Von Hans-Günter Falter

Die ersten Frühlingsstrahlen brechen zaghaft durch den diesigen Himmel, der sich zur letzten Zuflucht ins Tal verkrochen hat. Nicht mehr lange, dann wird die Sonne genug Kraft haben und alle Reste der Nacht zu sich ziehen.
In Theresas Gesicht ist die Sonne längst aufgegangen, sie blendet mich fast mit ihrem so besonderen Lächeln und überrumpelt mich mit ihrer Lebensfreude.
Ich bin eher der Typ Morgenmuffel, brauche Zeit, um langsam warmzulaufen. So viel gute Laune kann ich nicht sonderlich gut vertragen. Normalerweise. Hier aber schon. Hier ist alles anders. Ich bin aus eigenem Antrieb sogar schon vor neun Uhr aufgestanden.
Neun Uhr mag recht spät erscheinen, wäre mir vor ein paar Tagen jedenfalls so gegangen. Aber da war ich auch noch in meinem Trott; früh aufstehen, arbeiten gehen, ständiger Stress wegen der Scheidung. Alles ganz gegen meine Natur; gegen meine innere Uhr.
Ich lehne mich entspannt zurück und schließe die Augen. Heute ist Sonntag, ich habe frei, da schlafe ich um diese Zeit normalerweise noch tief und fest. Dieser Sonntag heute allerdings fällt auf einen Mittwoch. Oder ist etwa schon Donnerstag? Seit ich bei Theresa bin, ist einfach jeder Tag ein Sonntag und frei habe ich sowieso.

Vor ein paar Tagen bin ich angekommen. In Spanien. Costa da Morte. Also eigentlich Galicien. Genaugenommen. Mir aber vollkommen egal. Ich wollte bei Theresa sein, wo auch immer sie ist. Nur bei ihr sein. In ihrer Nähe.
Es war ein ganz spontaner Entschluss hierher zu kommen.

Als ich nach dem letzten Zusammentreffen mit meiner Ex-Frau, wegen der Übergabe unserer alten Wohnung an den Vermieter, an einem Imbissstand eine Currywurst Rot-Weiß gegessen hatte, meinte es das Schicksal gut mit mir. Sehr gut sogar.
Da fällt mir gerade ein, dass ich die Currywurst und zwei kleine Bier gar nicht bezahlt hatte, bevor ich ging. Ich öffne die Augen, daran hatte ich bisher überhaupt nicht gedacht. Wieso fällt mir das jetzt ein? Ein schlechtes Gewissen beschleicht mich. Na ja, das wird die Imbissbude sicherlich nicht in den Ruin treiben. Dieses Schicksal könnte wohl eher einem Pick-Up fahrendem Cowboy blühen, den ich an der Imbissbude kennengelernt hatte, aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte ….

In den nächsten Wochen werde ich versuchen, hier in Spanien eine Arbeit zu finden. Mein Spanisch ist gar nicht so übel, obwohl die Leute hier einen Dialekt sprechen, den ich kaum verstehe. Aber offenbar verstehen sie mich, ich kann mich zumindest gut verständlich machen.

Theresa hatte mir schon vor Monaten angeboten, bei ihr zu wohnen. Nach der Trennung von meiner Frau war das ein echt handfester Vorschlag. Viel hilfreicher jedenfalls als das mitleidige Getue der meisten anderen sogenannten Freunde. Konkret und handfest eben. Genau, handfest.
Das Wort gefällt mir und passt, denn auf Theresa kann ich mich verlassen. Das war schon immer so. Wenn sie etwas sagt, dann steht sie dazu und meint es ernst. Von ihr käme nie so ein mitleidiges: „Komm doch mal vorbei!“, und in der Stimme hörst du schon die Angst mitschwingen, dass man das Angebot annehmen könnte. Die Leute lassen sich so leicht zu was hinreißen, was sie eigentlich gar nicht wollen. Der Satz ist noch nicht ganz aus ihrem Mund raus, da denken sie schon: „Hätte ich lieber mal die Klappe gehalten“. So ist Theresa nicht.
Deshalb plante ich schon vor ein paar Wochen zu ihr zu fahren. Einerseits. Andererseits wollte ich Theresa aber nicht auf der Tasche liegen und hab den Vorschlag etwas weiter hinten in meinem Kopf einsortiert. Nach der Scheidung war ich nämlich ziemlich klamm, was meine Finanzen anging, und ich wohnte bei einigen dieser „Komm-doch-mal-vorbei-Freunde“. Die habe ich überrumpelt, stand einfach irgendwann mit meiner Reisetasche vor der Tür, da konnten sie keinen Rückzieher mehr machen, das wäre peinlich gewesen.
„Die Gesichter hättest du sehen sollen. Werde ich nie vergessen, schon dafür hat sich die Scheidung gelohnt. Na, das ist jetzt natürlich Quatsch, aber verstehst du, was ich meine?“, frage ich Theresa. Sie lächelt nur, nickt verständnisvoll und schenkt mir noch etwas Kaffee nach.

„Erzähl mir doch nochmal, wie du zu dem Geld gekommen bist!“
„Aber Theresa, das hab ich dir schon so oft erzählt.“
„Weiß ich doch, aber ich möchte es nochmal hören, bitte, bitte!“
„Also gut. Ich halte an der Imbissbude an, weißt du die, die auf meinem Weg liegt, wenn ich in die Stadt fahre. Ich bin schon oft daran vorbeigekommen und schon lange wollte ich dort mal was essen, na ja. Diesmal also habe ich angehalten und merkwürdigerweise wurde ich von dem Budenmann und einem anderen Typen mit irgendeinem ominösen Johannes verwechselt. Offenbar sieht mir der unglaublich ähnlich. Zur Krönung kam dieser Typ, also der Cowboy mit dem Pick-Up, auf mich zu und gab mir einen Umschlag mit Geld. Der echte Johannes hatte ihm offenbar den Ami-Schlitten ein paar Tage vorher verkauft und nun wollte der Cowboy bezahlen.
Ich fühlte mich wie in einem Traum, war nicht ganz bei mir. Ich habe das Geld einfach genommen und bin schnell gegangen, hatte noch nicht mal ein schlechtes Gewissen, das kam erst später. Jedenfalls bin ich dann sofort zu dir gefahren, noch am selben Tag, hab nur vorher kurz meine Klamotten gepackt.“
„Ziemlich unglaubliche Geschichte, wenn ich dich nicht so gut kennen würde …!“ Theresa wackelt leicht mit dem Kopf, macht ein ernstes Gesicht und schaut kurz an mir vorbei ins Leere.
„Ich fahre jetzt in die Stadt, muss noch ein paar Sachen einkaufen. Kommst du mit?“, fragt sie nach einer kurzen Pause.
„Ja klar. Ich will unbedingt in deiner Nähe sein.“ Theresa lacht, steht auf, um ihren Einkaufskorb und die Autoschlüssel zu holen, und zwei Minuten später sind wir schon unterwegs.

„Sehr praktisch, so ein Einkaufswagenschieber“, sagt Theresa und lächelt mich an, mit diesem unwiderstehlichen Lächeln.
„Ich mache mich halt nützlich, wo ich nur kann“, antworte ich und bleibe verdutzt vor einem Zeitschriftenständer stehen.
„Guck mal, was die hier haben? Ist ja kaum zu glauben“. Ich nehme die Hamburger Abendzeitung aus dem Ständer und es fühlt sich unwirklich und seltsam an. Ich stehe hier irgendwo mitten in Spanien in diesem riesigen Einkaufscenter und halte eine Zeitung von Zuhause in der Hand. Melancholische Gefühle überkommen mich ganz plötzlich, ein leichter Anflug von Heimweh. Wie oft stand ich morgens mit der Zeitung in der Hand am Bahnsteig, wenn ich auf den Zug gewartet hatte. Hier ist es mir aber irgendwie unangenehm, jeder könnte mich nun sofort als Tourist identifizieren. Blöde Gedanken, ich versuche sie zu vertreiben, hier interessiert es doch nun wirklich niemanden woher ich komme. Während ich ganz in meine Gedanken gehüllt in der Zeitung blättere und überlege, ob ich sie kaufen soll, fällt mir eine kurze Notiz im Lokalteil ins Auge: „… kam es an einem Schnellimbissstand wegen der Bezahlung eines PKW, zu einem heftigen Streit zwischen zwei Männern, in dessen Verlauf der 42-jährige Johannes M. bei einem Handgemenge verletzt wurde und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste …“.

„Was ist mit dir?“ Theresa schaut mich fragend an.
Ich deute mit zittrigem Finger auf den Artikel und stammele: „Das…, das habe ich nicht gewollt … !“

 

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