Von Herbert Glaser

„Das darf nicht wahr sein, schon wieder ein Anschlag – verdammte Terroristen. Sieh dir das an!“

Klaus hielt seiner Frau die Titelseite einer Tageszeitung hin. In Brüssel hatte ein Attentäter an einer Bushaltestelle einen Sprengsatz gezündet. Die Verantwortung übernahm eine islamistische Terrorzelle.

„Ich habe es vorhin im Radio gehört“, entgegnete Maria, „schrecklich!“

Er legte die Zeitung weg. „Vor diesen religiösen Fanatikern ist man inzwischen nirgendwo mehr sicher.“

Sie deutete auf seinen unbenutzten Teller. „Iß bitte etwas.  Du weißt doch, Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit!“

„Im Büro vielleicht.“ Er trank einen Schluck schwarzen Kaffee und hielt ihr die Tasse hin. „Das ist genau das, was ich jetzt brauche.“

„Wieder schlecht geschlafen?“

Er winkte ab. „Ich muss los, was hast du heute vor?“

„Ich treffe mich mit Christine im Einkaufszentrum zum Shoppen.“

„Und zum Quatschen nehme ich an, na dann viel Spaß euch Beiden und grüße sie von mir.“

 

Klaus fuhr gerne mit dem Fahrrad zur Arbeit. Die Bewegung tat ihm gut und half ihm dabei, richtig wach zu werden. Heute war das besonders nötig. Bis 3 Uhr hatte er kein Auge zugetan. Dann entschied er sich doch für eine Schlaftablette, um wenigstens ein paar Stunden Ruhe zu finden. Die Wirkung der Medizin war allerdings immer noch spürbar und das Koffein hatte bis jetzt nicht geholfen.

Genaugenommen gab es keinen Grund für schlaflose Nächte. Ihr gemeinsames Leben war nach nahezu perfekt. Sein Job in einem IT-Unternehmen gab ihnen finanziellen Spielraum, während Maria als Webdesignerin bequem von Zuhause aus arbeiten konnte. Zuerst fiel ihr zwar manchmal die Decke auf den Kopf, inzwischen hatte sie aber Anschluss gefunden. Vor allem mit ihrer besten Freundin Christine war sie unzertrennlich. Es gab nicht wirklich Grund zum Grübeln, die Schlafprobleme hatte er wohl von seinem Vater geerbt.

 

Auf halbem Weg zum Büro hielt er an einem Kiosk. Sämtliche Zeitungen berichteten von dem erneuten Anschlag, ein Titelbild schlimmer als das andere. Acht Menschen hatten den Tod gefunden, viele waren schwer verletzt. Die Hintermänner drohten mit weiteren Attentaten in allen Ländern Europas.

Klaus kaufte eine Flasche mit kaltem Cola, in der Hoffnung auf belebende Wirkung.

Die Luft um ihn herum war angefüllt mit klappernden Schritten und dem Stimmengewirr der Leute auf dem Weg zur Arbeit.

Er gab die Pfandflasche zurück, ging zum Fahrrad und kam aus dem Gleichgewicht, als ihn jemand anrempelte.

„Pass doch auf, du Idiot!“ schimpfte er dem Mann mit Kapuze und Rucksack hinterher, der unbeeindruckt in der Menge verschwand.

„Haben Sie das gesehen, der könnte sich wenigstens entschuldigen, so eine Frechheit!“ machte Klaus seinem Ärger beim Kioskbesitzer Luft.

„Ja ja, es nimmt keiner mehr Rücksicht auf die Mitmenschen … weiterhin schönen Tag“, beendete dieser das Thema, während er bereits den nächsten Kunden bediente.

Klaus` Blick fiel erneut auf die Terrornachrichten. Er schreckte auf. Der Typ, der ihn angerempelt hatte, war mit einem Rucksack unterwegs … hatte er nicht einen Bart wie ein … Islamist? Und außerdem, wer trug an einem so warmen Sommermorgen ein dickes Kapuzenshirt? Der musste etwas zu verbergen haben!

Er grübelte einen Moment, dann packte er sein Rad am Lenker und kämpfte sich zwischen den Passanten hindurch.

Fast hatte er den Kapuzenmann aus den Augen verloren, als er ihn in einiger Entfernung in einer Nebenstraße verschwinden sah. Im Laufschritt, das Fahrrad um die Fußgänger herum lenkend, bog auch Klaus um die Ecke und sah gerade noch, wie der Verfolgte die Treppe zu einer U-Bahnstation hinunterlief. Bevor der Verdächtige im Untergrund verschwand, sah Klaus sein Gesicht im Profil. Er hatte tatsächlich einen Bart wie diese IS-Krieger, die man aus den Nachrichten kannte.

 

Seine Gedanken rasten. War er einem Terroristen auf die Spur gekommen, der ein Attentat plant? Sofort fiel ihm der Anschlag in der Londoner U-Bahn ein und der in Japan einige Jahre davor. War er nicht verpflichtet, die Polizei zu informieren? Aber was sollte die unternehmen? Alle U-Bahnen stoppen, die Fahrgäste evakuieren, nach einer potentiellen Bombe und Giftgas suchen? Dafür erschienen seine Beobachtungen dann doch zu dürftig.

Andererseits … musste man nicht die Menschen schützen, die im Morgenverkehr unterwegs zur Arbeit waren, oder … zum Shoppen. Der Gedanke traf ihn so heiß wie die Strahlen der Sonne, die inzwischen über den Häusern aufgegangen war.

„Maria!“, schrie er, die verstörten Blicke einiger Passanten ignorierend. Das Einkaufszentrum, in dem ihre Freundin auf sie wartete, lag ebenfalls an dieser U-Bahnlinie. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.

Er zückte das Handy und wählte die Festnetznummer ihrer Wohnung – Anrufbeantworter. Marias Mobilfunknummer – Mailbox. Warum um alles in der Welt hatte sie ihr Smartphone nicht an?

Klaus sah auf die Armbanduhr. Der Weg von ihrem Zuhause bis zur U-Bahn dauerte zu Fuß ca. 20 Minuten. Zur Station, an dem er mit dem Rad stand, waren es drei Haltestellen, die musste er zurücklegen. Wenn Maria eben erst losgegangen war, könnte er sie erreichen, bevor sie einstieg.

Er schwang sich auf sein Rad und trat in die Pedale. Der Verkehr um ihn herum tobte, mehrere rote Ampeln verhinderten ein schnelles Vorankommen, es wurde knapp. Sein Hemd war inzwischen tropfnass.

Mit seinem Citybike sprang er vom Radweg auf die Straße herunter und setzte den Weg zwischen hupenden Autos hindurch fort. Abgaswolken stiegen ihm in die Nase, er bemerkte es nicht.

Noch zwei Querstraßen. Wieder schaltete eine Ampel auf Rot. Im letzten Moment konnte der Fahrer eines PKWs notbremsen, als Klaus, das Haltesignal missachtend, über die Kreuzung schoss.

Er war fast am Ziel. Die Station, an der seine Liebste einsteigen würde, lag in Sichtweite. Da sah er sie, wie sie auf das Grünlicht der Fußgängerampel wartete. Klaus schrie aus Leibeskräften, winkte mit einem Arm, kam jedoch gegen den Lärm der Großstadt nicht an, aber er würde es schaffen. Maria war gerettet!

Erleichtert bog er ein letztes Mal ab und übersah den LKW, der ihn überfuhr.

 

ENDE

 

Version 2