Kornelia Wulf

Der Stiel taucht aus der Tiefe auf und Else kippt Suppe auf meinen Teller. Fuchtelt mit dieser riesigen Kelle vor meiner Nase herum, in der sich Beulen biegen. Alles ist hier so ungeschlacht. Fast wie im Knast. Im Zeitlupentempo lasse ich Brühe in meine Mundhöhle rinnen. Schiebe die Lippe weit vor. Dass bloß nichts auf meine Hose tropft. Wer weiß, auf welche Idee sie sonst noch kommt. Gestern habe ich an dem hellblauen Latz gezerrt, den sie um meinen Hals gehängt hat. An diesem albernen Fetzen bedruckt mit gelben Pünktchen. Doch Else hat ihn sofort wieder festgezogen. Als sei ich ein rotziger Bengel. „Ben, gib Ruhe!“, hat sie gesagt. „Mir ist klar, dass du das nicht magst. Aber ich weiß  schon jetzt nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Ich kann dich nicht dreimal am Tag umziehen.“

Heiß schwappt ein Schwall über meine Zunge und für den Bruchteil einer Sekunde schmecke ich einen Hauch Lauch. Bis Madame Maggi das Kommando übernimmt, ihren Stab über das Haupt des Federviehs schwingt, das in homöopathischer Dosis in der Plörre schwimmt.

 

Plötzlich … ich höre ein feines Krähen.

Ein Gackern schraubt sich durch die Luft

 

…all diese Hühner … sie zappelten in Mamas Arm, wenn ihre Lippen das Gefieder liebkosten … den flaumigen Hals streichelten … ihn aus dem Rumpf lockten … und – Zack! – das knirschende Knacken erklang …

 

und das  Zeitfenster öffnet sich. Weit.

 

April 1930

 

Mamas Suppe dampft auf dem Küchentisch. Wacholder und Lorbeer füllt die Luft, als sie die Fettaugen aufschlägt. Sanft treiben sie dahin auf einem Berg von Eierstich und Markklößchen.

Hastig puste ich die sechs Kerzen aus, die auf meiner Torte flackern. Dann. Endlich. Sie füllt mir auf. Dick platscht der Sud aus der Kelle. Vor jedem Festtag nimmt sie ein Backpulverbad, wird poliert mit Schmackes und Spucke. Und wenn ein Hauch aus Mamas Mund das Silber beschlägt, spiegelt es sich in ihrer Brille. Und ich fühle mich wie Prinz Achmed, weil ich es heute anfassen darf. Das Prunkstück aus Tante Judiths Erbe. „Gott hab sie selig“, Vater zwinkert, „und der Teufel auch“. Sein Blick saugt schmachtend an Mamas Brust, als sie die zweite Portion auf schöpft. „Ruth, du kochst mit goldener Hand.“ schmeichelt er. Dann klopft sie mit der Kelle auf seine Finger. Ganz zart. Denn „Vaters Hände sind unser Kapital“, sagt Mama. Und sie salbt seine Finger an jedem Tag. Feilt seine  Nägel. „Makellose Pflege, Jungelchen“, raunt sie mir zu, „das ist die erste Regel in Vaters Branche.“ Frottiert und gekämmt an ihren Bauch gepresst, hüpft mein Blick den Hornfitzelchen nach, die auf dem dunklen Handtuch landen. Weit ausgebreitet vor Vaters Hausschuhen. „Und überhaupt“, die Raspel schabt über die störrische Nagelkante, die es wagt, sich Mamas Elan zu widersetzen, „vielleicht bleibt er sonst in den Schrunden hängen. Du solltest die Kopfhaut von Frau Reichsminister Köhler sehen. Meine Güte! Die scheint fast nur noch aus diesen ekligen Dingern zu bestehen.“

 

An jedem Tag ziehen Karawanen in Vaters Friseursalon. In aller Herrgottsfrühe. Und während Prinz Achmed noch böse Dämonen verdrischt, reißt mich das Gehupe der Blechlieseln aus dem Schlaf. Das ein Duett wagt mit den Fahrradklingeln. Aus weiter Ferne kommen die Kunden hierher. Sogar aus der Kreisstadt. Und wenn Vater sie aus dem Friseurstuhl entlässt, streichen sie ehrfürchtig über onduliertes Haar. Zum Schluss  gibt es noch den letzten Schliff. Eine Extradosis Haarlack. Doch als besonderer Clou schmücken die Scheitel den Salon. Die meisten Kunden nennen sie Perücken. Vater stülpt sie auf weiße Köpfe, die ich nicht anfassen darf. Erst letzte Woche riss sein Ochsenledergürtel Fetzen aus meinen Rücken, als ich den Teller zerbrach. Den Kobaltblauen aus Tante Judiths Nachlass. Und während sie Zinksalbe auf die Wunden schmierte, zog Mama mein Ohrläppchen lang.

 

Die Scheitel knüpft Vater im Hinterzimmer. Aus dem Haar, das sie ihm aus der Munitionsanstalt bringen. Und wenn von Schweiß getränkter Rauch durch unsere Flure zieht, ruft er. „Das stinkt zum Himmel.“ Stets muss er es waschen mit diesem neuen Schwarzkopfmittel. Mindestens drei Mal. Bis heiße Tropfen über seine Stirnhaut rinnen. „Die Damen sollten öfter baden“, knirscht er.

 

An manchen Tagen klopft es an unsere Wohnungstür und Frau Generalfeldmarschall steht vor ihr. Oder die Gattin vom Apotheker Schulze. Auf leisen Sohlen schleiche ich den beiden nach. Presse die Lider auf den Schlüsselbeschlag. Und jedes Mal trifft mich ein Schock, wenn sie die Perücken abziehen. Als der Herr Troubadour Frau Apotheker in die Oper lockte, öffnete Vater sogar am heiligen Sabbat für sie den Salon.

 

Ich ziehe an Mamas Strähnen. Gelangweilt stöhnen sie auf. Und unter Straßenköter braunen Spitzen blitzt Kastanienglanz hervor.

„Warum, Mama?“

„Frag nicht, Ben.“ Sie schlägt auf meine Hand. „Das ziemt sich nicht.“

 

September 1938

 

Mein Ball knallt gegen die Hinterhoftür. Mit jedem Wurf fester. Vielleicht kommt gleich Fräulein Meyer heraus. Zuerst wird mich wieder der Knubbel faszinieren, der auf ihrer Nase blüht. Unglaublich, dieses Ding. Dann wird sich mein Blick sich in den drei Haaren verirren. Dick wie Skorpionstachel. Ich schwöre.

 

„Warte nur. Ich hole den Reisigbesen“, wie Vaters Rattenfalle hat ihre Stimme früher geschnappt. „Sieh dich nur vor, du Lausebengel. Gleich dampft dein Hintern.“ Und wenn das Dunkel der Nacht die Sterne verschlang, sah ich ihren Holzstiel aus schwarzen Staubwolken ragen.

 

Jetzt vereist ihr Blick mein Gesicht. Lässt mich zusammenfallen wie ein verrotteter Müllhaufen. „Verreckt nur. Judenpack!“, und jede Silbe versinkt  in brüchige Schichten.

 

Wann hat das alles nur angefangen?

 

Ist es nicht gestern gewesen, als Fräulein Wagner meinen Aufsatz über Hannibal laut vorgelesen hat? „Aus dir wird ein ganz Großer“, hat sie gesagt, während ich auf  dem hohen Ross zwischen den Pulten saß und meinem Klassenvolk gnädig zuwinkte. An jedem Morgen strich sie über mein drahtiges Haar. Versuchte, die Wellen glatt zu drücken. „Was für ein Material,“ Fräulein Wagner nickte, „hart wie Kruppstahl“.

 

Jetzt hat sie mich auf der Büßerbank platziert. Als hätte ich etwas angestellt. Und wenn Erich den Franz in die Kniekehlen tritt, zieht sie den Rohrstock über meine Finger. So selten verirrt sich ihr Blick auf mein Abstellgleis, auf dem ich schon lange warte. Und wenn ihre Augen an meinem Gesicht abgleiten, glaube ich einen Hauch Ekel spüren. Als sei ich ein Stück Rossscheiße, fest an die hinterste Wand gedrückt.

 

Wann hat das alles nur angefangen?

 

Ist es nicht gestern gewesen, dass ich mich mit Karl, meinem besten Freund verabredet habe? Treffpunkt: Alte Linde am Waldrand. So lautete unser Plan. Kein Mucks war zu hören, als wir aufeinander zu krabbelten. Ganz nah. Bis unsere Handflächen sich berührten. In dieser Nacht schickte der Mond sein hellstes Licht hinab und blies die Backen  prall für uns auf. Mit Mamas Schippe grub ich ein Loch in den Sand, damit unser Bruderblut nicht verrinnt. Krempelte die Hemdärmel bis zum Bizeps hoch. Doch als ich Vaters Rasiermesser aus der Tasche zog, heulte Karl laut auf. Mann. Hat der gejault. Wie der Mops von Fräulein Meyer, wenn ihn der Durchfall quält.

 

Jetzt sitzt er ganz vorn und schaut nicht zurück. Und wenn die Schulglocke bimmelt, geht Karl mit Jupp nach Haus. Und zum Bolzen kommt er auch nicht mehr raus.

 

Gestern drückte sich wieder die laute Stimme aus dem Volksempfänger. In Schleifen peitschte sie in meinem Ohr. Vor diesem Mann heben die Menschen Arme und Finger. Als würden sie an einem Führerkreuz hängen. Zusammen gequetscht zwischen Nase und Lippe sieht sein Bart komisch aus. „Der sollte mal ordentlich zurechtgestutzt werden“, knurrt Vater.

 

Von der Reinheit des Blutes hat er getönt. Und dass man es nicht vermischen soll.

 

Habe ich das Blut von Karl dreckig gemacht? Aber ich bade doch jeden Freitagnachmittag.

 

Vater sitzt im Salon. Will nicht mehr raus. Doch all seine Kunden  bleiben zu Haus.

 

09.11.1938

 

Die gläserne Grenze wurde heute durchdrungen. Ihre Stiefel sind durch die Scheiben des Friseursalons gesprungen. Erst gestern geputzt und poliert. Haben  Scheitel  verbrannt und Vater mitgeschleift. Gefeilte Nägel  zerkratzten Parkett. Und als  Waschtischsplitter bis an die Decke stoben, tanzte sein Ochsenledergürtel  plötzlich auf meinem Kreuz. „Aha!“, ein seltsames Lachen kroch durch meine Kehle. „Also die dürfen Porzellan zerschlagen.“

 

 

Ein Schatten fällt in mein Altenheimzimmer. Die gestärkte Schürze raschelt, als Mama sich weit aus dem Zeitfenster lehnt. „Jungelchen. Wann kommst du endlich? So lange schon warten wir auf dich. Freilich ist es hier nicht wie von uns gedacht. Die Milch und der Honig fließen wohl anderswo. Doch Hunger und Krieg sind an diesem Ort auf ewig verbannt.  Und, Jungelchen, an jedem Tag gibt es Goldene Joich!

 

Und wenn die braune Pest an unsere Pforte klopft, verschließt der Chef sofort das Tor.

 

Ich suche nach der Drahtmähne auf meinen Kopf. Ihr Ansatz scheint verrutscht zu sein. Bis unter die Ohrn. Und während ich die letzte Locke um meine Kuppe winde, trudelt ein Haar in die laue Plörre hinein.

Vorsichtig fische ich es heraus. Reibe es trocken an dem hellblauen Latz. Für irgendwas muss dieser Fetzen doch nützlich sein. Und krame im Nachttisch nach Tante Judiths Schatulle. Ein ganzes Büschel  wartet dort schon.

 

Plötzlich. Ein grauer Mopp fliegt durch die Wolken.

 

Vater knüpft es bestimmt wieder ein.

 

 

Anmerkung:

 

Scheitel (jiddisch) ist die Bezeichnung für die Perücke als Kopfbedeckung, die die (verheiratete) religiöse jüdische Frau statt eines Tuches oder Hutes trägt

 

Als „Blechliesel“ wird das Ford-T-Modell im Volksmund bezeichnet

 

Prinz Achmed ist die Hauptfigur aus einem Scherenschnittfilm von Lotte Reiniger aus dem Jahre 1926

 

Der Begriff „Goldene Joich“ steht für die koschere, jüdische Hühnersuppe