiten Mal vorbeigekommen.

 

Sie lief weiter, das weiche Gras der Prärie streichelte ihre nackten Beine. Nach einiger Zeit sah sie hinter einer leichten Anhöhe das Motel, von dem sie am Morgen zu ihrer Wanderung aufgebrochen war. 

Sie hatte doch extra die Kompass-App auf ihrem Handy aufgerufen, um nicht wieder zurück zu laufen! Sie war ganz sicher immer weiter nach Norden gelaufen und konnte nun doch nicht wieder an diesem südlicheren Punkt angelangt sein! Ein Schauder lief ihr Rückgrat hinunter, sie zog die Schultern schützend nach vorne. Ihr schwante, dass etwas nicht stimmte. Zumal dort auf der Motel-Terrasse immer noch der gleiche Pferdehändler neben seinem Frühstück saß, wie heute Morgen. Das gleiche Glas mit Orangensaft neben einem Teller mit English Breakfast. Der Anblick von hellbraunen Bohnen in Tomatenmatsch neben verrunzeltem Bacon an bröckeligem Rührei hatte sie heute Morgen schon gegraust. Aber der Mann war trotz seiner unschönen Frühstückspräferenzen freundlich und gesprächig gewesen und so hatten sie ein paar Worte gewechselt. Seitdem waren nun mindestens zwei Stunden vergangen. Die Frühstückszeit im Motel müsste doch schon längst vorbei sein. „Hey, Mister, wollten Sie nicht schon längst in Allentown auf dem Pferdemarkt sein? Was machen Sie noch hier?“
„Woher wissen Sie das? Kennen wir uns? Ah, steht ja hier auf meinem Sweater, dass ich mit Pferden handle… haha! Ja, ich wollte gleich aufbrechen, nach dem köstlichen Frühstück. Das beste English Breakfast weit und breit! Handeln sie auch mit Pferden?“

Schwitzend speiste Ana den Mann mit ein bisschen Small-Talk ab. Nur weg von hier. Sie musste dringend alleine sein und nachdenken. Sie konnte sich noch ganz genau dran erinnern, dass sie ihm heute Morgen von ihren Reiseplänen erzählt hatte. Oder bildete sie sich das ein? Seit der Sache mit Luka hatte sie manchmal Erinnerungslücken.

 

Schnell schlüpfte sie ins kühle Innere des Motels. Einer Ahnung folgend stieg sie die mit violettem Teppich überzogene Treppe in den ersten Stock zu ihrem Zimmer hoch, das sie am Morgen geräumt hatte. Sie legte die Hand auf den metallenen Türknopf und drehte ihn. Er war nicht verschlossen. 

 

Die geöffnete Tür gibt den Blick frei auf die Küche in ihrer Wohnung in San Francisco. Die Wohnung, die sie vor der Reise aufgelöst hat. Nach Lukas Tod konnte sie dort nicht wohnen bleiben.

 

Luka sitzt am Fenster, die Haare im Sonnenlicht ein kastanienbraun glänzender Kranz um sein Gesicht. Er trägt sein Lieblings-T-Shirt mit dem blauen Falken, wie an jenem Morgen. Sie hatte doch alle seine Kleider in den Altkleider-Container geworfen? Doch eigentlich kann ja auch Luka nicht hier sein. Die Sonne leuchtet durch die regennassen Blätter des Bergahorns vor dem Fenster. Ist das der Tag? Es hatte geregnet an diesem Tag, deshalb war der Autofahrer ins Rutschen gekommen. Nein, das kann nicht dieser Tag sein. Sie sieht die Morgenzeitung auf dem schartigen, geölten Holzesstisch liegen, an dem sie so oft mit Luka gesessen hat. Noch am Morgen nach dem Unfall hat sie den Tisch zu Kleinholz gehackt und im Garten verbrannt. Ist es dieser Tag? Das Datum auf der Zeitung ist eindeutig. Ihr Herz fängt an zu stolpern, es rennt in diesen Tag hinein.

 

„Wenn du unbedingt samstags noch arbeiten musst, dann geh ich halt jetzt.“ Luka schaut sie leicht genervt und auch traurig an.

„Nein, Luka. Bleib hier bei mir. Bitte! Ich muss eigentlich gar nichts mehr erledigen, das hat Zeit. Alle Zeit der Welt!“ Sie schreit fast, muss aufpassen, dass ihre Stimme sich nicht vor Panik überschlägt. Er dreht sich langsam zu ihr um. Lächelt sie an. „Du willst, dass ich bleibe?“  

„Ja, natürlich. Immer. Weißt du doch. Es ist doch Wochenende, lass uns was gemeinsam unternehmen.“ 

Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, das alles überstrahlt.

 

Er fragt: „Und, was machen wir dann heute mit dem geschenkten Tag? Oh, ich hab eine Idee! Lass uns endlich zu diesem lustigen Platz gehen, von dem ich dir erzählt habe: Die Überquerung des Horizonts. Wann hat man dazu schon mal die Gelegenheit!“

„Ja, das ist sicher ein guter Platz! Let’s go!“ Ana lächelt.

 

Version 2