Von Björn D. Neumann

Früge man meinen Vater, würde er sagen bei strömenden Regen Fußball zu spielen, früge man meine Frau, wäre es bei einer Lungenembolie mit dem Arzt über eine Einweisung ins Krankenhaus zu diskutieren, für mich persönlich war meine unvernünftigste Entscheidung, mich in die Hand des öffentlichen Personennahverkehrs zu begeben.

Es war einer dieser heißen Augusttage. Da wir abends eine Veranstaltung im Westfalenpark besuchen wollten, beschlossen meine Frau und ich in einem Burger-Restaurant nahe der Hohensyburg zu schmausen. Es war lecker und voller Vorfreude auf den nächsten Akt, machten wir uns auf zum Auto. Wie immer, wenn wir gemeinsam unterwegs sind, fuhr meine Frau. Besser gesagt, wollte fahren. Das Kupplungspedal blieb hängen und weigerte sich zurückzukommen. Kleiner Tipp – die Frage „Was hast Du gemacht, Schatz?“ ist nur die zweitbeste Option in dieser Situation. Drei Stunden und einen sehr gesprächigen Abschleppfahrer später, waren wir wieder, zwar satt, aber gefrustet, in der Heimat gelandet. 

Tags drauf machte ich mich auf den Weg zu unserer Vertragswerkstatt, wo das treue Gefährt auf mich wartete. Die Worte, die man in so einer Situation von einem Mechaniker auf gar keinen Fall hören möchte, lauten: „Oh, oh, oh!“. Das bedeutet entweder, dass es teuer wird oder lange dauert. Der Mechaniker sagte natürlich: „Oh, oh, oh!“ und es sollte teuer werden und es sollte lange dauern. „Wir sind die nächsten drei Wochen voll“, gehört auch nicht zu den Sachen, die man vernehmen  möchte und wenn das von einem „Leider können wir Ihnen auch keinen Leihwagen anbieten“, gefolgt wird, macht es den Katastrophenfall erst rund.

Den Abend verbrachte ich damit, die üblichen Portale nach einem verfügbaren Leihwagen abzusuchen. Dass eine Leihe von Montag bis zur darauf folgenden Woche Mittwoch günstiger ist, als Montag bis Freitag plus Montag bis Mittwoch, nahm ich schulterzuckend hin. Die Reparatur sollte an die 2.000 Euro kosten, da machen jetzt knapp 500 € für einen Mietwagen den Kohl auch nicht mehr fett. Ich gestehe, ich bin ein Freund einfacher Prozesse und Abläufe. Ich habe es gerade so verwunden, dass eine der größten Verleihfirmen nicht per Paypal abrechnet. Nachdem ich aber meine Kreditkartendaten eingegeben habe und die dann zusätzlich noch mit einer E-TAN meiner Bank bestätigen sollte, war ich raus aus der Nummer. Keine Lust mehr. War denn momentan nicht alles umständlich genug?

Guter Rat war teuer. Oder eben nicht. Eine imaginäre Glühbirne erstrahlte hell über meinem Kopf. Guter Rat war sogar billig. Um genau zu sein, kostete er genau 9 Euro. Das 9 Euro-Ticket! Ersonnen von findigen Politikern, um die deutsche Bevölkerung bei den gestiegenen Energiekosten zu entlasten. Das Ticket, das den klimafreundlichen Umstieg auf Bus und Bahn attraktiv machen und befeuern, ähm Entschuldigung, beflügeln sollte. In einer Reihe mit tausenden glücklichen Sylt-Urlaubern würde ich eines der letzten Abenteuer unserer Zeit bewältigen – den öffentlichen Personennahverkehr. 

Nun leben wir in einer Großstadt. Jedenfalls vom Papier her, sollen wir eine Großstadt sein. Dass die „Hagener Straßenbahn AG“ immer noch „Hagener Straßenbahn AG“ heißt, obwohl hier seit fast 50 Jahren keine Straßenbahn mehr gesehen wurde, spricht Bände. Innerorts ist in Hagen der Bus das einzige öffentliche Fortbewegungsmittel. Nachdem ich mir über die App das Ticket per Paypal (Juhu!) gekauft hatte, ging es an das Erforschen der Fahrpläne. Der Bus, der mich von einer Parallelstraße aus, in die Innenstadt befördern sollte, ging alle 30 Minuten. Wir wohnen wohlgemerkt nicht in irgendeinem Randbezirk, sondern einem citynahen Stadtteil. Mein Arbeitsplatz ist auch in Nähe der City, nur auf der anderen Seite. Trotzdem würde ich mein Ziel nur mit zweimaligem Umsteigen erreichen. Aber was war das? Die App zeigte mir einen Bus an, der um 7:15 Richtung Innenstadt fuhr und mit dem ich nur einmal Umsteigen musste. Bingo! Natürlich hatte auch dieser vermeintliche Volltreffer einen Haken. Aber dazu später.

Pünktlich um 7 Uhr des nächsten Tages machte ich mich mit einem Rucksack ausgerüstet auf den Weg zu besagter Parallelstraße. Ich fühlte mich großartig. Ein Abenteuer lag vor mir. Die Schatzsuche des kleinen Mannes. Indiana Jones und der letzte Kreuzzug. Ein kleiner Fußweg führt zur Straße hinab. Und wenn ich „hinab“ sage, so meine ich das auch und es versprach für den Rückweg nichts Gutes. Unten, und ich meine „unten“, angekommen, war Gott sei Dank auch schon die Bushaltestelle. Ich bin ein überpünktlicher Mensch. Fünf Minuten vor der Zeit ist bei mir ein absolutes Minimum und so stand ich alleine am Wartehäuschen. Ich sollte sagen „vorerst“ alleine. Von Minute zu Minute kamen immer mehr Menschen. Sehr kleine bis mittelgroße Menschen. Kinder. Somit wurde auch klar, was die E-Nummer bedeutete. E = Einsatzfahrzeug oder verständlicher gesagt ein Schulbus. Sicherlich hatte meine Generation zur Kinder- und Jugendzeit seine Eigenheiten und waren nicht einfach. Darum machte ich mir auch keine Gedanken, warum ich die Kleinen nicht verstehe. Jetzt mal wörtlich genommen, ich verstand sie wirklich nicht. Diese Genuschelte fast fremdartige Sprache hat nicht mehr viel mit der Sprache der Dichter und Denker gemein. Lustig ist auch, wenn man mit einem der jungen Menschen allein an der Haltestelle steht und das Menschlein unvermittelt anfängt mit sich selbst zu sprechen. Erst dachte ich noch „Watt will die von mir?“. Als ich mich umdrehte und den leeren Blick in die Ferne wahrnahm, wurde mir jedoch klar, dass nicht ich gemeint war. Da sich das Mädchen aber auch kein Smartphone in Knäckebrot-Haltung unter die Nase hielt, musste ich kurz stutzen. Noch bevor ich den Notruf in mein Handy tippen konnte, wurde ich des Knopfs in ihrem Ohr gewahr. Erst dachte ich noch: „So jung und schon ein Hörgerät“, aber dann zählte ich eins und eins zusammen und schlussfolgerte messerscharf, dass es sich um eine Art Freisprecheinrichtung handeln musste. In diesem Sinne „Picard an Enterprise. Siuuu!“ 

Im Bus hatte ich das erste Aha-Erlebnis beim Einstieg. Dafür, dass ich beim Vorzeigen meines digitalen Fahrscheins auf dem Smartphone mit „Guten Morgen“ gegrüßt habe, erntete ich vom Fahrer einen verdatterten Blick, als wenn ich gerade mit vorgehaltener Pistole eingestiegen wäre-  und ein etwas verstört gemurmeltes „Morgen“. Apropos Smartphone. Ich hatte es mir in einem Schulbus wesentlich lauter vorgestellt. Heutzutage schaut aber jeder für sich auf sein Smartphone und verzichtet auf direkte Kommunikation. Manchmal ist moderne Technik doch ein Segen. Ich, großgeworden ohne Handy, laufe mit geöffneten Augen durch die Landschaft, bzw. wurde jetzt kutschiert. So konnte ich die Generation meiner zukünftigen Rentenzahler genauer unter die Lupe nehmen. Joah, sehe ich mir die weiblichen Schülerinnen an, habe ich das Gefühl, die neueste Kollektion aus dem Beate- Uhse- Katalog präsentiert zu bekommen. Um es vorsichtig auszudrücken, wären unsere Lehrer damals über Bauchfrei-Look „not amused“ gewesen und hätten die Eltern oder gar gleich den Nervenarzt  einbestellt. Da aber zumindest im Bus jeder wie hypnotisiert auf sein Handy starrt, fällt das auch nicht weiter auf. Die Jungs dürften wegen ihrer Haare vor den Augen ohnehin nichts mitbekommen.  So stand ich da nun dicht an dicht gedrängt, mit angehenden Laylas, Möchtegern-Skatern und Nachwuchs-Gangsterrappern. Und da Hagener Busfahrer nur zwei Geschwindigkeitsstufen kennen – nämlich Vollgas und Vollbremsung – bekommt bunt durchgewürfelt eine völlig neue Bedeutung. 

Ja, der Busfahrer. Gäbe es etwas, dass ich einem Busfahrer zu Weihnachten schenken würde, es wäre ein Navi! Wo fuhr der Mann hin? „Bitte folgen Sie der Straße 3,5 KM“. Biiiitteeee! Nicht abbiegen! Warum nur? Anstatt der Hauptstraße zum direkten Ziel zu folgen, fuhren wir im Zickzack und kreuzten die Hauptverkehrsader das eine und andere Mal. Nicht anhalten! Wir haben doch keine Zeit! Jede „Milchkanne“ fuhr der Bus an. Jede. Man frage meine Frau, aber ich bin nicht der geduldigste Mensch auf diesem Planeten. Und wenn ich im Begriff bin, meine schon erwähnte 5-Minuten-Marke zu reißen, werde ich etwas unruhig. Und mein Anschlussbus wartete doch nicht! Endlich kamen wir an. Mein Bus fuhr natürlich ans äußerst linke Ende des Bussteigs, mein Anschluss stand am äußerst Rechten. Also hieß es sprinten und sich quer vor den Bus schmeißen. Glücklicherweise hielt er und man ließ mich einsteigen. Mit einem „Danke“ und „Guten Morgen“ erschreckte ich den nächsten Fahrer. Er brachte mich aber trotzdem pünktlichst zur Arbeit.

Insgesamt neun Stunden, 2 Umstiege und 20 Minuten Wartezeit später, erreichte ich nach Feierabend die heimatliche Bushaltestelle. Oder sollte ich sagen das Basis-Camp? Denn der Aufstieg stand mir ja noch bevor. Also sicherte ich mich mit Seilen, schnürte die Steigeisen und machte mich die letzten Meter Richtung Zuhause. Oben angekommen, und wenn ich „oben“ sage, dann meine ich „oben“, schnaufte ich wie eine alte Dampflokomotive. Selbstverständlich unter den Augen der kompletten Nachbarschaft, deren hämische Blicke ich erntete. Als die Tür endlich hinter mir ins Schloss fiel, durchströmte mich das Glücksgefühl der Erleichterung. Der erste Tag war geschafft. Von insgesamt 30 …

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