Von Andreas Wickli

Immer gehorchen – ich habe das langsam satt. Nie kann ich mein eigenes Ding machen. Nach links gehen, heißt auch für mich nach links gehen. Nach rechts gehen, heißt auch für mich nach rechts gehen. Und das alles subito, ohne Verzögerung. Und nun kommt auch noch wieder die Zeit der Neujahrsvorsätze, Jogging, Fitnessstudio, Spinning und Body-Forming. Den ganzen Sch…. darf ich auch immer mitmachen, ob ich Lust habe oder nicht. Ein Glück, die Neujahrsvorsätze halten bekanntlich nicht lange. So bin ich diese zusätzlichen Strapazen meist bald wieder los. Wenn ich Pech habe, gibt es zuweilen im Frühjahr noch einmal ein Aufflammen der Ziele. Denn es geht ja dann auf die Badesaison zu und der Hüftspeck kann nicht mehr einfach unter dem Winterpulli versteckt werden.

 

Das übelste am ganzen ist, wenn zu allem Übel noch neue Ideen in Angriff genommen werden. Letzthin, beim Beginner-Tanzkurs für Wiener-Walzer, musste ich eine volle Stunde völlig talentfrei außerhalb des Musiktaktes mittanzen. Ich hätte heulen können, das ist jetzt wirklich nicht schwer bis drei zu zählen, eins – zwei -drei, eins – zwei – drei, den Dreivierteltakt kann man doch nach zwei Sekunden im Schlaf. Die Probelektion, wurde zum Glück nicht in eine Mitgliedschaft in der Tanzschule umgewandelt. Aufgrund der Erkenntnis, nicht der geborene Tänzer zu sein, wurde die nächste Idee geboren. Yoga soll ausgleichend für Körper und Seele sein. Dachte mir zuerst, endlich auch für mich Entspannung und Ausgleich. Denkste! Hätte nicht geglaubt, wie anstrengend dieses Ausharren in Körperstellungen ist, von denen ich gar nicht gewusst hatte, dass es diese gibt. Die einzige Belohnung war die hübsche Yoga-Lehrerin, welche irgendwie keine Endanschläge in ihren Gelenken hatte. Sie sah erstens umwerfend aus und hatte ein Erbarmen mit den Anfänger-Yogis, denn sie unterbrach die Übungen gegen den Schluss früher als bei den Fortgeschrittenen. Doch zurück zur eigentlichen Schmach. Immer bereit zu sein, ist unheimlich anstrengend. Es gibt fast keine Pausen und wenn man glaubt, man könne eine machen, gibt es doch keine.

 

Was wäre also, wenn ich es doch schaffen würde nicht zu gehorchen. Einmal aus der normalen Welt ausbrechen zu dürfen. Wie würde reagiert werden, wenn ich mal was anderes tue? In welch verdutze Gesichter würde ich blicken? Was wäre, wenn …? – Ich kann mir nicht ausmalen, was für ein Spektakel das gäbe.

 

Dabei ist es tatsächlich realisierbar. Unlängst bin ich auf ein Video von Lindsey Stirling gestoßen, eine US-amerikanische Violinistin, Bühnenkünstlerin und Komponistin. Sie beweist darin, dass jeder sich selbst sein kann. Es ist unheimlich toll anzusehen, wie kontrovers, aber gleichzeitig auch spannend es ist, mal nicht das gleiche zu tun. Es reicht von gegenseitiger Inspiration bis zu einem Duell der Kreativität. Toll ist aber auch anzusehen, welch starke Wirkung die erneute Synchronisation bei uns auslöst. Die unheimliche Anzahl von bereits mehr als 158.752.604 Klicks auf YouTube veranschaulicht wohl sehr deutlich, was für eine Faszination dieses Ausbrechen aus der Norm ausgelöst hat.

 

Ich werde mir auf jeden Fall diese Chance nicht nehmen lassen, aus meinem Schatten hervorzutreten. Nicht ich als Mensch, aber ich als der Schatten. Viel zu lange habe ich gehorcht. Nun möchte ich einmal mich selbst sein.

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Lindsey Stirling «Shadow»: https://youtu.be/JGCsyshUU-A