Von Eva Guthann

Dr. Sebastian Winkler, Psychotherapeut, Supervisor und Fachliterat, war gelangweilt. Das passierte ihm immer öfters. Dabei hielt er sich nach wie vor für einen überaus empathischen, ja, geradezu brillanten Therapeuten.
Nicht umsonst gehörte er zu den gefragtesten und bestbezahlten seines Fachs.
Die lange Erfahrung, ein großes Plus, ließ ihn eben auch ein bisschen abstumpfen, war es denn ein Wunder? Überhaupt, er fühlte sich generell abgestumpft. Eine Art grundlegendes Desinteresse an anderen Menschen hatte sich in ihm breit gemacht.
Natürlich würde er das niemals zugeben, nicht einmal vor sich selbst. Schon gar nicht jetzt, so kurz vor dem Erscheinen seiner Biografie, ein Werk der Selbstpreisung inklusive Fallbesprechungen der großartigsten Erfolge seiner Karriere. Das sollte krönender Höhepunkt sein, rechtzeitig zur erwarteten Wahl zum Vorsitzenden…
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken, “Herr Doktor, Frau Leisen wäre dann da“.
Ah ja, richtig, eine neue Klientin, na gut, die eine noch, dann machte er Feierabend, einen frühen. Freitags immer um zwei, sein Wochenende war ihm heilig. Nicht dass er sich fragte, was Lena machte oder die Kinder, die interessierten sich längst nicht mehr für ihn. Auch gut, sie waren ihm fremd geworden und ihre Konversation meist unerfreulich und nervtötend. Sein Quantum an Empathie verbrauchte er in der Praxis. Außerhalb, als Privatmann sozusagen, sollte er dran sein. Man konnte doch Verständnis von seiner Familie erwarten, fand er, für alles.
Seine Frau Lena hatte Verständnis gezeigt, lange. Aber irgendwann, schleichend, war aus der reizenden, ihn maßlos bewundernden, um vieles jüngeren Frau eine in sich ruhende, selbstsichere geworden, deren Tage und schließlich auch Nächte gefüllt waren mit Aktivitäten und Kontakten, die sich seiner Kenntnis entzogen.
Vielleicht war es besser so. Die Art des Zusammenlebens, die sich daraus entwickelt hatte, wahrte den Schein einer Ehe, deren Nutzen für ihn abseits von Status zum Großteil daraus bestand, sich nicht darum kümmern zu müssen, wie das Essen in den Kühlschrank kam und wer seine Hemden bügelte. Nicht einmal den Rasen mähte er selbst.
Im Jachtklub brachte er sich lieber ein, dort fand sich meist noch wer der ihn bewunderte, zumindest seinen Katamaran oder seinen Jaguar.

Eine feingliedrige Frau mit kurz geschnittenem Maroni braunem Haar trat ein und holte seine Gedanken zurück in die Praxis. Leise, aber mit Nachdruck schloss sie die Tür und blieb abwartend vor ihm stehen.
Nicht schlecht. Aparte Erscheinung. Figurbetont, aber stilvoll gekleidet, hübsches Gesicht, kluge Augen, mittleres Alter. Er war empfänglich für die Reize attraktiver Frauen, nicht mehr wie früher, kein Vergleich, aber immerhin, sein Interesse war geweckt.
Er streckte ihr seine Rechte entgegen, machte mit der anderen Hand eine einladende Geste zum Ledersessel gegenüber. Sie hatte einen überraschend festen Händedruck. Kurz traf sich ihr Blick, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er zu erkennen. Dann wichen ihre Augen aus.
„ Guten Tag, Frau Leise, bitte nehmen Sie Platz. Was führt Sie zu mir?“  
Sie setzte sich, schlug die eleganten Hosenbeine übereinander und sagte, „Leisen, ich heiße Leisen. Linda Leisen.“ War ihm egal. Sie kramte in ihrer Handtasche, ohne etwas zum Vorschein zu bringen. Er kramte in seinem Gedächtnis, fand auch nichts und gab auf. Auch egal.
Er begann seine üblichen Fragen abzuspulen, ihre Antworten waren zurückhaltend, aber ruhig und klar. Ihr Blick ruhte meist auf den Vorhängen, manchmal am beigen Teppichflor zwischen ihnen.
Sein Interesse schwand. Sie war anziehend, zweifellos, aber nicht sein Typ.
Wenn man von einem Typ sprechen konnte. Die sehr jungen Frauen, emotional unsicher, hungrig nach Anerkennung, deren Selbstwert meist gelitten hatte und deren Familiengeschichten sich oft ähnelten, die hatten es ihm angetan. Sein Ego wuchs durch ihre hilfesuchenden Blicke, ihre um Bestätigung und Verständnis flehenden Gesichter. Nicht nur sein Ego, auch im Schritt wuchs etwas, zumindest bei den Hübschen unter ihnen.
Und ihre Aufgeschlossenheit seinem Ansinnen gegenüber, das wuchs mit dem Grad der Verzweiflung, die sie in seine Praxis geführt hatte.
Als Mann mittleren Alters war er auf seine Weise gutaussehend gewesen, eine Vertrauen erweckende, kultivierte Erscheinung, groß, schlank und trainiert. Das etwas schüttere Haar fiel damals noch nicht ins Gewicht.
Das war lange her. Nur seine Hände waren noch schön, lange schlanke Finger, gepflegte Nägel. Auch heute noch, schließlich hatte er nie damit gearbeitet. Selbstzufrieden und versonnen blickte er auf seine verschränkten Finger, im Hintergrund die angenehme Stimme von Linda Leisen, die über ihre Einschlafprobleme und wiederkehrenden Träume sprach.
Komm zur Sache, Schätzchen, dachte er, sonst nicke ich ein, und sein Blick huschte über das Ziffernblatt seiner goldenen Uhr.
„Die Träume, so meinten Sie, würden aufhören, wenn wir die Ursache ans Licht holen, Herr Doktor.“ Linda Leisen hörte auf zu sprechen und sah ihm direkt ins Gesicht. Wie bitte? Ihr Blick, plötzlich herausfordernd, alarmierte ihn. Auch hatte er ihre Albträume gar nicht kommentiert. Und er konnte sich nicht helfen, sie erinnerte ihn – an wen? Kaum merklich schüttelte er den Kopf
 und meinte irritiert „Ich verstehe nicht ganz.“
 „Nun, damals, vor fast 20 Jahren, als ich ihre Klientin war, grade mal 21, traumatisiert und auf ihre Hilfe vertrauend. Doch Sie haben nicht die Ursachen meines Traumas ans Licht geholt, sondern Ihren Schwanz.“ Er verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall, das Wasserglas in seiner Hand machte einen Schwank, er schüttete sich auf den Bauch und in den Schritt.
Linda Leisen saß jetzt sehr aufrecht und lehnte den Oberkörper leicht vor. Sie sah ihm in die geröteten, vom Husten tränenden Augen. Jetzt war er es der sie hilfesuchend ansah.
 „Sie wissen immer noch nicht wer ich bin?“ fragte sie. „Damals hieß ich noch Meissner, Melinda Meissner, war Kunstgeschichtestudentin und fast ein Jahr lang Ihre Klientin. Die ersten zwei Monate haben Sie meine Vergangenheit zerpflückt, dann mein bisschen Selbstvertrauen untergraben und dann haben Sie mich gefickt, wann immer Sie es schafften mich rumzukriegen. Und jedes Mal war einmal zu oft“. Sie sprach jetzt lauter, noch immer gefasst, doch mit mehr Emotion. „Wie konnten Sie nur, wie konnten Sie Ihre Position nur so ausnützen.“ Er schluckte, sein trockener Hals gab ein Krächzen von sich. Wasser trinken war abgeharkt, der nasse Schritt machte die Lage nicht besser.
Ganz langsam, wie bei einem Puzzle, brachte er dieses Gesicht, diese selbstbewusste Frau mit Melinda zusammen, mit der zarten süßen Melinda, an die er sich vage erinnern konnte. Es war so lange her.
Schließlich brachte er doch was heraus. „Melinda! Um Himmelswillen, was wollen Sie von mir, nach so vielen Jahren.“ Es klang hohl und blöde. Das war es auch. „Sie haben es damals doch auch gewollt.“ Mit diesem affigen Satz rappelte er sich im Sessel hoch und legte nach, fast wie ein trotziges Kind, „Und außerdem waren Sie ja nicht mehr minderjährig.“
Ihr Blick war gefährlich, tödlich war das was dann kam.
Linda Leisen, geborene Meissner, zog ihr Smartphone, auf Aufnahme, aus der Tasche und schwenkte es triumphierend zwischen zwei Fingern.
„Ihre ethisch überzeugenden Aussagen werden auch andere interessieren. Mein Partner ist Journalist, ein Bericht über Sie wird wohl pünktlich zu Ihrer Buchpräsentation erscheinen. Und in den sozialen Medien werden sich noch andere finden, die von ihren therapeutischen Methoden nicht anhaltend begeistert waren. Ich sage nur #MeToo.
Wie gut, dass Sie Kolleg*innen haben, die anders sind wie Sie.“

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