Von Florian Ehrhardt

Ich fliege diese Strecke jetzt seit 17 Jahren. München-Paris, Paris-München. Es ist eigentlich das langweiligste was man sich vorstellen kann. Den Ablauf kenne ich mittlerweile ganz genau. Anschnallen, beim Start in die Sitze gedrückt werden. Es gibt einen kleinen Snack, wenn das Flugzeug in aufrechter Position angekommen ist. Ich kann zwischen Erdnüssen und Salzbrezeln wählen. Noch bevor ich meine spärliche Mahlzeit verdaut habe begibt sich die Blechbüchse in der ich sitze auch schon wieder auf den Weg nach unten. Die Stunde vergeht sprichwörtlich wie im Flug. Sowohl die Ansagen des Kapitäns als auch das Lächeln der Stewardessen sind immer wieder gleich. In Paris bleiben mir acht Stunden, dann geht es wieder zurück. Einmal im Monat wiederholt sich diese Prozedere und die Firma, für die ich das mache, zahlt mir viel Geld dafür. Zu viel? Vielleicht, denn für eine Stunde Stewardessen-auf-den-Hintern-Schauen bekomme ich mehr Geld als mancher Architekt, Lehrer oder Arzt. Zeit für den Eiffelturm hatte ich trotzdem noch nie. Der Architekt, der Lehrer und der Arzt schauen sich den sicher an, wenn sie nach Paris fliegen.

Ein leichtes Ruckeln des Flugzeugs reißt mich aus meinen Gedanken. Auch das ist schon des Öfteren passiert. Die Anschnallzeichen leuchten auf.
„Meine Damen und Herren, wir durchfliegen gerade leichte Turbulenzen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit möchte ich Sie bitten, ihre Sitze in eine aufrechte Position zu bringen, die Tische hochzuklappen und sich anzuschnallen.“
Ich blicke mich im Flugzeug um. Menschen reden flüsternd miteinander. Die meisten von ihnen sind angespannt, machen sich Sorgen. Klar, das würde ich auch tun, aber ich kenne diese Strecke. Ich habe schon viele dieser Turbulenzen mitgemacht. Kein Grund zur Panik also, alles in bester Ordnung. Ich wende mich wieder meiner Zeitung zu. Es ist eine kleine Maschine, in der wir hier mit immenser Geschwindigkeit durch den Himmel rasen. Sechs Leute sitzen in jeder Reihe, jeweils drei von ihnen links und rechts am Mittelgang. Ich habe einen Fensterplatz bekommen. Mir ist es egal, ob ich einen Fensterplatz habe oder nicht. Es ist sowieso ziemlich wolkig da draußen. Der Platz neben mir ist frei. Am Gang sitzt eine junge Frau. Ihre großen, blauen Augen wackeln ängstlich hin und her. Sie kaut nervös an ihren Fingernägeln. Bei jedem Wackeln zuckt sie zusammen wie ein Kind, das von seinen Eltern angeschrien wird. Sie blickt mich nun auch an. Ganz kurz treffen sich unsere Blicke. Ich fühle mich ertappt und meine Augen wieder der Zeitung zu.

„Wie können Sie nur so ruhig bleiben?“
Ich drehe mich um, bin verwundert, dass sie mich überhaupt angesprochen hat. Ich bin Ende vierzig, so junge Dinger sprechen da meistens nicht mit einem. Ich versuche das Gespräch durch Schweigen zu beenden, bevor es überhaupt beginnen kann. Erfolglos.
„Ich habe Sie etwas gefragt! Wollen Sie mir nicht antworten?“ Entrüstung und eine Spur von Angst sind in ihrer Stimme zu hören.
„Oh, tut mir leid. Ich muss wohl in Gedanken gewesen sein.“ Ich bin ein schlechter Lügner. „Wissen Sie, ich fliege jetzt seit siebzehn Jahren jeden dritten Donnerstag im Monat von München nach Paris. Von diesen Turbulenzen habe ich schon hunderte mitgemacht. Das ist alles ganz normal, man muss sich keine Sorgen machen.“
„Na dann müssen Sie es ja wissen.“ Sie wirkt nicht wirklich überzeugt und wendet sich von mir ab.
Ich packe meine Zeitung weg. Bei dem Geruckel ist sowieso nicht an Lesen zu denken.
„Hey, jetzt mal im Ernst, machen Sie sich keine Sorgen. Turbulenzen sind etwas ganz Normales. Am Meer zu Baden ist statistisch gesehen gefährlicher als Fliegen!“
Sie dreht sich wieder zu mir um. „Echt jetzt? Oder erfinden Sie das gerade?“
„Nein, das ist mein Ernst! Wir hatten auf dieser Strecke noch nie Probleme, das können Sie mir ruhig glauben!“
Sie entspannt sich merklich und bringt sogar ein Lächeln zustande. „Wir. Sie sagen dass, als ob Sie zur Crew gehören.“
„Naja, so oft wie ich diese Strecke fliege tue ich das auch. Ich kenne alle Stewardessen hier beim Vornamen! Da vorne steht zum Beispiel Katharina. Ich weiß den Namen ihrer drei Kinder, den ihrer Großmutter und dass sie in Landshut wohnt.“
Sie bricht in schallendes Gelächter aus. „Haha, jetzt erfinden sie aber wirklich etwas!“
„Kann sein.“ Ich lächle verschwörerisch. So langsam hebt sich meine Laune. „Übrigens, ich bin Karl-Heinz!“
„Schön dass ich jetzt sogar Ihren Namen erfahren darf. Ich heiße Hanna.“
„Ein schöner Name.“
„Sie Schleimer.“
Ich schaue verlegen weg.
Sie beginnt wieder zu lachen. „Entspannen Sie sich, ich mag Schleimer!“
„Vorhin musste ich Sie noch beschwichtigen, jetzt sagen Sie mir plötzlich ich soll mich entspannen!“
„Immerhin habe ich jetzt keine Angst mehr!“ Sie blickt kurz zu Boden. „Hey, möchten Sie heute Abend vielleicht mit mir zum Essen gehen? Ich habe noch nichts vor.“
Wirft sie mir gerade einen verführerischen Blick zu? „Das geht leider nicht. Ich fliege heute Abend wieder zurück.“
„Jammerschade, aber wie wäre es nächsten Monat? Ich bin die nächsten sechs Monate in Paris. Auslandssemester im Studium.“
„Gerne. Was studiere-„

Das Flugzeug sackt nach unten ab zwingt mich dazu, meinen Satz frühzeitig zu beenden. Einige Menschen schreien, die wenigsten bleiben ruhig. Ich zum Beispiel, aber ich habe ja auch schon das ein oder andere Luftloch mitgemacht. Auch Hanna entfährt ein spitzer Schrei.
Aus den vorderen Reihen höre ich ein „Jetzt!“ Die nächsten Momente scheinen in Zeitlupe zu vergehen. Zwei Männer springen auf, rennen zur Tür des Cockpits. Ich blicke mich um. Menschen schreien auf, zeigen auf die beiden Männer. Eine Stewardess versucht einen der Beiden zu packen, sie bekommt seinen Ellenbogen ins Gesicht. Blut schießt aus ihrer Nase. Der Mann, der ihr das angetan hat, tritt nun auch die Cockpittür ein. Die beiden Männer rennen in das Cockpit hinein, die Tür fällt hinter ihnen zu.

Dann dreht sich die Welt wieder in ihrer gewohnten Geschwindigkeit weiter. Tumult bricht aus. Leute aus den vorderen Reihen springen auf, versuchen sich ebenfalls Einlass zum Cockpit zu verschaffen. Kampfgeräusche sind zu hören. Hanna greift ängstlich und geschockt nach meiner Hand.
„Tun Sie doch was!“
Doch auch ich bin starr vor Schreck. Bewegungslos lausche ich den Kampfgeräuschen. Ich kann doch nichts tun. Trotzdem schnalle ich mich ab und stehe auf. Ich will eine bessere Sicht auf das, was da vorne abgeht.
Ich quetsche mich an Hanna vorbei und stehe auf dem Gang. Ich bin noch nie während einem Flug aufgestanden. Der Kampf im Cockpit ändert am Flug bisher nichts. Klar, diese riesigen Jets fliegen auf Autopilot. Dieser Gedanke fegt nur ganz kurz durch meinen Kopf. Ich spüre wie Hanna hinter mir ebenfalls aufsteht.
„Bleib sitzen!“
„Ich will sehen was da vor sich geht!“ Sie blickt mich trotzig an, doch in ihren Augenwinkeln kann ich ein Lächeln erkennen. Meine Stirn wird zum Fragezeichen.
„Was ist?“
Hanna kichert. „Seit wann sind wir eigentlich beim Du“?
Ich antworte nichts.

Dafür ist es auch irgendwie schon zu spät, denn ich habe mich bereits auf den Weg nach vorne gemacht. Meine Beine scheinen von allein zu laufen. Ich will wissen was da vorgeht. Es fühlt sich an, als ob ich von einer unsichtbaren Macht nach vorne gedrängt, fast schon geschoben werde. Ich drehe mich unsicher um. Tatsächlich schiebt Hanna mich von hinten an. Wir sind nur noch wenige Meter von der Tür entfernt, als sie plötzlich mit einem lauten Knall dem Hämmern anderer Passagiere nachgibt. Die beiden Leute die sich mit ihren Schultern gegen die Tür geworfen haben, fallen direkt ins Cockpit hinein. Ich recke den Hals nach oben um mehr von den Geschehnissen zu sehen. Ein dritter steigt über Sie hinweg und streckt den Kopf ins Cockpit. Er dreht sich sofort wieder um. Sein Gesicht ist aschfahl und uns allen zugewendet.
„Da drin atmet niemand mehr.“

Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Dann beginnt der Tumult erneut. Schreiende Kinder, Frauen, Männer. Hanna klammert sich um meine Hüfte. Ich habe einen riesigen Kloß im Hals. Das Blut in meinen Adern scheint zu brennen. Ich frage mich ganz kurz, ob das was ich hier tue das richtige ist.
„Ich kann fliegen!“
Es ist wieder komplett still. Habe ich das wirklich gesagt? Ich kann doch keine Boeing fliegen! Wobei, ich weiß schließlich, wie es bei einem Motorsegler geht, warum sollte es dann mit so einem Jet schwerer sein?
Man macht mir Platz. Jetzt ist es zu spät für einen Rückzieher. Wieder schiebt mich Hanna nach vorne. Und schon stehe ich im Cockpit.

Die beiden Männer haben wohl erst die Piloten getötet, dann sich selbst.
„Krank.“
Ich drehe mich um. Hanna steht immer noch hinter mir.
„Ja, aber nicht einmal die schlimmste Krankheit der Welt erklärt diesen Wahnsinn.“, antworte ich.
Ich setze mich auf den Pilotensitz. Wie als wäre es vollkommen natürlich, nimmt Hanna neben mir Platz. Ich spüre hunderte Augenpaare, die durch die in den Angeln hängende Tür in das Cockpit schauen und wohl vorhaben, mir mit ihren Blicken Löcher in den Rücken zu brennen. Ich blicke nach vorne. Wolkenloser Himmel vor uns, grünes Land unter uns. Dann breitet sich ein kaltes Gefühl des Entsetzens in meinem Körper aus.
„Scheiße, wir haben keinen Radar.“, murmele ich. Ich ziehe den Kopfhörer des Piloten an mein Ohr. Rauschen.
„Hallo?“ Keine Antwort.
Hanna sieht mich ebenfalls entsetzt an. Dann beugt sie sich zu mir vor. Die Welt steht vollkommen still, aber Hannas Gesicht kommt meinem immer näher.

„Viel Glück!“, haucht sie, dann spüre ich ihre Lippen auf meinen.
Ich greife das Steuer. Und dann läuft die Welt leider wieder in ihrem normalen Tempo ab. Leider. Denn dieses Tempo ist verdammt schnell. Viel zu schnell. Und in diesem Tempo ist vor allem eines klar: „Ich kann fliegen“ ist nie eine Aussage, die man pauschal treffen kann. Ein Motorsegler ist kein Jet und andersherum gilt dasselbe. Ich blicke noch einmal zurück, in hunderte Augenpaare, die auf mich vertrauen. Ich fühle mich wie ein Massenmörder.

Wenigstens hält Hanna meine Hand, während ich das Schicksal dieser hoffnungsvollen Menschen besiegle.