Von Franck Sezelli

In meiner gegenwärtigen Heimat wird diese Geschichte seit Jahrhunderten – was sage ich? – seit Jahrtausenden erzählt. Für den Wahrheitsgehalt der Erzählung, die von den Einwohnern im Norden der iberischen Halbinsel beiderseits des begrenzenden Gebirges von Generation zu Generation weitergegeben wurde, und die ich hier nun für euch aufschreibe, kann ich mich allerdings nicht verbürgen.

Apropos »bürgen«: Es geht hier zwar um einen, der richtig wütend werden konnte und aus dem erzählten Anlass auch wurde, aber da es zu dieser Zeit noch keine »Bürger« im heutigen Sinne gab, weiß ich nicht, ob die Bezeichnung  »Wutbürger« für den Helden – im doppelten Sinne – meiner Erzählung angemessen ist. Dessen ungeachtet darf diese Sage bei dem Thema nicht fehlen, meine ich.

 

In Vorzeiten lebte am Mittelmeer auf dem heutigen Gebiet Nordkataloniens das iberische Volk der Bebryker. Bebryx, der stolze König dieses Volkes, rief seine liebreizende Tochter: »Pyrene, wir bekommen heute Besuch von dem großen Herkules. Bitte sei nett zu ihm, er hat einen weiten Weg hinter sich und eine sehr schwere Aufgabe vor sich. Da wollen wir ihm den Aufenthalt recht angenehm gestalten.«

»Was hat er denn für eine Aufgabe zu bewältigen, Vater?«, fragte neugierig die schöne Prinzessin.

»Das weiß auch ich nicht genau, aber Herkules ist durch seine Taten bereits in der ganzen Welt als Held bekannt. Hera hat ihm diese schweren Arbeiten durch das Orakel von Delphi aufgetragen als Sühne einer Missetat seiner Jugendzeit. Aber in Wirklichkeit ist sie ihm wohl nicht wohlgesinnt, weil ihn ihr ungetreuer Gatte Zeus mit Alkmene gezeugt hatte.«

»Wir bekommen Besuch von des Gottes Sohn?«

»Ja, Herkules ist ein Halbgott, ein Sohn von Göttervater Zeus, und verfügt über ungeheure Kräfte.«

»Oh Vater, wie freue ich mich auf diesen hohen Besuch!«

Herkules hielt sich mit seinen Mannen einige Zeit im prachtvollen Palast des Bebryx auf. Er machte auch einige Ausritte in die Umgebung, die ihm außerordentlich gefiel, zwischen den Corbières, der Meeresküste und dem Land der Iberer.

Die Prinzessin durfte ihn manchmal begleiten. Einmal, als sie weit gen Süden geritten waren, erzählte sie ihm von Gerió, der über viele Ländereien herrsche und auch diese Gegend hier erobern wolle. Die Völker hätten sich ihm alle schnell unterworfen, weil er kein Mensch, sondern ein Monster sei. »Er hat sogar mir nachgestellt, aber ich konnte ihm entkommen. Allerdings habe ich ihn gesehen – und mir graust heute noch bei der Erinnerung. Das könnt Ihr mir glauben, großer Herkules.«

»Wieso? Was hat er Schreckliches an sich?«

»Er ist ein Riese und ein Dreileib, besitzt drei Köpfe und drei Oberkörper, die an der Hüfte zusammengewachsen sind. Sogar Flügel habe ich gesehen!«

»Das ist bestimmt der Riese Geryon, wie wir sagen. In dessen Gebiet bin ich unterwegs. Dieses Monster soll dich nie mehr ängstigen, schöne Prinzessin!«

Bei Tisch am Abend erzählte Pyrene ihrem Vater von dem Vorhaben ihres Gastes.

Herkules bestätigte: »Ja, es ist meine zehnte Aufgabe. Ich werde die Rinderherde des Geryon rauben, um sie zu Eurystheus zu bringen.«

»Oh, das ist aber eine sehr riskante Angelegenheit«, rief Bebryx aus. »Man erzählt sich, dass dies außergewöhnlich schönes Vieh ist, eine Herde roter Stiere, die von einem Hirten und von dem zweiköpfigen Hund Orthos bewacht wird, der ein Bruder des Höllenhunds Kerberos ist.«

»Ein Herkules kennt keine Angst! Habt Ihr nicht meine große Keule aus Olivenholz gesehen? Und – ich möchte, dass Eure bewundernswerte Tochter nicht länger Angst vor diesem Monster Geryon haben soll.«

Noch in derselben Nacht empfing Pyrene den Helden dankbar in ihrem Schlafgemach. Dort zeigte der große Grieche ihr eine zweite mächtige Keule, nicht aus Olivenholz, und beeindruckte sie damit so sehr, dass sie diese wiederholt in ihr Schatzkästlein bettete.

Am nächsten Morgen brach Herkules gen Südwesten auf, um das Land der Abendröte, die Insel Erytheia, zu suchen, in dem der Monsterriese hausen sollte.

 

Als ihr Geliebter auch nach Monaten nicht wie versprochen zurückkam, glaubte sich die Prinzessin verlassen. Bald war nicht mehr zu leugnen, was sie getrieben hatte. Sie fürchtete die Wut ihres königlichen Vaters ob dieser Schmach, entsagte der Wohltaten des Lebens im Palast und floh in die Wälder.

Die junge Frau verbarg sich in einsamen Höhlen und ernährte sich von Wurzeln und Beeren. Als es soweit war, gebar sie – wieso, das wissen nur die Götter – eine Schlange. Der Anblick dieser abscheulichen Frucht ihrer Liebe brachte sie an den Rand des Wahnsinns. Sie floh noch tiefer in die Wälder, wehklagte Tage und Nächte lang, beweinte die Nacht in den Armen des Herkules und seufzte über dessen vermeintliche Untreue.

So konnte nicht ausbleiben, dass sie die wilden Tiere des finsteren Waldes verfolgten und schließlich grausam zerrissen.

 

Indessen fand Herkules die schönen Stiere, überwältigte den Hirten und den bösen Hund. Als Geryon herbeieilte, war es auch um ihn geschehen: Mit einem vergifteten Pfeil brachte er ihn zur Strecke.

Bei der Rückkehr in den Palast, wo der Held seine Liebste anzutreffen hoffte, erfuhr er von deren Flucht in die Wälder. Nach tagelangem suchenden Umherirren fand Herkules die verstreuten Glieder der Geliebten.

»Pyrene! Pyrene! Pyrene!«, schrie und schluchzte verzweifelt der große Heros, bis er schließlich richtig wütend wurde. In seiner rasenden Wut häufte er Stein auf Stein, Felsen auf Felsen, bis die unglückliche Prinzessin ein würdiges Grabmal hatte: die Pyrenäen!