Von Anne Zeisig

Die Dunkelheit beginnt früh und die Eiskristalle glitzern auf Hecken und Bäumen.
Die Flammen aus der Feuerschale flackern über die darum sitzende Familie und tauchen ihre Gesichter in warmes Licht.
Die Großeltern haben sich wärmende Decken übergelegt.

„Ich mag meine Wurst kross“, sagt der Nachbar aus dem Reihenhaus nebenan, dessen Frau vor kurzem an Krebs verstorben ist. „Wenn ‘s nicht zuviel verlangt ist.“
„No problem!“
Der Grillmeister zu allen Jahreszeiten zwinkert seiner Frau zu, weil sie angeregt hat, den einsamen Alten zum Wintergrillen einzuladen.
„Sie müssen wissen“, erklärt er, „dass Lieschen und ich früher auch oft gegrillt haben. Aber nur im Sommer.“
Die Hausdame nickt, denn selbstverständlich weiß sie das. Es hat oft appetitlich von drüben gerochen.
„Warum haben Sie keine Kinder?“, fragt die jüngste Tochter der Gastgeber und hält ihr Stockbrot in das Feuer.
„Meine Frau, Gott habe sie selig, meinte, dass wir nicht zum Eltensein taugen.“
Er holt tief Luft. „Waren beruflich viel unterwegs.“
„Gab es denn damals schon die Pille?“,wird er von ihr gefragt.
Der Nachbar wiegt seinen Kopf hin und her. „Auch vor der Pille gab es Verhütungsmethoden.“
“Solche Intimitäten gehen uns nun wirklich nichts an!“ Die Mutter legt ihm die Grillwurst und ein Brötchen auf den Teller, spritzt Ketchup aus der Flasche darüber. „Lassen Sie es sich schmecken.“
Er beißt in die heiße Wurst. Das Fett rinnt ihm übers Kinn in den ungepflegten Bart hinein. „Die Älteste ist nicht da?“
Er hatte wegen ihr überlegt, diese Einladung auszuschlagen.
„Caroline studiert in den USA!“, ruft der Ehemann hinüber, lächelt seine Frau und die jüngste Tochter an. Schaut auf sein Handy. „Aber inzwischen müsste sie längst gelandet sein.“
„Sie studiert Psychologie, will mal mit Kindern und Jugendlichen arbeiten“, erklärt die Mutter stolz und blickt auf ihre Armbanduhr. „Wird wohl bald mit dem Taxi eintrudeln.“
Der Großvater kratzt sich am Kinn, „Schön, dass sie kommt! Habe sie seit Ewigkeiten nicht zu Gesicht bekommen.“
„Habe immer viel von Caroline gehalten.“ Der Nachbar erhebt sich und legt die Decke über den Gartenstuhl. „Bin satt und müde.“
Die Eheleute nicken ihm lächelnd zu, als er schwerfällig über den Rasen zum Gartentor schlurft.
„Sie können gerne bleiben!“, ruft ihm Carolines Mutter zu.
„Ich wusste nicht, dass der so eine gute Meinung von unserer Ältesten hat“, flüstert der Hausherr seiner Frau zu.
„Sie war als Kind so dann und wann mal drüben“, raunt die Mutter.
Plötzlich hält der Alte erstarrt inne, als ein Taxi vorm Grundstück anhält, Gepäck in Windeseile ausspuckt und eine junge Frau mit rosigen Wangen aussteigt, den Alten entgeistert mustert.
„Was machen Sie denn hier?“, fragt sie ihn überrascht.
Der wendet sich ab und flieht in seinen Zuweg.
Nestelt nach seinem Schlüssel, findet ihn aber nicht.
„Aber das ist doch Herr … von nebernan!“, ruft ihre Mutter, eilt zur Tochter und umarnt sie. „Hattest du einen guten Flug?“
Die Tochter zeigt abermals auf den Nachbarn, den sie sehr lange nicht zu Gesicht bekommen hatte, welcher immer noch nicht seinen Hausschlüssel gefunden hat.
Alle Augen sind auf ihn gerichtet, wie er buckelig im Halbdunkel vor seiner Haustür steht „Ich wollte längst gehen“, stottert er, fingert den Schlüssel endlich doch aus der Hosentasche und stochert im Schloss herum.
Es riecht nach angebranntem Stockbrot. Die junge Schwester lässt es fallen. Weil es bitter schmeckt.
„Sagen Sie wenigstens, dass Sie das damals nicht gewollt haben“, fleht Caroline ihn an und eine Zornesfalte gräbt sich tief über ihre Nasenwurzel ein.

Die Erinnerung kriecht in ihr hoch wie eine würgende Schlange, die sich eng und enger um ihren Brustkorb windet.
Sie schnappt nach Luft, der Rauch aus der Feuerschale brennt in ihrer Kehle und lässt sie husten.
„Bist du erkältet?“, fragt die Mutter und zuckt ahnungslos ihre Schultern, als sie zur Familie in den Garten blickt. „Was soll er nicht gewollt haben?“
„Das ist von der Klima-Anlage im Flieger“, meint die Oma.
„Neee, neee“, säuselt der Großvater, „da steckt mehr dahinter.“

‘Hoppe, hoppe, Reiter’, hat der Nachbar gesungen, als Caroline auf seinem wippenden Schoß saß.
Seine kalte magere Hand unter ihrem Sommerröckchen verschwand und an ihrem Höschen nestelte.
Er verdrehte seine Augen gen Zimmerdecke und sein heiseres Keuchen dröhnte in ihren kindlichen Ohren.
Sie war von ihm hinuntergesprungen und erreichte gehetzt und kurzatmig das Elternhaus, wo die Mutter in der Küche kochte und wegen der Wärme das Fenster weit geöffnet hatte.
„Na? War es schön drüben? Ich habe gehört, wie er gesungen hat.“ Und weil die Mama gelächelt hatte, da dachte sie, das sei bestimmt nur ein schlechter Traum gewesen, oder eine Einbildung. Und dass es normal sei, wie der Nachbar sich benommen hatte.

Die Flammen lodern nur noch niedrig und knistern leise.
„Du hattest immer schon zu viel Phantasie“, stottert er mit brüchiger Stimme und öffnet seine Tür.
„Sag doch einfach, dass du das damals nicht gewollt hast!“ Caroline hätte ihn längst konfrontieren sollen. Aber die Verdrängung tat ihr gut in all den Jahren und die Entfernung auch.
Aber nun, da sie ihn im privaten Raum ihren Elternhauses angetroffen hatte …

Der Nachbar schüttelt den Kopf, dreht sich kurz herum und schließt seine Tür laut hinter sich.
Caroline sinkt auf seine Fußmatte und schluchtzt.
„Da steckt mehr dahinter“, nuschelt der Großvater.
Die Mutter eilt herbei und nimmt ihre Tochter in den Arm.
„Wir müssen über meine Erinnerungen reden, Mama“, sagt Caroline schluchzend und steht auf.

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