Von Karl Kieser

Meinem Freund geht es nicht gut. Am Telefon macht er einen trübsinnigen Eindruck. Er leidet wohl immer noch. Seit dem Tod seiner angetrauten Giesela habe ich ihn nicht mehr fröhlich erlebt.
Es wird Zeit für einen Herrenabend.
Die Runde ist sehr überschaubar. Viel ist nicht mehr übrig von dem alten Freundeskreis. Es hätte noch einer mehr sein können, aber Horst traut sich nur noch im Notfall aus seiner Höhle. So sind wir beiden Alten allein. Ein kurzer Spaziergang wird uns guttun. Dabei kommen wir ins Erzählen. Natürlich über die glorreiche Vergangenheit. Es gibt kein ergiebigeres Thema.

Wenn es um die Zeit geht, in der unsere Generation aufgewachsen ist und sich ihr Leben aufgebaut hat, bin ich immer euphorisch. Okay, die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit war kein Honigschlecken. Aber auf dem Lande, und als Kind, habe ich wenig davon mitgekriegt.
Aber dann, nur wenige Jahre später ging es doch mit Schwung aufwärts. Von Jahr zu Jahr wurde es besser. Wenn ich an alle die Erfindungen und Errungenschaften denke, die meine Lebenszeit begleitet haben, dann bin ich immer wieder begeistert. Dazu noch die deutsche Wiedervereinigung und der Zusammenbruch der UdSSR.
Und auch, weil unsere Lebensperspektive über viele Jahre durchgehend positiv war.
Franz kennt das schon. Ich muss das bei jeder Gelegenheit loswerden. So auch, während wir jetzt durch die Straßen trotten:

 „Wir leben doch in einer fantastischen Zeit.“

„Haben gelebt,“ knurrt Franz.

Einen Augenblick lang bin ich verwundert. Dann glaube ich zu wissen, was er meint. „Na schön, mit uns ist nicht mehr viel los. Aber ist das ein Grund die Ohren hängen zu lassen?“

Franz schüttelt den Kopf. „Nicht wegen unseres Alters. Die aktuelle Zeit ist nicht mehr fantastisch.“

„Du meinst, früher war mehr Lametta?“

„Ach, lass doch den Quatsch. Tu nicht so, als ob du nicht wüsstest, was ich meine.“

Meine Aufmunterungsversuche sind bisher nicht gerade erfolgreich. Aber so muffig habe ich den Franz schon lange nicht mehr erlebt. Ich versuche es nochmal.

„Ich will dir doch nur vor Augen halten, dass all die beeindruckenden Dinge, die uns umgeben, von unserer Generation erfunden, kreiert, erschaffen wurden. Wir sind ein Teil davon. Macht dich das nicht stolz?“

„Also, ich habe nichts erfunden. Und deine einzige Erfindung ist über die Phase der Idee nicht hinausgekommen“

Ich weiß, worauf er anspielt. Ja, eine gute Idee reicht nicht. Es braucht auch die Mittel und die Durchsetzungskraft, um sie umzusetzen.

„Mein lieber Franz, jetzt lassen wir das mal beiseite und nehmen zum Beispiel die Medizin:
Elektronenmikroskop, Mikrobiologie, Ultraschall, CT und MRT, Narkosemittel, Prothesen, Transplantationen, alles aus unserer Zeit.“

„Na und, was habe ich davon?“

„Na, ohne diese Fortschritte hättest du schon deinen ersten Herzinfarkt nicht überlebt. Du kannst von Glück sagen, dass der Schrittmacher dich jetzt auf Trab hält. Und ohne deine neue Hüfte wäre es nix mehr mit Spazierengehen.“

Diese Fakten kann Franz nicht leugnen. Ich kann aber sehen, dass er nach einem Ausweg sucht. In seiner Stimmung kann er mir nicht einfach so recht geben. Nur Sekunden später ist ihm etwas eingefallen, das er mir nun brummend unter die Nase reibt.

„Und wohin hat uns das gebracht? Bei meiner Geburt waren wir noch überschaubare 2,5 Milliarden. Nach gerade mal 80 Jahren sind es nun 7,6 Milliarden. Dreimal so viel. Wo soll das denn enden?“

„Bravo! Du hast also doch noch ein Haar in der Suppe gefunden. Und zu deiner Frage: es geht ja nicht so weiter. Der Bevölkerungszuwachs wird schon seit Jahren weniger. Das wird sich regulieren. Ich bin mir da sicher.
Der Verkehr ist noch so ein schönes Beispiel. Jahrtausende lang sind wir zu Fuß unterwegs gewesen. Sehr viel später dann zu Pferd oder per Kutsche auf staubigen Wegen. Und jetzt sieh dich mal um. In einer perfekten Infrastruktur tummeln sich Massenverkehrsmittel wie U-Bahn, Straßenbahn, Schnellzüge, Flugzeuge, Schiffe, Busse. Daneben Autos in allen Variationen. Inzwischen schon viele elektrisch angetriebene Fahrzeuge. Bis auf ein paar Vorläufer alles aus unserer Zeit.
Sogar bis zum Mond haben wir es schon geschafft. Und alle paar Monate in den Orbit zur ISS für den Personalaustausch. Findest du das etwa nicht großartig?“

Franz hat schon eine Weile sein graues Haupt geschüttelt. Er will sich offenbar noch nicht geschlagen geben.

„Du hast, wie immer, die rosarote Brille auf. Deine glänzende Infrastruktur ist weitgehend marode. Land und Kommunen kommen mit den Reparaturen nicht mehr hinterher. Die Verkehrsmittel verpesten die Luft. Viele Städte müssen die Notbremse ziehen. Sieh dir doch die Blechlawinen an. Rund um die Uhr, und das nicht nur hier bei uns, sondern weltweit.“

Ich muss ihm schon ein wenig recht geben. Schließlich machen wir alle diese Erfahrungen. Aber mir geht es um Höheres: um die frappierende technische Entwicklung in nur wenigen Jahren. Ich war ja dabei, habe vieles fast von Anfang an miterlebt. Ein wenig von meiner Begeisterung muss doch auf ihn abfärben. Ich versuche es mal mit einem anderen Bereich.

„Na gut, der Straßenverkehr ist manchmal schon nervig. Aber was ist mit der Entwicklung der Maschinen. Mit der Dampfmaschine ging es los. Dann der Verbrennungsmotor und schließlich der Elektromotor. Der sorgt inzwischen in endlos vielen Geräten dafür, dass unsere begrenzte menschliche Kraft auf Knopfdruck beliebig verstärkt wird. In Verbindung mit Computertechnik und künstlicher Intelligenz haben wir jetzt schon lernfähige Systeme. Bald wird es intelligente, humanoide Roboter geben, die vielleicht sogar einmal unsere Pflege übernehmen werden.
Das sind doch glänzende Aussichten. Ich freue mich auf die Zukunft.“

Franz ist stehen geblieben. Er sieht nicht begeistert aus. Ungeduldig hat er schon eine Weile mit den Händen gewedelt. Er hätte mich schon längst unterbrochen, wenn er nicht ein so höflicher Mensch wäre.

„Wie kannst du mit deinem technischen Verständnis nur so ignorant sein. Der Strom für die vielen Geräte kommt doch nicht wie durch Zauberhand aus der Steckdose. Dahinter stecken Kraftwerke, die Ressourcen verbrauchen und die Luft verschmutzten. Und komm mir nicht mit erneuerbaren Energien. Es sind wahrscheinlich die gleichen Leute, die nicht nur die Atomenergie verteufeln, sondern sich auch hinter Bürgerinitiativen gegen Windkraft verstecken. Und glaub nur nicht, dass auch nur einer freiwillig seinen lieb gewonnenen Komfort aufgibt.
Unser Strom ist jetzt schon teuer. Diese Kosten werden weiter steigen. Alternative Energie gibt es nicht umsonst. Unser Strombedarf steigt ohnehin laufend und wenn einmal alle die angekündigten Elektroautos am Netz hängen, wird es erst richtig krachen.“

Da hat er nicht unrecht. Ich habe selbst schon darüber nachgedacht. Wenn wirklich einmal Elektroautos unser Straßenbild beherrschen sollten, würde der Strombedarf gewaltig ansteigen. Mag sein, dass eine zentralisierte Stromerzeugung in Kraftwerken effektiver und besser ist für die Umwelt als die Millionen von einzelnen Verbrennungsmotoren. Trotzdem habe ich diese Überlegungen gleich wieder beiseitegeschoben. Für eine massive Invasion von Elektroautos fehlt nicht nur der Strom, sondern auch die Infrastruktur. Klammheimlich hoffe ich drauf, dass man endlich die Kernfusion in den Griff kriegt und dadurch das Energieproblem endgültig gelöst wird. Aber das ist ein anderes Thema.
Bei meinem Franz versuche ich es jetzt mal anders, bevor er mir völlig aus dem Ruder läuft.

„Du hast ja so recht, lieber Franz. Viele Segnungen der Technik haben uns einfach überrollt. Natürlich gibt es dabei auch Probleme. Unsere Spezies ist aber sehr erfinderisch. Ich bin zuversichtlich, dass wir letztlich mit allen Schwierigkeiten klarkommen.
Eigentlich geht es mir auch mehr um den Zeitgeist in unseren früheren Jahren. Was war das für eine großartige Zeit. Fortschritte auf allen Gebieten. Von Jahr zu Jahr ging es uns besser. Alles war möglich. Dass die Welt mindestens einmal am Abgrund gestanden hat, haben wir gar nicht richtig mitgekriegt. Umweltschutz war was für grüne Spinner. Klimawandel, Artenschutz, Schmelzen der Polkappen, Ressourcenknappheit, Nachhaltigkeit, alles kein Thema.“

„Das ist ja das Problem. Wir hatten eben keine Ahnung. Wir haben den Planeten geplündert, als ob es kein Morgen gäbe. Und das machen wir immer noch.
Übrigens, Mahner hat es auch damals schon gegeben. Nur hat niemand sie ernst genommen. Außerdem hast Du die Ölkrise in den 70gern vergessen.“

„Richtig, stimmt ja. Ich hatte gerade gebaut, natürlich mit Ölheizung. Kurzzeitig sah es so aus, als ob bald Schluss wäre mit Öl. Du erinnerst dich sicher auch noch an die autofreien Sonntage. Das war tatsächlich der erste Schock.“

„Du hast dir deinen Optimismus vielleicht bis jetzt retten können. Das heißt aber nichts anderes, als dass du immer noch keine Ahnung hast. Und dass, obwohl heute wirklich jeder wissen könnte von den Problemen, die wir selbst angerichtet haben: Klimawandel, Luftverschmutzung, Plastikschwemme, Massentierhaltung verbunden mit der Überdüngung der Anbauflächen, Insektensterben, Nuklearwahnsinn.
Ich muss ja nicht mehr lange, aber ich mache mir Sorgen wegen meiner Enkel.“

„Ach Franz, manchmal glaube ich, dass ein positives Weltbild etwas mit dem Alter zu tun hat. Frag mal deine Enkel nach ihren Ängsten. Die fallen vermutlich aus allen Wolken, wenn sie hören, worüber du dich aufregst.“

„Und was ist mit Fridays for Future? Endlich mischt sich die Jugend ein. Gut so! Es ist schließlich ihre Zukunft.“

Sehr erfolgreich war ich bisher nicht bei meinen Bemühungen, Franzens Stimmung aufzuhellen. Brauchen wir ein anderes Thema? Während ich noch überlege, hat Franz mich lächelnd beobachtet. Jetzt meldet er sich mit erstaunlich friedlichem Tonfall:

„Ich weiß ja, dass du dich um meine Gemütslage sorgst. Das tut mir auch gut, alter Freund. Also komm, kehren wir um. Zu Hause habe ich einen leckeren Marillenschnaps. Dabei können wir ganz genüsslich unsere längst vergangenen Heldentaten ausgraben.“

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