von Klaus Freise

Ich stehe vor einem Gemälde. In New York. Neben mir eine schöne Frau. Wir betrachten Hoppers „Nighthawks“. Öl auf Leinwand. Nur vier Personen im Coffeeshop.

Ein Barkeeper mit weißer Mütze. Ein Mann im Straßenanzug der fünfziger Jahre, dessen Gesicht ich nicht sehe. Er sitzt mit dem Rücken zum Betrachter. Eine Frau im roten Abendkleid, rote Haare. Ich trete ein Stück näher. Eine Hand mit roten Fingernägeln legt sich auf meine Schulter. Die rothaarige Frau erwartet etwas. Sie sieht ihre Finger an und wartet. Auf das Highlight des Abends? Der Mann neben ihr trägt einen blauen Anzug mit grauem Hut. Fünfziger Jahre, natürlich trägt er einen Hut. Er starrt vor sich hin. Ist cool.

Könnte alles sein, Gangster, Bulle, Schnüffler oder FBI-Agent. Ich kann die Augen der Frau nicht erkennen. Sie sind niedergeschlagen. Ich trete noch einen Schritt vor, verschiebe die Absperrung. Stimmen werden hinter mir laut. Die Frau neben mir sagt etwas, ich höre sie nicht. Sie sehen auf dem Bild alle so verloren aus. Cool aber verloren. Das Bild ist riesig, aber ich kann ihre Augen nicht sehen. Noch ein Schritt. Die Pfosten vom Absperrband fallen um. Jemand ruft nach dem Sicherheitsdienst. Was denkt sie, ist sie einsam, traurig oder nur gelangweilt. Warum sieht er sie nicht an, lächelt? Er ist cool. Bogart hat Lauren Bacall auch nie angelächelt. Hinter mir höre ich das Getrampel schwerer Stiefel. Wer ist der einzelne Mann, den ich nur von hinten sehe? Einen Moment zögere ich noch, dann strecke ich die Hand aus und gehe den letzten Schritt. Starke Hände greifen nach meinen Schultern, wollen mich zurückziehen. Zu spät, viel zu spät. Ich tauche ein. Die Stimmen verstummen.

Wie durch einen Wasserfall gehe ich in eine andere Welt. Als ich aus dem kalten Vorhang kam, konnte ich mich gerade noch auf dem kippelnden Barhocker halten, krallte mich verlegen an der Theke fest. Der Barkeeper schaute fragend auf. „Mister?“ Ich starrte ihn an.

„Einen Kaffee, bitte.“ Ich sah den Anzug an mir, spürte den Hut auf meinem Kopf, sah das Paar gegenüber. Ich war der dritte Mann. Der Barkeeper nickte. „Kommt sofort, Mister.“

Dann sah die Frau über ihre Hände hinweg in meine Richtung. Grün, ihre Augen, sie waren grün. Versuchte zu lächeln. Ging nicht, war jetzt cool. Der Kaffee kam. Ich griff in die Anzugtasche. Ertastete ein Bündel Geldscheine. Zog einen Schein unter dem Gummiband hervor und schob ihn über die Theke. „Stimmt so.“ Der Keeper starrte mich an. Er konnte lächeln. Fünfziger Jahre und ich schob einen Dollar über die Theke, in einem Coffeeshop, in dem ein Kaffee nur fünf Cent kostete. Ich trank den Kaffee in einem Zug. Er war nicht zu heiß und nicht zu kalt. Genau richtig eben. Dann rutschte ich lässig vom Barhocker. Ich war groß, mindestens einsfünfundachtzig. Der Anzug saß perfekt. Mit der linken nahm ich den Hut ab, sah hinein und überprüfte mit der rechten Hand den korrekten Sitz des Schweißbandes. Den Hut immer noch in der Hand sah ich sie wieder an, direkt in die smaragdgrünen Augen. Sie lächelte. Der Mann neben ihr starrte immer noch ins Nichts. Sein Gesicht wirkte fahl und grau, der Anzug verblasst. Langsam ging ich zum Ausgang. Kurz vor der Tür blieb ich stehen, ließ den Hut durch die Finger wandern. Einem inneren Impuls folgend, drehte ich mich um und ging zu ihr. Streckte die Hand aus. „Gehen wir.“ Sie nahm meine Hand und strahlte.

Weiße Zähne zwischen roten Lippen. Das Warten hatte ein Ende. Der Mann neben ihr rührte sich nicht. Im Neonlicht wirkte er wie aus Stein. Sein Anzug war mit Haarfeinen rissen übersät. Ohne den Blick von mir zu wenden, tätschelte sie seine Schulter. „Machs gut Sam.“ Sam zerfiel zu Staub. Ich ging mit ihr zur Tür. Ich setzte den Hut auf. Sie hakte sich bei mir unter. Dann traten wir in die menschenleere Nacht hinaus. Wie Rita Hayworth sprach sie nicht, nein sie gurrte. „Komm, ich kenn da eine Bar.“