von Reiner Pörschke
 

Kennen Sie Halberstadt? Nein? Kein Wunder, aber das erkläre ich Ihnen später. Die Geschichte nimmt 1955 dort ihren Anfang …

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Der Vater kommt erst spät zum Abendessen, die beiden kleinen Kinder liegen schon im Bett und schlafen. Seine Frau setzt sich zu ihm: „Na, wie war dein Tag?“ „Ach …, wie immer, wie immer dieser Ärger mit den Behörden. Heute kam noch einer von der Partei herein und forderte mich auf, endlich in die SED einzutreten. Ich, der mit den Linken noch nie was am Hut hatte! Diese Apparatschiks werden immer dreister.“ „Ja, hör ich öfter in der Stadt“, antwortet seine Frau, „Selbständige werden hier nicht mehr gern gesehen.“ „Was sollen wir denn nur tun? Rübermachen wie so viele? Meine Apotheke aufgeben? Kann und will ich nicht, unsere Familie führt die doch seit drei Generationen.“ „Hilft alles nichts“, seufzt seine Frau, „die Zeiten ändern sich nun mal. Noch wäre die Grenze offen, wer weiß, wie lange. Und unsere Kinder, sollen die hier in die Kaderschulen gehen?“ „Ich denk mal drüber nach …“, windet sich der Hausherr.

Herr Wagner, der Apotheker vor Ort, respektiert und beliebt, mag seine kleine Heimatstadt und liebt seine Apotheke, seine Kunden und Patienten will er nicht in Stich lassen. Aber nach ein paar weiteren Gängeleien und Schikanen durch die Behörden, sogar durch die linientreue Apothekerkammer, flüstert er eines Abends wie ein Geheimagent zu seinen Lieben: „Morgen fahren wir mit dem Zug nach Berlin, und dann weiter in den Westen. Die brauchen dort auch Apotheker …“

Die Familie kommt durch Zufall nach Duisburg, ganz im Westen Deutschlands. Im Stadtteil Homberg ist eine Apotheke zu vergeben, die kann er übernehmen. Mit deren alten Namen muss er sie allerdings weiterführen, „Glückauf“-Apotheke, er, der noch nie etwas mit dem Bergbau zu tun hatte.

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Sein Söhnchen Werner wächst heran, und in der Volksschule lernte ich den Sohn des Apothekers kennen. Er war ein rechter Wirbelwind, ein Krauskopf mit schwarzen Haaren. So sauste er mit seinem kleinen knallroten Rennrad, das schon mit einer Kettenschaltung ausgestattet war und um das ihn alle Mitschüler beneideten, durch unsere Straßen.

Wir freundeten uns an und oft war ich in der Apothekerwohnung, wo ich nur selten den ernsten, wortkargen Hausherrn zu Gesicht bekam. Werner erzählte manchmal von Halberstadt, als sei das die schönste Stadt Deutschlands. Die Mitschüler und Lehrer ließen ihn gewähren. Der Ort war nirgends in unserem Schulatlas eingezeichnet und auf der großen grünen Deutschlandkarte, die vorn in unserer Klasse hing, erst recht nicht zu finden. Und letztlich konnte es uns Jugendlichen egal sein, wie diese Stadt aussah, sie lag hinter dem „Eisernen Vorhang“ und war damit sowieso für uns unerreichbar. Da wohnten auch die Kommunisten, mit denen wir Westdeutschen doch immer kurz vor dem Kriegsausbruch standen, mit denen wollten wir nichts zu tun haben.

Im November 1989 wurde quasi über Nacht Deutschland wiedervereinigt, was auch bedeutete, jetzt konnten alle Wessis ohne Formalitäten gen Osten reisen. Mit großer Neugier wollte ich per Rad oder Auto die ehemalige DDR erkunden, für Geschichte und Mittelalter hatte ich mich schon immer interessiert. Das Gebiet im Osten war ja über 40 Jahre abgesperrt, für Neubauten oder Renovierungen von Städten und Häusern war kaum Geld übrig gewesen. Dadurch ergab sich doch die einmalige Gelegenheit, das alte Deutschland kennenzulernen, aber wo anfangen?

Ich dachte unwillkürlich zurück an Werner, meinen Freund aus der Schule. Was hatte der uns immer von Halberstadt vorgeschwärmt! Wo lag diese Stadt denn überhaupt? Im Autoatlas konnte ich sie endlich finden, ein kleiner Ort im nördlichen Harzer Vorland.

Im Sommer 1991 fuhr ich in die geheimnisvolle Geburtsstadt von Werner. Über schlechte Straßen, auf denen ich um die Achsen meines Autos fürchtete, erreichte ich an einem Sonntag um die Mittagszeit mühsam das Zentrum. Das bestand aus dem Marktplatz mit ein paar alten Häusern, die man notdürftig wieder hergerichtet hatte. Aufdringliche Reklame wie bei uns war nicht zu sehen, auch kaum Verkehrszeichen, nur ein paar kleine Hinweistäfelchen, die den Händlern der Umgebung an Markttagen nützlich sein würden. Enge Straßen mit Kopfsteinpflaster führten sternförmig weiter. Ich hatte das Gefühl, mitten in Deutschland tut sich für mich eine andere Welt auf. Vage Erinnerungen an meine eigene Kindheit, die lange zurückliegt, wurden wach, Bilder aus alten Märchenfilmen sah ich wieder vor mir. 

Hundert Meter weiter stand ich fassungslos vor einer Reihe mit kaputten, dennoch reizvollen Fachwerkhäusern in verblichenen Farben. Das Holz war zersplittert, sie waren nur notdürftig mit Brettern zugenagelt und längst von ihren ehemaligen Bewohnern verlassen worden. Das sah aus wie eine Geisterstadt, zumal nur wenige Menschen über die Bürgersteige huschten. Ganz in der Nähe eine Anhöhe,  die über  eine alte Steintreppe zu besteigen war. Oben stand ich gebannt auf einem weiten grünen Platz zwischen zwei mächtigen Kirchen, Dom und Liebfrauenkirche. Ich blickte jetzt aus einiger Entfernung auf die Altstadt hinunter und bekam eine Ahnung, wie Deutschland einmal ausgesehen hatte, welch hübsche, anheimelnde und würdevolle Städte wir vor dem Weltkrieg hatten. Denn im Vergleich fiel es mir auf, in unseren Städten im Westen wurde in der Nachkriegszeit mit schnellem wilden Wiederaufbau viel Charme vernichtet, der hier in Halberstadt noch zu sehen war, wenn auch mit den vielen tiefen Wunden des letzten Krieges. Ich kam mir vor wie in einer Zeitmaschine, die mich 60 Jahre zurück in die Vergangenheit befördert hatte. Es fehlten eigentlich nur ein paar Kutschen, von Pferden gezogen, um die Idylle perfekt zu machen.

Ich bin nie mehr wieder in Halberstadt gewesen, die Stadt wird inzwischen aus ihrem Dornröschenschlaf aufgewacht sein, schade.

Reiner Pörschke

 

  1. Fassung