Von Raina Bodyk

„Ich hasse ihn!“, schluchzt das Mädchen, die Hände zu Fäusten geballt, die Fingernägel in die Handinnenflächen gebohrt.

Ihren Vater. Das Genie am Flügel. Den Gott am internationalen Konzerthimmel.  

„Amadea, du kommst sofort wieder runter. Was fällt dir ein, einfach so zu verschwinden? Der Unterricht ist noch nicht zu Ende!“ Seine schneidende Stimme dringt durch das pompöse Treppenhaus.

 

Sie hasst auch ihren Namen. Amadea! Musste ihr Vater sie unbedingt nach Mozart benennen? Alle in der Klasse verspotten sie als ‚Mozartkugel‘ und grenzen sie aus, weil sie nie Zeit zum Spielen hat. Wenn sie sich zuhause beschwert, lässt ihr Vater es an jeglichem Verständnis fehlen und belehrt sie auf seine arrogante Weise: 

„Wissen die überhaupt, wer Mozart war? Die werden immer unbedeutend bleiben. Du dagegen wirst einmal ein gefeierter Star sein. Zumindest, wenn du dich mehr anstrengst und dich an meine Anweisungen hältst!“

 

In die Gedanken der Elfjährigen hinein hallt es wieder von unten: „Gestern hast du nur zwei Stunden geübt. Wie oft habe ich dir gepredigt, ohne permanente Anstrengung geht es nicht! Denkst du, mir wäre alles im Schlaf zugeflogen?! Hämmere dir eines ein: Du brauchst Disziplin und nochmal Disziplin.“

„Ja, Vater.“

Sie darf ihn nicht ‚Papa‘ nennen, das ist so ‚gewöhnlich‘. Und gewöhnlich darf seine Familie auf gar keinen Fall sein.

Widerstrebend rafft Amadea sich auf, damit er nicht gleich im Türrahmen erscheint und sie mit Gewalt runterzerrt. An der untersten Stufe wartet er schon, trommelt ungeduldig mit seinen langen Fingern aufs Treppengeländer. Seine dunklen Augen blitzen wütend.

Er packt sie bei den Schultern und schubst sie mehr, als dass er sie führt, ins Musikzimmer, drückt sie auf den Klavierhocker, knallt die Noten auf den Halter.

„Los jetzt. Mozarts Klaviersonate in A-Moll. Du weißt, der Komponist hat sie nach dem Tod seiner Mutter geschrieben. Also bitte mit mehr Gefühl als vor deinem theatralischen Abgang. Ich möchte Leid, Schmerz, Verzweiflung hören!“ 

Leopold von Grossnitz drückt seiner widerspenstigen Tochter grob die hochgezogenen Schultern runter. Mit seinem langen, hölzernen Lineal gibt er das Zeichen zum Beginn. Weinend legt sie ihre Hände auf die tränennassen Tasten. Sie hat so viel geübt, aber nie reicht es ihm. Sie hat Angst vor seinen zynischen Bemerkungen und seiner ewigen Kritiksucht. Er war doch bestimmt in ihrem Alter auch nicht perfekt.

Leopolds absolutes Gehör erkennt jeden unsauberen oder falschen Ton in ihrem Spiel. Jeden Fehler bestraft er mit einem kräftigen Linealhieb auf die Handrücken.

„Du tust mir weh!“

„Beethoven wurde von seinem Vater auch geschlagen. Und was ist aus ihm geworden!?“

 

Beim Mittagessen, bei dem nur die Erwachsenen reden dürfen, erinnert der Musiker seine Frau Emilia: „Du wirst alle Vorbereitungen für Sonntag treffen? Ich erwarte circa vierzig Gäste. Du, Amadea, wirst bis dahin die Sonate üben und bei dieser Gelegenheit vorspielen.“

Das Mädchen hat noch nie vor so vielen Musikfreunden, Künstlern und Mäzenen gespielt. Das Stück ist so schwierig, Aber sie weiß, dass sie sich nicht weigern kann. Ihr Vater setzt seine Wünsche immer durch.  

Sie fühlt, wie sich ihr Magen verkrampft und schmerzt. Der Vater merkt nichts, ist vertieft in die Anweisungen zur Vorbereitung des kommenden Empfangs.

 

***

 

Die Soiree beginnt mit einem glanzvollen Mahl auf Meißener Porzellan. Leopold weiß, was er dem Glanz seines Namens schuldig ist. Die Damen sind hingerissen von seinem verwegenen Aussehen, der schlanken Figur im seidenen Abendanzug. 

„Er wirkt fast dämonisch, wenn er einen mit seinen tiefgründigen Augen so ansieht. Ich kriege richtig Gänsehaut!“, flüstert eine Frau im weich fließenden Kleid ihrer ebenso eleganten Freundin zu. 

 

Nach dem Essen bittet Leopold um Ruhe und kündigt seine Tochter an: „Meine liebe Amadea ist ein echtes Wunderkind, sie fing schon mit drei Jahren an zu spielen. Damals konnte sie die Tasten nur erreichen, wenn sie auf einen kleinen Hocker stieg! Jetzt wird sie Ihnen die Sonate A-Moll von Mozart zu Gehör bringen. Ich bitte um Nachsicht, das Stück ist sehr anspruchsvoll. Sie hat noch einen weiten Weg vor sich, aber eines Tages wird sie mir sicher Konkurrenz machen.“

Die Zuschauer klatschen lächelnd und nicken dem Kind freundlich zu. Vergessen auch nicht, höflich zu protestieren. „Aber nicht doch, Maestro!“ 

Das talentierte, junge Mädchen, ermutigt von der Herzlichkeit der Besucher, setzt sich an den glänzend schwarzen Flügel, macht die Augen zu und phantasiert sich in die Gefühlswelt des Komponisten hinein. 

Es gelingt ihr, die widersprüchlichen Emotionen des Stücks vor den lauschenden Gästen lebendig werden zu lassen: Die düstere Melancholie im ersten Satz, die teils dissonanten Töne der Verzweiflung und des Schmerzes, der hämmernde Herzschlag. Das Andante des zweiten Satzes dagegen tröstlich und weich. Dann im letzten Teil wieder Trauer und Auflehnung, endlich die Resignation.

Nach dem Schlussakkord begeisterter Applaus. Das Kind erntet ehrliche Anerkennung und viele Komplimente.

Bevor es überhandnimmt, schreitet der Maestro ein: „Nun, nun. Gut jetzt. Die Kleine hat noch viel zu lernen. Und du“, bedeutet er dem Mädchen, „ab ins Bett.“

„Aber …“ 

„Keine Widerrede! Die Erwachsenen wollen jetzt unter sich sein.“

 

Leopold nimmt nun selbst den Platz am Flügel ein. Mit geübtem Schwung lässt er seine schulterlangen, dunkelblonden Haare nach hinten fliegen. Unter den begeisterten Augen der Gäste beginnt er mit seinen langen, sensiblen Fingern in die Tasten zu greifen und gibt bekannte klassische Arien zum Besten, dann eigene Improvisationen.

Sie feiern ihn und rühmen sein Talent. Er gibt sich bescheiden, aber saugt alle Schmeicheleien gierig ein.

 

Emilia legt indessen Amadea den Arm um die Schulter, um sie in ihr Zimmer zu bringen. Sie lächelt ihre Tochter bittend an. „Nicht streiten heute. Bitte!“ 

Das Mädchen nickt und späht zurück auf den spielenden Meister. Sie weiß, wie sehr ihr Vater den Applaus und die Bewunderung liebt. Er braucht sie wie die Luft zum Atmen. Sie sind der Spiegel seiner Großartigkeit. Mit für ihr Alter ungewöhnlicher Einsicht weiß sie auch, dass er sich als Vater eines sogenannten Wunderkindes noch größer fühlen kann.

 

Im Schlafzimmer kann sich Amadea nicht mehr zurückhalten. „Warum ist Vater immer so gemein? Ich habe nur einen einzigen Fehler gemacht! Warum lobt er mich nicht einmal?“

„Ach, du weißt doch, wie er ist. Er sagt, er gehört nicht nur seiner Familie, sondern allen. Er darf keine Grenzen, keine Regeln anerkennen. Er muss alle Gefühle, gute wie schlechte, ganz tief in sich fühlen können, um so zu spielen.“

„Aber Mama, ich bin seine Tochter! Er liebt mich überhaupt nicht. Du erinnerst dich doch, wie er mir früher einen spitzen Bleistift unter die Finger gesteckt hat, damit ich lerne, die Hände richtig zu halten. Wenn der Stift runtergerollt ist, hat er ihn aufgehoben und mir die Spitze in den Handrücken gestochen. Und jetzt sein Lineal … Immer nur Klavier, Klavier! Ich möchte Freundinnen haben!“

„Dea, ich weiß ja. Ich wünsche mir ja auch oft, er wäre kein Genie! Nur ein ganz normaler Ehemann und Vater. Aber dennoch, wir sollten stolz auf ihn sein.“ 

Bekümmert denkt Emilia an seine vielen Affären. Er macht sich nicht einmal die Mühe, sie vor ihr zu verbergen. Nur – wenn sie ihn dann spielen hört, schmilzt ihr Groll dahin. Sie fühlt etwas, das sie nicht wirklich beschreiben kann, so etwas wie ein höheres Verständnis für sein Wesen und die Kraft, nicht ihm zu verzeihen, aber damit leben zu können. 

 

***

 

Amadea ist gerade achtzehn Jahre alt – die Presse spricht bei ihren kleinen Auftritten von einem vielversprechenden Nachwuchstalent -, da schlägt Leopold ihr ein gemeinsames Konzert vor.

„Vater! Glaubst du, ich bin so weit?“

„Du hast dich gut entwickelt! Es sollte eigentlich zu keiner größeren Blamage kommen.“

Wieder nur verletzende Worte. Aber sie wird es ihm zeigen! Schuberts ‚Winterreise‘, die auf dem Programm steht, hat sie oft gespielt, sie kennt jede Nuance. Dennoch wird sie in jeder freien Minute üben.

 

Der große Tag ist da. Der weltberühmte Vater und seine Tochter. Eine Sensation! 

Als Leopold Amadea kurz vor dem Auftritt sieht, verschlägt ihm ihr Anblick die Sprache. Fast hätte er sie nicht erkannt. Ihre inzwischen schlanke, hohe Gestalt ist umhüllt von einer weiten, purpurroten Abendrobe mit einem großzügig ausgeschnittenen Spitzenoberteil. Ein raffinierter Schlitz reicht bis zum Oberschenkel.

Diese Aufmachung passt ihm gar nicht: viel zu aufreizend, viel zu auffallend. „Findest du dieses Kleid nicht ein bisschen geschmacklos?“ Ihr kleines Lächeln beunruhigt ihn ein wenig. Ob sie nicht vorbereitet ist?

 

Atemlose Stille, als die ersten Akkorde ertönen: Ein Wanderer, von der Liebe enttäuscht, streift durch die eisige Winterlandschaft. Die schwermütigen Moll-Tonarten singen von Trauer, Hoffnungslosigkeit, Schmerz, Einsamkeit. Vater und Tochter lassen die Tasten die Ausweglosigkeit, die grausame Realität herausschreien.

Am Ende minutenlanges Schweigen der Ergriffenheit, dann braust der Applaus auf. Die Begeisterung ist fühlbar. Vor allem von Amadea sind die Menschen tief beeindruckt.

 

Die Presse überschlägt sich am nächsten Tag vor Bewunderung, vor allem für die hinreißende, junge Frau mit ihrem sensiblen und dennoch leidenschaftlichen Spiel.  Glückwünsche an den Maestro zu seiner talentierten Tochter.

Der zeigt sich Amadea gegenüber großmütig: „Deine Kritiken sind ja recht ordentlich. Aber du weißt schon, dass dir ein paar Patzer unterlaufen sind!? Na ja, die Zeitungsfritzen sind eben keine echten Musikkenner. Vielleicht hat sie auch dein aufgedonnertes Aussehen abgelenkt.“

Sie antwortet nicht. Sie weiß genau, dass sie so gut gespielt hat wie noch nie. Sie hat all ihre Gefühle in Schuberts Werk gelegt. Schließlich kennt sie die düsteren Empfindungen aus eigener Erfahrung nur zu gut. 

 

Und Amadea weiß noch etwas: Für ihren Vater hat sein Spiegel der eigenen Großartigkeit seit dem gemeinsamen Konzert einen beunruhigenden Sprung bekommen …