Ute Scharmann

Eine Papierschwalbe traf den rechten der drei Bildschirme und landete auf der Leiterplatte genau dort, wo Gregor gerade einen Transformator aufgelötet hatte.

„Ab in den Folterkeller, Obernerd!“, rief Sebastian in den Raum hinein und Bernds Stimme intonierte „We are the champions“.

„Softwarefuzzies“, knurrte Gregor und drehte sich mit dem Arbeitsstuhl im 180-Grad-Winkel. „Ihr hättet den Lötkolben treffen können. Wollt ihr meinen Versuchsaufbau abfackeln? Ich komme nach.“

Eigentlich hätte er lieber noch eine halbe Stunde weitergearbeitet, vielleicht auch eine oder zwei Stunden. Den neuen Versuchsaufbau hätte er gerne vor Feierabend getestet. Stattdessen beendete er das Layoutprogramm und fuhr den Arbeitsplatz runter. Feierabend – ab in den Keller.

 

Sebastian und Toby rannten nebeneinander auf den Laufbändern, der konzentrierte Ausdruck auf ihren Gesichtern schien zu bedeuten: Hier leisten wir unsre eigentliche Arbeit. Dagegen machten Bernd und Yan auf den Fahrradergometern einen eher gequälten Eindruck. Die Hantelbank hatte Gregor wie immer für sich. Drei Sätze Flachbankdrücken, drei Sätze Butterfly mit den Kurzhanteln, drei Sätze Schrägbank, dann war eine Pause angesagt. Er sah den unverdrossen auf dem Laufband rennenden Kollegen zu. Sebastian schien inzwischen etwas nachzulassen, während Toby das Tempo gesteigert hatte.

„He Hamster, gebt Gas!“, rief er den beiden zu und legte die Gewichtscheiben fürs Oberarmtraining auf.

Wie jeden Freitag endete der Fitnessabend in der Sushibar des Buinesskomplexes.

„Die Bürohengste haben uns mindestens zwei Runden voraus“, stellte Sebastian fest und bestellte eine Lage Kölsch.

Das Gespräch plätscherte dahin. Toby schlug eine Wette zum Bauchumfang des Abteilungsleiters vor. Werte wurden genannt, an der Frage, wie man das Ergebnis experimentell ermitteln und verifizieren könnte, schieden sich die Geister.

„Sollen wir…“ Yan sah seine drei Kollegen aus der Softwareabteilung fragend an.

„Besser nicht, eindeutig einseitige Begabung.“ Bernd drückte auf seine Oberarmmuskeln.

„Kann ihm doch nur guttun. Kompetenzerweiterung und so.“

Gregor bemerkte, dass vier Augenpaare ihn taxierten.

„Was´n los?“

„Tja also…“

Yan zögerte die Antwort hinaus, bis jeder von ihnen die Sushiplatte vor sich stehen hatte.

„Machen wir´s kurz“, entschied Toby. „Fahrradtour in der ersten Septemberwoche: bist du dabei?“

„Joo…“, Gregor zögerte etwas. „Kriegen wir denn zusammen Urlaub?“

„Klaro“, erläuterte Yan. „Firmenprogramm „Gesundheit durch Sport“. Der „Dicke“ hält solange die Stallwache.“

Tour-de-France-Programm erfuhr Gregor. Zwei, drei Hügel und dann zum Abschluss eine richtige Herausforderung: der Tourmalet.

 

Samstagsfrühstück mit Corinna. Gregor war einsilbig, bis sie die Neuigkeit aus ihm heraus gefragt hatte. Der gemeinsame Schwedenurlaub würde etwas kürzer ausfallen müssen: Fahrradtour mit den Kollegen in Frankreich, kleiner Tour-de- France-Abschnitt. Als sie „Tourmalet“ hörte, stieß Corinna einen hysterischen Schrei aus: „Tour – ma – let! Du!“

Der Rest des Samstags war ungemütlich gewesen. Corinna hatte ihn immer wieder kopfschüttelnd angesehen und gefühlte 99 Mal daran erinnert, wie sie in den vergangenen Jahren über die Verrückten gelacht hatten, die sich mit den Rädern über den Gotthard oder den Großglockner quälten.

Zwischendurch zweifelte Gregor, ob seine Entscheidung für die Tour richtig gewesen war. Ausdauersport war nicht seine Stärke, die Kollegen würden ihn abhängen. Aber wenn die anderen darüber redeten, hörte sich alles wie ein großer Spaß an.

Der Trainingsplan für die Wochen vor der Tour wurde erstellt: An- und Abfahrt zum und vom Arbeitsplatz nur noch per Rad, am Wochenende zweimal Höhentraining im Bergischen Land oder in der Eifel.

In der Mittagspause wurden Ausrüstung und die Wahl der Räder diskutiert: Trekking- oder Rennrad – daran schieden sich die Geister. Nach Feierabend legte Gregor immer öfter eine Trainingseinheit auf dem Laufband ein. Im August war Ausdauer gefragt, kein Muskelumfang.

Corinna wurde zunehmend sauer, gleichzeitig begeisterte sie sich immer mehr für Herbert Grönemeyer. Fast jeden Abend dröhnte „Männer“ aus der Küche.

Der Schwedenurlaub im Juli verlief einigermaßen harmonisch. Während Gregor zwischen fünf und acht Uhr morgens sein Konditionstraining mit dem Rennrad absolvierte, räkelte sich Corinna noch im Bett. Nach einigen kurzen Attacken während des Frühstücks vermied sie tagsüber weitere Sticheleien.

Auf der Rückfahrt dachte Gregor daran, den Kollegen abzusagen. Ein friedlicher Alltag mit Corinna erschien ihm erstrebenswerter als das allabendliche „Männer-Intro“.

In der Firma erwartete ihn Hektik, mehrere Kunden hatten Geräteausfälle gemeldet „Hardwareproblem!“ lautete die Diagnose aus dem Software-Großraum-Büro. „Softwarefuzzies!“ Gregor machte sich einsam an die Fehlersuche.

Im Softwarebüro war die Stimmung bestens, Toby war stolzer Besitzer eines neuen Rennrads, das er neben seinem Schreibtisch geparkt hatte, seine „alte Möhre“ würde Yan übernehmen.

Am dritten Tag von Gregors Fehlersuche ordnete der „Dicke“ Toby ab, um in Koordination von Hard- und Software das Problem zu analysieren. Toby starrte zunächst stumpf auf die Messgeräte, mit denen Gregor Funktionen simulierte, nach einem halben Tag hatte er sich in Gregors Strategien eingedacht und nach einem weiteren Tag war auch seine Diagnose „Softwarefehler“.

„An dir ist ein Hardwareingenieur verloren gegangen“, erteilte Gregor das Höchstlob.

Zwei Wochen später, Yan und Bernd waren vom „Dicken“ zu einer Messeteilnahme abkommandiert worden, erfuhr Gregor, Yan habe das Handtuch geworfen.

„Und wieso?“

„Neue Frau?!“, vermutete Sebastian.

„Yan ist einfach ein Schlaffi“, konstatierte Toby.

„Vielleicht gar nicht schlecht! Zu viert passen wir alle in Bernds Auto.“

 

Je näher die Frankreichreise rückte, umso zickiger wurde Corinna. Gregor musste vor der Reise noch einen Meilenstein seines Projektplans erreichen, dazu das tägliche Training, das immer härter wurde – nach Frankreich würde alleswieder besser werden.

Den unterkühlten Abschied von Corinna hatte Gregor schon kurz hinter der französischen Grenze vergessen.

Die ersten Tage des Radurlaubs verliefen unspektakulär: eine lange Tour, mehrere kurze Sprints und kleine Bergetappen bei guter Laune, gutem Essen und viel französischem Rotwein. Am ersten Abend losten die drei Softwarefuzzies aus, wer von ihnen das Zimmer mit Gregor teilen „musste“. „Musste“, man wisse ja nicht, wieviel Hardwarebauteile der Kollege im Gepäck habe und was er in langen nächtlichen Stunden so alles zusammenlöten wolle. Das Los fiel auf Toby und nach der ersten schnarchfreien Nacht waren beide zufrieden mit der Auslosung.

Und dann war er da, der Morgen des Tourhöhepunktes. Bei frischem klarem Wetter startete man frühmorgens in Lourdes auf den 101 km langen Rundparcours über den Tourmalet. Bis Saint-Marie-de-Campan blieb die Gruppe zusammen, danach solle jeder seinen eigenen Rhythmus finden, der nächste Treffpunkt sei in 20 km auf dem Gipfel. Toby hatte sich rasch von den anderen abgesetzt, nach 8 km waren auch die beiden anderen Kollegen Gregor davongefahren. Am Rande des Wintersportortes La Mognie legte Gregor eine kurze Pause am Straßenrand ein. Jetzt waren es noch 6 km bis zum Gipfel bei durchschnittlich zehn Prozent Steigung. Eine alte Bäuerin trieb zwei Kühe an ihm vorbei. „Tête de la course?“ rief sie ihm zu. Gregor gelang ein Lachen und in Kombination mit Tour-Kenntnissen und verschüttetem Schulfranzösisch die Antwort: „Non, lanterne rouge!“ Die Alte lachte ebenfalls, deutete auf die Straße und rief gutgelaunt „Allez, allez!“

Nur nicht zu lange sitzen bleiben, hatte Toby ihm eingeschärft und obwohl er sich bleischwer fühlte, stieg Gregor wieder aufs Rad – zwei Drittel der Bergtour geschafft, das musste doch gelingen. Ein paar Minuten später kam ihm Toby von oben entgegen. „Was passiert?“

„Nö, ich fahr noch mal, hat solchen Spaß gemacht.“

„Protzer!“, dachte Gregor. Als Toby von hinten wieder aufholte, fehlten bis zum Gipfel noch zwei Kilometer. Toby setzte sich vor Gregor und gab ein stetiges nicht zu schnelles Tempo vor. Als sie auf dem Plateau einrollten, fühlte die lanterne rouge sich als Sieger. Sebastian und Bernd erwarteten sie auf der Terrasse des Berggasthofes, beide in nagelneuen roten Pullovern. „Kalt hier oben!“, stellte Sebastian fest und reichte zwei weitere Pullover über den Tisch. „Wir haben gedacht, so ein tricot rouge wäre auch für euch das richtige.“

Das Bier schmeckte herrlich und Gregor war überzeugt, die Entscheidung für diese Tour sei die beste Entscheidung seines Lebens gewesen.

Die Fotos, die auf der Passhöhe gemacht worden waren, wurden beim Abendessen über alle sozialen Medien gepostet. Corinna kommentierte „Toll“ und „schicke Pullis“, von Yan kam ein knappes „Gratulation.“

„Wortkarg, der Kollege, was macht er eigentlich so zu Hause?“

„Liegt wohl an irgendwelchen Baggerseen ´rum“, berichtete Bernd nach einem Blick auf Yans Instagram-Account.

Die Rückfahrt lief „wie Butter“ und statt der geplanten Übernachtung beschlossen Bernd und Sebastian, die sich am Steuer abwechselten, durchzufahren. Um kurz vor elf baute Gregor sein Rad ab und schleppte es die vier Etagen nach oben. Im Wohnzimmer hatte er Licht gesehen. Als er die Tür aufschloss, hörte er Corinna „Gregor?“ rufen. Ihre Stimme klang ein wenig panisch. Aber ehe Gregor sich darüber noch richtig gewundert hatte, stand er auch schon im Wohnzimmer, das Rad immer noch unter dem linken Arm. Corinna war schon im Nachthemd, auf dem Tisch standen zwei Rotweingläser, der Abend konnte ausklingen.

Das Rennrad rutschte aus Gregors Hand als sein Blick auf Yan fiel, der sich eben aus seinem Fernsehsessel herausschraubte.

 

Erläuterung für Nicht-Tour-Kenner: Tête de la course = die Spitze des Rennfeldes

Lanterne rouge = Schlusslicht, der letztplatzierte Fahrer